Millie lebt

16. September 2023. Brücken gelten als Symbol des Lebens. Oder für den Tod, wie die von Mostar, die im Bosnienkrieg zerstört wurde. In seinem preisgekrönten Stück "Die Brücke von Mostar" erzählt der Autor Igor Memic von den Ereignissen bis in die Gegenwart. Regisseurin Anne Bader hat daraus einen eindrucksvollen Abend gemacht. 

Von Karin Yeşilada

Igor Memic' "Die Brücke von Mostar" von Anne Bader am Theater Oberhausen inszeniert © Kerstin Schomburg

16. September 2023. "Stand with Ukraine" ist ein geläufiges Wort, gerade erst wieder durch die Außenministerin bekräftigt. Did we stand with Bosnia? Wer glaubt, dass der durch den russischen Überfall auf die Ukraine ausgelöste Krieg "der erste in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg" sei, irrt sich. Vor 30 Jahren tobte nur tausend Kilometer Luftlinie von Deutschland entfernt der Bosnienkrieg mit unvorstellbarer Grausamkeit. Die tief traumatisierten Überlebenden dieses Krieges leben unter uns, Täter ebenso wie Opfer. Wissen die Kinder und Enkelkinder, was ihre Eltern, Großeltern erleiden mussten?

Mit "Old Bridge" hat der bosnisch-britische Autor Igor Memic im Jahr 2020 die Erinnerungen der Generation seiner Eltern auf die Bühne gebracht. Sein Debüt wurde sogleich mit dem Papatango New Writing Prize und dem Olivier Award ausgezeichnet. Kein Wunder, ist seine Liebes- und Erinnerungsgeschichte aus dem Bosnienkrieg doch so berührend, dass am Ende des Abends in Oberhausen etliche Zuschauer*innen stehend applaudieren und sich die Tränen wegwischen.

Stari Most, die Brücke von Mostar, war ein osmanisches Bauwerk aus dem 16. Jahrhundert und verband den muslimisch geprägten Ostteil Mostars mit dem katholisch geprägten Westteil der Stadt. 1993 von kroatischen Truppen zerstört und später wieder aufgebaut, wurde das mittlerweile zum Weltkulturerbe erhobene Bauwerk zum Symbol für die sinnlose Zerstörung im Religionskrieg des ehemaligen Jugoslawien. Unsichtbar auf der Bühne, ist die "Old Bridge" im Stück der zentrale Ort, an dem sich das Liebespaar Mina und Mili begegnet und wieder verliert.

Die Brücke als Symbol des Lebens

Dazwischen liegen eine erst glückliche und dann im Krieg verlorene Jugend. Zu Beginn und am Schluss des Stücks springen die jungen Männer nach alter Tradition von der Brücke in die Neretva (auch dies nur vor dem inneren Auge sichtbar), und Mina, die sich 1988 sofort in den athletischen Mili verliebt hat, wird seiner auch 2003 noch gedenken, wenn er schon längst tot ist. Was sie bis dahin erlebt hat, erzählt ihr Alter Ego Emina (gespielt von Simin Soraya) vom Bühnenrand aus als Erinnerung und Reflexion.

Die Bruecke 2 Kerstin SchomburgAm Anfang unbeschwert: 1988 beginnt "Die Brücke von Mostar". In die Heiterkeit und Coolness bricht der Bürgerkrieg ein und Heckenschützen lauern in den Ruinen © Kerstin Schomburg

Ihre Rückblicke in die Jahre 1988 bis 1993 und dann 2003 finden als reale Bühnenhandlung statt, in der vier Figuren agieren. Die Erzählerin unterbricht diese Handlung immer wieder (was dank der Ausleuchtung von Stefan Meik jeweils gut deutlich wird) oder mischt sich, vor allem im zweiten Teil, unter die Figuren und steigt mit in die Handlung ein. Am Ende des Stücks sind von vier Freunden nur noch zwei am Leben, dann nur noch Mina, aber ihr Kind Millie hat eine Zukunft, womöglich in London, wohin sie immer gehen wollte, und wo der Autor des Stückes lebt.

Eine vom Krieg zerstörte Jugend

1988: Der Springer Mili (Philipp Quest) findet schnell Anschluss an die Gruppe der drei Freunde Mina (Franziska Roth), Leila (Ronja Oppelt) und Sasha (David Lau), und zu viert verleben die jungen Leute eine unbeschwerte Jugend voller Musik und Tanz, mit Gitarre, Kippen und Alkohol, den nur die kroatischen Jungs trinken, weil die bosnischen Mädchen muslimisch-brav abstinent bleiben. Darüber wird nicht gestritten, sondern gescherzt; die Stimmung ist unbeschwert, auch im Publikum, das über Minas und Milis Liebesgeturtel kichert, und alle haben "The Time of My Life", ein Song, der immer wieder aus dem Ghettoblaster erklingt (Musik: Matthias Schubert). Sie lieben das Leben à la Dirty Dancing, schmieden Zukunftspläne: Studieren, Familie gründen, ins Ausland gehen.

In diese Heiterkeit und Coolness späten 1980er (die der Autor seiner Elterngeneration attestiert) bricht der Bürgerkrieg ein, erst allmählich – Lebensmittelknappheit hier, Prügeleien dort – dann unvermittelt. Plötzlich fallen Bomben, es wird lebensgefährlich, Waffen zur Selbstverteidigung werden besorgt. Und dann folgt das Grauen. Auf der Flucht werden Mili und Mina für immer auseinandergerissen, sogenannte ethnische Säuberungen bedeuten Vergewaltigung und Massenmord. Wer überlebt, geht am erlebten Trauma zugrunde.

Die Bruecke 3 Kerstin SchomburgZwischen Fronten: Franziska Roth als Mina, rechts, und Simin Soraya, links, als ihr Alter ego Emina © Kerstin Schomburg

Memic bringt mit seinem Stück verschüttete Erinnerungen an diese Kriegszeiten der 1990er zurück: Etwa, dass Heckenschützen (und auch aus Deutschland kamen sie nach Bosnien) unschuldige und nichtsahnende Zivilisten, auch Kinder, einfach so abknallten, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen zu werden. Leila stirbt auf diese Weise, und Mina schaut später ihrem Mörder direkt in die Augen, betet dann und spricht mit ihrem ungeborenen Kind – eine Wahnsinns-Szene. Memic findet für diese Abgründe eine auch in der deutschen Übersetzung noch poetische Sprache, die berührt: Als die old Bridge vor ihren Augen fällt, sagt Mina: "Ich habe länger gelebt als diese Brücke."

Anhand des Schicksals der vier sympathischen Leute wird die ganze Absurdität und Grausamkeit des Jugoslawienkrieges noch einmal furchtbar plastisch erlebbar. Am Ende bleibt Mina alleine übrig, und mit ihr die süßen Erinnerungen an eine wunderbare Jugend, die jäh endete. Natürlich gehen die Gedanken da von Bosnien-Herzegowina in die Ukraine. Stark ist auch, dass Memic dafür viel Imaginationsraum lässt. Nicht alles wird ausgesprochen oder ausagiert; es braucht keine computeranimierte Bombastik, um die Bomben zu spüren.

Spiel in eindrucksvoller Kulisse

Die fünf Schauspieler*innen machen ihre Sache gut: Sie tanzen und lachen unbeschwert und wechseln dann überzeugend in die wachsende Verzweiflung des Kriegs hinüber. Die Inszenierung findet schöne Bilder, etwa wenn Emina trauernd am Bühnenrand sitzt, während Abschiede genommen werden, die sich als Abschiede für immer erweisen werden, oder sie eine trauernde Figur in den Arm nimmt. Das Ganze findet in einer wunderbaren Kulisse statt, einem großen, zweistöckigen Gebäuderahmen mit fünf begehbaren Räumen, was sich bei näherem Hinsehen als senkrecht aufgestellter, zweidimensionaler Wohnungsgrundriss entpuppt (Bühne: Luisa Wandschneider), der dank der wechselnden Beleuchtung unterschiedliche Stimmungen erzeugt.

In dieser von Regisseurin Anne Bader und Dramaturg Jascha Fendel erarbeiteten Inszenierung stimmt alles, und das eindrucksvolle Stück ist absolut sehenswert. Interessant: Alle Beteiligten, vom Autor über die Schauspieler*innen bis zum Theaterteam, scheinen kaum älter als Mitte dreißig, was hieße, dass sie den Jugoslawienkrieg kaum bewusst mitbekommen haben dürften. Umso bedeutender die Erinnerungsarbeit, die sie alle gemeinsam leisten.

Die Brücke von Mostar (Old Bridge)
von Igor Memic
Deutsch von John Birke
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Anne Bader, Bühne: Luisa Wandschneider, Kostüme: Sylvia Rieger, Licht: Stefan Meik, Komposition/Sounddesign: Matthias Schubert, Dramaturgie: Jascha Fendel.
Mit: David Lau, Ronja Oppelt, Philipp Quest, Fraziska Roth, Simin Soraya.
Premiere am 15. September 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de+


Kritikenrundschau

"Die Dialoge und das Spiel sind emotional und intensiv, doch ohne Sentimentalität", schreibt Klaus Stübler in den Ruhr Nachrichten (18.9.2023). 

"Ein Balanceakt" sei die Inszenierung "eines Textes, der in Teilen wie das Drehbuch eines Action-Films geschrieben ist", schreibt Ralph Wilms in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (18.9.2023): "Anne Baders Regie aber setzt in den richtigen Momenten auf Stilisierung, setzt sicher auf jene Effekte, die der Bühne zukommen." Und das Spiel des Ensembles sei "mitreißend und bewegend".

Die Zuspitzungen des Texts "richten sich auf die menschliche, emotionale Seite, nicht auf ein ideologisches Unterfutter welcher Provenienz auch immer" schreibt Martin Krumbhoz in der Süddeutschen Zeitung (28.9.2023). "Politik ist nicht Ideologie. Das spiegelt die Oberhausener Inszenierung wider, in ästhetischer Klarheit und hoher Emotionalität."

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