Serenade für Nadja - Theater Oberhausen
Verschwiegene Verbrechen
13. Januar 2024. Der Roman des türkischen Autors und Musikers Zülfü Livaneli verflicht mehrere Verfolgungsgeschichten des 20. Jahrhunderts zu einer Art türkischer Ringparabel. Alle Fälle rühren an Tabus offizieller Narrative. Ebru Tartıcı Borchers hat den Stoff jetzt auf die Bühne gebracht.
Von Cornelia Fiedler
12. Januar 2024. Gibt es eine Genrebezeichnung für diese beliebte Art von Literatur: Sympathisch naive Hauptfigur stolpert versehentlich über ein historisches Verbrechen, klärt es – zumindest fürs Publikum – auf und geht selbst gereift daraus hervor? Schelmenrechercheroman? Zivilisationsbruchsentwicklungsdramedy?
Das Buch "Serenade für Nadja", das 2010 erschienen und jetzt in Oberhausen erstmals als Theaterstück zu sehen ist, steht jedenfalls prototypisch für diese didaktisch unterhaltende Kunstform: Darin verwebt der türkische Musiker und Autor Zülfü Livaneli auf 335 Seiten gleich drei Fälle schwerer historischer Schuld: die Shoa, den Genozid an den Armenier:innen 1915/16 und die Deportation und Ermordung von Angehörigen der Minderheit der Krimtartaren 1944.
Auf dem Weg zur historischen Wahrheit
Livaneli schickt ein ungleiches Duo los, dem schweren Stoff etwas Leichtigkeit zu verleihen. Sie, Maya Duran, bei Regina Leenders eine beamtinnenhaft wirkende, allerziehende Uni-Mitarbeiterin im schwarzen Hosenanzug (Kostüm, Bühne Sam Beklik), bekommt im eisigen Februar 2001 einen zunächst harmlosen Auftrag. Sie soll ihn, Maximilian Wagner, einen 87-jährigen deutsch-amerikanische Professor, dauerjovial gespielt von Klaus Zwick, während seines Besuchs in Istanbul begleiten.
Als Probleme auf dem Weg zur historischen Wahrheit erweisen sich hier: sonnenbebrillte Mitarbeiter dreier Geheimdienste, ein Dienstwagen mit zunehmend dysfunktionalem Anlasser, Mayas autoritär rassistischer Bruder, der Armee-Oberst Necdet (Daniel Rothaug), die üblichen schäbigen Automatismen patriarchaler Gesellschaften sowie die notorische, ja, gewaltbereite Weigerung der türkischen Politik, sich den dunklen Kapiteln ihrer Vergangenheit zu stellen.
Kampf der Vorurteile
Die Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers und der Dramaturg Jascha Fendel zeichnen die Handlung des Romans textgetreu nach: Vom Kennenlernen am Flughafen geht es zur ersten Station, einem populär-humanistischen Gastvortrag des Professors an der Uni: "Statt eines Kampfes der Kulturen oder der Ignoranz sehe ich einen Kampf der Vorurteile", verkündet er – nehmt das, Said und Huntington! Zwei Tage später bittet Maximilian dann um Begleitung auf seiner Fahrt zum Schwarzen Meer, wo er, für Maya denkbar unverständlich, im Wintersturm bis zur völligen Unterkühlung Geige spielt. Es folgt ein unfreiwilliger Motel-Aufenthalt ebendort, der später herangezogen werden wird, um Maya per Slutshaming aus der Uni zu mobben.
Gespielt wird hier nah am psychologischen Realismus, was irgendwie zum Roman passt, aber dennoch altbacken wirkt. Unerwartet unzeitgemäß ist auch, dass hier kein türkisch-deutscher Cast spielt – und dass die Inszenierung selbst diese Besetzung in keiner Weise thematisiert. Wer die Repräsentationsfrage auf der Bühne geklärt haben will, muss es offenbar machen wie Fatma Aydemir. Die Autorin hat für Inszenierungen ihres Erfolgsromans "Dschinns" eine Queer- und PoC-Quote von 50% festgelegt.
Totgeschwiegene Katastrophe
Zwischen oft schablonenhaften Dialogen und zu ausführlichen Erzählpassagen flackert ein Film in Pop-Art-Optik über die hohen, drehbaren Kulissenwände im Sichtbeton-Stil. Er klärt auf, was den Professor im Jahr 2001 auf diese letzte Reise nach Istanbul führt: Seine jüdische Ehefrau Nadja war 1943 verhaftet worden, als die beiden aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Istanbul fliehen wollten. Zwar schafft Nadja es später, mit gefälschten Papieren nach Rumänien zu gelangen. Doch um in die Türkei weiterzureisen, besteigt sie ausgerechnet die "Struma". Diesem Schiff mit über 770 jüdischen Emigrant:innen an Bord wird von der britischen Mandatsregierung die Einreise nach Palästina verweigert. Es treibt wochenlang mit kaputtem Motor zwischen Bosporus und Schwarzem Meer, ohne anlegen zu dürfen, und wird dann von einem mutmaßlich russischen, vielleicht auch deutschen Torpedo versenkt.
Dieser in der Türkei totgeschwiegenen Katastrophe der "Struma" hat Doğan Akhanlı bereits 2005 mit seinem Buch "Madonnas letzter Traum" ein literarisches Denkmal gesetzt. Im direkten Vergleich wirkt "Serenade für Nadja" flacher und zu kalkuliert. Dennoch ächzt Borchers‘ Inszenierung unter dem Zuviel an Stoff und Zuwenig an dramaturgischer Freiheit. Sie lenkt aber auch den Blick auf weitere kaum bekannte Ereignisse. Darunter die faszinierende Exilgeschichte deutscher jüdischer Akademiker:innen, die in den 1930er Jahren frischen Wind an die Universität Istanbul brachten.
Serenade für Nadja
von Zülfü Livaneli
Aus dem Türkischen von Gerhard Meier, in einer Fassung von Jascha Fendel und Ebru Tartıcı Borchers
Regie: Ebru Tartıcı Borchers, Dramaturgie: Jascha Fendel, Bühne und Kostüme: Sam Beklik, Video: Christian Borchers, Musik: Dani Catalán
Mit: Regina Leenders, Klaus Zwick, Nadja Bruder, Khalil Fahed Aassy, Daniel Rothaug, Philipp Quest
Premiere am 12. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause
www.theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
Bisweilen spröde wirke die Inszenierung, aber sie vermittle bei aller Didaktik historische Ereignisse und Fakten aus einer nicht-eurozentrischen Perspektive und entfalte einen ganz eigenen Sog, so Dorothea Marcus im Deutschlandfunk Kultur (12.1.2024). Der Abend sei eine "Bestandsaufnahme der modernen Türkei zwischen weiblicher Selbstbestimmtheit und tabubesetzten Feudalstaat". Die minimalistische Bühne von Sam Beklik wirke wie "ein leeres, hellgraues Buch oder zwei drehbare Gedenktafeln, die das was passiert ist, nach und nach enthüllen"; rosa angestrahlt, würden sie zur Moschee. "Großartig und berührend, wie hier mithilfe von Theater gelingt, Tabus der Geschichtsschreibung zu hinterfragen", so Marcus’ Fazit.
Ebru Tartici Borchers tue viel dafür, "die faktenreiche Geschichte in zweieinhalb Stunden halbwegs kurzweilig zu erzählen", schreibt Max Florian Kühlem in der Süddeutschen Zeitung (15.1.2024). Trotzdem müssten die Schauspieler*innen in ihren Monologen häufig zu viele geografische und historische Daten unterbringen. Die komplexe Handlung sei in einem Roman vielleicht besser aufgehoben, aber es gelinge der Regisseurin, "einen großen, eine ganze Gesellschaft umfassenden Konflikt auf zwei Personen herunterzubrechen". Die Stückwahl spreche für die Oberhausener Intendantin Kathrin Mädler, denn kaum irgendwo in Deutschland lebten so viele türkische Einwanderer wie im Ruhrgebiet. "Ein Stoff, der von den Auswirkungen des Holocaust auf türkische Geschichte erzählt, ist hier goldrichtig. Die Unglücksfahrt der Struma erinnert zudem an die derzeitigen Tragödien von Flüchtlingsschiffen im Mittelmeer", so Kühlem.
Hierzulande kaum bekannt, sei der Roman von Zülfü Livaneli in der Türkei ein Bestseller in seiner 70. Auflage, schreibt Anke Demirsoy in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (15.1.2024): "Der Autor Zülfü Livaneli steht für die Widersprüche der Türkei, war mal Abgeordneter im Parlament, mal im Exil." In ruhigem Erzählfluss gehe es in der Inszenierung fast drei Stunden lang um Flucht und Vertreibung, Entrechtung und Exil, Schuld und das Schweigen aus Scham. "Diese Aufzählung mag düster klingen, aber die nahezu leere weiße Bühne (Sam Beklik) und erfrischende Szenen aus dem Alltag von Maya und ihrem Sohn Kerem setzen Gegenakzente." Auch die Videoeinspielungen von Christian Borchers, teils in kunstvoller Zeichentrick-Ästhetik, trügen dazu bei, dass trotz schwerer Themen gelacht werden dürfe, so Demirsoy. Die Regie verzichte auf Betroffenheitsgesten, belehre und moralisiere nicht. "Bei ihr beginnt Historisches zu leben, weil sie zeigt, wie eng die individuellen Biografien mit dem Zeitgeschehen verwoben sind."
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Das tolle Ensemble (allein schon Regina Leenders!) , richtig kluge Umsetzung, packende Theaterfassung von dem Roman (den ich schon als Zuschauerin vorher gelesen hatte, und anders als Frau Fiedler die Entscheidungen der Dramaturgie für die Fassung, erkennen konnte) die Ästhetik , und vor allem, die starke Videosequenzen, die optisch und inhaltlich sehr schnell so viel auslösen könnten... Ich hätte jetzt gefragt, ob der Abend nur mich so sehr bewegt hatte, aber es gab ja ewige Standing Ovations ... Deswegen frage ich eher, ob die Kritikerin in einem anderen Saal saß gestern?
Ich hätte es "als unzeitgemäß" verstanden, würden Gruppen in irgendeiner Art karikiert, aber das passiert in diesem Abend nicht, der das Universelle betont und Spielende zeigt, die mit großer Empathie ihre Rollen übernehmen.
Mehr Diversität an deutschen Bühnen: ja, bitte! Aber ich hoffe auf einen Diversitätsbegriff, bei dem nicht die Nationalität (auch schwieriger Begriff) einer Person die Grundlage dafür bildet, welche Rolle sie im Spiel übernehmen darf. Möge diese Art von Kritik bald als "unzeitgemäß" der Vergangenheit angehören.
Anscheinend wurde der Geschmack von Cornelia Fiedler nicht getroffen. Für mich ist ihre Kritik nicht nachvollziehbar.
Dieser Abend ist herausfordernd, aber ein Besuch wird absolut belohnt.