Da verblasst das kleine Leben

5. Mai 2023. Immer wieder hat der große Regisseur Peter Brook Shakespeares "Der Sturm" auf die Bühne gebracht. Seine letzte Inszenierung des Stücks kam kurz vor Brooks Tod heraus und gastiert nun bei den Ruhrfestspielen. Unser Kritiker nimmt Abschied – und staunt. 

Von Andreas Wilink

Peter Brooks "Tempest Project" bei den Ruhrfestspielen © Philippe Vialatte

5. Mai 2023. "Das Fest ist jetzt zu Ende; unsre Spieler, / Wie ich Euch sagte, waren Geister, und / Sind aufgelöst in Luft, in dünne Luft." Play it again: 1968, als die Aufführung aus dem Workshop einer mehrsprachigen Schauspielergruppe erwuchs, dann 1990, schließlich und noch einmal puristischer 2020 – dies die Jahre, in denen Peter Brook "The Tempest" inszeniert hat (darüber hinaus hatte er schon in seinen Anfängen das Werk zweimal auf die Bühne gebracht).

Das für ihn "metaphysische" Stück hat sein Leben begleitet wie keines sonst, kein anderer Shakespeare, auch nicht "Hamlet", kein Autor sonst, auch nicht Beckett. Konnte die letzte Arbeit, die Peter Brook mit seinem Namen versehen hat, bevor der in London geborene Regisseur und Jahrhundertkünstler hochbetagt am 2. Juli 2022 in Paris starb, eine andere sein? Und müsste der Betrachter nicht Prosperos Empfehlung an seine Tochter Miranda und den ihr verlobten Ferdinand beherzigen: "Kein Mund! Ganz Auge! Schweigt!"

Vor dem Ende

Der Geisterseher und Beschwörer des Spirituellen, Brook, und der einsame Magier der Insel, sie sind ein Fleisch. Beide sagen sie: "Geister, die mein Wissen aus ihren Schranken rief, um vorzustellen, was mir gefällt." Also auch Totenbeschwörung. Und, wer weiß, ob Brook nicht aus seiner mit dem Empfinden ihrer Endlichkeit noch scharfsichtiger wahrgenommenen Gegenwart das Drama in ein Über-sich-Hinaus gedacht hat?

Tempest2 1200 Philippe Vialatte uAuf der Insel: Marilú Marini und Ery Nzaramba © Marie Clauzade

Shakespeare stellt in Prosperos Epilog die Überlegung an, inwiefern der Eingriff des Magiers (des Regisseurs) in den Lauf der Dinge einen Akt der Schuld enthält und bedürftig ist der Gnade und Nachsicht. Dazu wird es hell im Zuschauerraum des Kleinen Festspieltheaters Recklinghausen, wo Brook zuletzt 2019 mit The Prisoner gastiert hatte: Ist der magic moment am Ende oder soll er uns alle umfangen, als Teilhaber des imaginären und illusionären (leeren) Raums und des sich materialisierenden, aber in Wahrheit immateriellen Theaters? Der Dialog mit den Schatten, die Erkenntnis vom Verblassen des "kleinen Lebens" jedes Einzelnen und des gesamten Globus, all dies ist – hier – Summe und Essenz, kondensiert in 90 Minuten.

Wenn "Hamlet" das Drama der Selbstentfremdung ist, so "The Tempest" das der Selbstannäherung. "Tempest Project" heißt es bei Brook: also Grundlagenforschung entlang von Ludwig Wittgensteins These, dass dem Menschen die wesentlichen Aspekte der Dinge durch ihre schlichte und unauffällige Alltäglichkeit verborgen blieben, weil er dafür der Sinne verlustig gegangen sei; also Reflexion, vielleicht Rück- oder auch, womöglich, Vorausschau, die Brook, wie häufig mit Hilfe von Marie-Hélène Estienne und Jean-Claude Carrière (der während der Vorbereitungen 2021gestorben ist), ins Werk setzt.

Balanceakt auf Stöckchen

Brooks tief gründende Kennerschaft scheint Voraussetzung für seine Unbefangenheit in der Beschäftigung mit dem Stoff, der sich uns schlackenlos rein vorstellt. Da liegen der Stab und das Buch, die Insignien von Herrschaft auf zwei schmalen Teppichen, um sie herum hölzerne Klötze, Scheite und knorriges Wurzelwerk, Häufchen von Sägemehl, ein Bündel Kleider, an den Seiten jeweils ein paar Ruhebänke.

Ein zarter, immer schon halb verhallender Gesang ertönt als Sprache des Eilands. Ery Nzaramba, ein vitaler, jugendlich wirkender Prospero, bewegt den Stab und ruft Ariel, um sich den herbeigeführten Schiffsuntergang der bösen Menschen referieren zu lassen. Er und sie (Marilù Marini, eine Dame von gewissem Alter, die lächelnd das in sich junge Kind und sein streunendes Wesen betrachtet) sind Liebeslebenspartner, deren zärtliches Miteinander in heiterem Lassen seliger ist, als es das Tun des verliebten jungen Paares Miranda (Paula Luna) und Ferdinand – buchstäblich ein Balanceakt auf Stöckchen – je wird sein können.

Tempest3 1200 Philippe Vialatte uMarilú Marini © Marie Clauzade

Der Sturm ist Vergangenheit, hat sich gelegt, ist abgetan und lohnt die Mühe nicht. Der Bruder, der Prospero seines Titels beraubt und auf dem Meer seinem Schicksal überlassen hat, wo er "dank göttlicher Vorsehung" die Insel erreichte, die er sich untertan macht, wurde ihm zugeführt, so dass er nun Vergeltung üben könnte. Aber Wogen und Aufruhr der Leidenschaft glätten sich.

Was auch Calibans Geschick begünstigt. Der ist bei Sylvain Levitte, gehüllt in löchrigen Deckenfilz und in seine kretinhafte Sklavenexistenz, ein Auswurf der Natur, aber auf eine Weise, dass man an Goethes Worte denken möchte, wenn der davon spricht, dass etwas gegen die Natur, aber in der Natur sein könne. Caliban, in dem in der Brook-Fassung 1990 David Bennent das tollende enfant sauvage, den durchtriebenen Trotzkopf (er)fand, wird auch 30 Jahre später nicht verworfen. Ein geringer Kleiderwechsel, und es steht da als derselbe Darsteller, ohne dürftigen Umhang: Ferdinand, der Fant, das Prinzenblut, als habe der Unhold bloß gewartet, seine feine Seele zu zeigen.

Ein heller Ort

Prosperos schurkischen Bruder und Thronräuber Antonio, den sinistren König von Neapel sowie Hofherren streicht Brook aus dem Personenregister, als ginge ihn die Ranküne um Macht nichts an. Freiheit interessiert ihn in einem anderen, höheren Sinn. Weshalb die niederen, brutalen und blöden (Rache-)Instinkte und Aspekte der Finsteren außen vor bleiben; auch die Burleske von Stefano und Trinculo spielt nicht in der Mördergrube. Brooks Theater ist und wurde ein heller Ort mozartscher Grazie. Und anmutiger Stofflichkeit. Er veranstaltet zudem ein purifiziertes Kostümtheater, in dem Zaubermantel, Umhang, Umschlagtücher, bräutliches Band, monströses Habit und weltliche Uniform an- und abgelegt werden.

Prospero, der Minimalist und sparsame Zeichengeber, dem das Gestalten derart leichtfiel, dass es ihm schwer wurde und er seiner müde ist, wächst und weiß sich über all das hinaus. Am Ende bleibt er allein auf der Bühne, in tiefem, traurigen Einverständnis mit seiner Rückkehr in die Welt, die zugleich Abschied ist von der Welt, noch einmal sinnend rundum schauend, bevor er ins Dunkel eingeht: der Wille vom Wollen frei.

 

Tempest Project
nach William Shakespeare
Adaption und Regie: Peter Brook und Marie-Hélène Estienne; Licht: Philippe Vialatte, Lieder: Harué Momoyama. Mit: Sylvain Levitte, Paula Luna, Fabio Maniglio, Luca Maniglio, Marilù Marini, Ery Nzaramba. Französisch, Deutsch übertitelt.
Deutschlandpremiere am 4. Mai 2023.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de

 

Kritikenrundschau

Peter Brook hat den "Sturm" von Shakespeare "radikal entschlackt auf die Kern-Story", berichtet Jens Dirksen in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (6.5.2023). "Es geht um die Verwandlung eines intrigant kaltgestellten, aus gutem Grund rachsüchtigen Zauberers (Ery Nzaramba ist ein vielschichtiger Prospero) in einen gütigen Patron, der melancholisch-gelassen dem Tod entgegengeht. Es geht letztlich um das Suchen und Finden der Liebe, der Solidarität. Denn der suchende Blick ins Rund am Ende, er richtet sich eigentlich an das Publikum, ein sanfter, subtiler Appell."

Vieles werde nacherzählt; doch "nichts ist überflüssig, kein Bild, keine Geste, nirgends wird ausagiert, was wir bereits wissen. Brooks Vermächtnis ist William Shakespeare als Erleuchtung", schreibt Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (6.5.2023) in seinem Auftaktbericht von den diesjährigen Ruhrfestspielen. "Was bei anderen leicht preziös werden könnte, gerät unter Brook mit seinen mehr als 70 Jahren Regieerfahrung zu reinem Theater. Es ist eine vollkommen aus der Zeit gefallene, nein: überzeitliche Version des Stücks, das er hinterlassen hat."

"Wie in einem ständigen Tanz umspielt die Inszenierung die Shakespeare’sche Erzählung. Dabei stellt sie diese dem Publikum nicht vor Augen, sondern lässt ihr Spiel zu Bildern gerinnen, die die Imagination des Publikums befeuern", schreibt Peter W. Marx in der taz (9.5.2023). "So entsteht ein minimalistisches Spiel von hoher Dichte und teils berückenden Bildern. Doch die Stimmigkeit hat ihren Preis, denn die Inszenierung bleibt blind gegenüber den Fragen von Rassismus und kolonialer Gewalt." Ebendiese Aspekte würden von neuen Lesarten des Stücks betont. Marx schließt: "Die Wiederbegegnung war auch der Abschied von einem großen Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts – rührend und widersprüchlich, gleichermaßen stark in den Bildern wie irritierend in den blinden Flecken."

Kommentar schreiben