Trutz – Dušan David Pařízek bringt bei den Ruhrfestspielen mit dem Ensemble des Schauspiels Hannover Christoph Heins Roman auf die Bühne
Gefährlich lebt, wer vergisst
von Gerhard Preußer
Recklinghausen, 4. Juni 2018. Mnemonik ist das Ziel und das Thema von Christoph Heins Roman Trutz, die Wissenschaft vom menschlichen Erinnerungsvermögen. Heins Roman selbst ist keine Wissenschaft, nur dokumentarisch abgesicherte Fiktion: Erinnerungskunst. Ein Schnelldurchlauf durch die deutsch-russische Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Empörende Grausamkeiten
M-ne-mo-nik ist ein schweres Wort, das erst mal geübt werden muss. So absolvieren die Darsteller in Dušan David Pařízek Romanbearbeitung anfangs ihr Aussprachetraining. Damit ist der Ton angeschlagen für diese Inszenierung: heiter geht es um empörende Grausamkeiten. Mit einer doppelten Rückblende wird man in die Geschichte hineingezogen. Ernst Stötzner kommt aus dem Publikum, widerspricht einem Vortrag im deutschen Bundesarchiv über den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 und stellt sich vor als Maykl Trutz. Dann kommt Markus John hinzu als sein Jugendfreund Rem Gejm. Ein Wiedersehen nach Jahrzehnten.
Erst dann wird ihre Geschichte vom Anfang her aufgerollt.
Maykls Vater Rainer war ein linksliberaler Autor in der Weimarer Republik, wurde von den Nazis verfolgt, floh mit seiner Frau Gudrun nach Russland. Dort wurde er wegen eines alten kritischen Artikels über die Sowjetunion zu Zwangsarbeit verurteilt und bei der Ankunft im Lager sofort erschlagen. Sein Sohn Maykl wächst mit Rem, dem Sohn des gleichfalls zu Zwangsarbeit verurteilten Psycholinguisten Waldemar Gejm in einem Lager im Ural auf. Waldemar Gejm trainiert die beiden Kinder nach seinen Erkenntnissen der Mnemonik, wodurch sie ein unfehlbares Gedächtnis entwickeln. Maykls Mutter und Rems Vater sterben dann ebenfalls im Lager. Maykl geht in die DDR, wird Archivar, deckt die Nazi-Vergangenheit eines ZK-Mitglieds der SED auf, wird kaltgestellt, versucht sich nach der Wende gegen einen Ex-Stasi-Mitarbeiter zu wehren, erfolglos.
Szenische Leichtigkeit
Dieses Geschichtsjogging durch knapp 100 Jahre wird von Parizeks Theaterfassung noch einmal beschleunigt. Und das bekommt dem Roman gut. Was im Roman lakonisch kurz, spröde mit einem Minimum an Introspektion erzählt wird, wirkt auf der Bühne demonstrativ wie ein szenisches Referat und hat die Leichtigkeit, die man braucht, um Schweres, Grausames, unfassbare Brutalitäten zu verstehen, ohne davon erdrückt zu werden. Ständig werden die Rollen gewechselt, drei Schauspieler und eine Schauspielerin spielen alle Rollen, in Dialogszenen spielen oft auch drei Schauspieler eine einzige Rolle. Zeitraffender Erzählertext aus dem Roman wird manchmal genutzt, gelegentlich wird aber auch Heins karger Chronikstil zu einem explosiven Dialog komprimiert.
Alle Mittel werden gezeigt und schnell gegriffen: Kostümwechsel auf offener Bühne, man reicht sich die notwendigen Requisiten an. Hier kann alles für alles andere stehen. Rem (in diesem Falle Markus John) bewundert den Sauerbraten, den Maykls Frau zubereitet hat. Doch der Braten ist ein Alphorn, auf dem Hennig Hartmann als Maykls Frau bläst, also singt John das Wort "Sauerbraten" zur Alphornbegleitung. Oder Maykls Geburt: Stötzner rutscht mit Anlauf bäuchlings auf einer mit Seifenlauge geschmierten Plastikbahn durch Sarah Frankes gespreizte Beine. Solchen ausgelassenen szenischen Ulk gibt es oft. Stötzner und John können mit ein paar Strichen eine Figur skizzieren, mit humoriger Distanz, ohne Karikatur, ohne hohle Schmiere, ohne Chargieren, ohne den Ernst der erzählten Situationen zu überspielen.
Appell mit Alphornbegleitung
Die Bühne besteht aus drei großen Holzplatten, zwei senkrecht, eine flach auf dem Boden. In der einen Platte hängt ein Stuhl auf halber Höhe. Nur zweimal wird er genutzt. Zunächst bei der Verurteilung von Trutz senior zu Zwangsarbeit. Henning Hartmann sitzt auf dem Stuhl, der aber um 90 Grad gedreht, wie frei schwebend, in der großen Holzplatte befestigt ist, so dass er eigentlich auf der Stuhllehne in zwei Meter Höhe liegt. Weit über ihm der Richter. Vor dem Gesetz sind Horizontale und Vertikale vertauscht, alle Dimensionen verrutscht. Im Lager in Workuta dann flüchtet sich Rainer Trutz auf diesen Stuhl hinauf und wird doch von dem kriminellen Kapo wegen einer Zigarette dort erschlagen.
Die Inszenierung hat eine überbordende Lust am szenischen Erzählen, eine völlig unfrivole Freude an der Darstellung, die keine Freude am Dargestellten ist, und bei der Recklinghauser Premiere den anwesenden Romanautor offensichtlich auch überraschte. "Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist." Das singt resignierend Markus John als Maykl Trutz am Ende wieder zur Alphornbegleitung. In der Ironie liegt der Appell: Vergesst nicht! Vergesst nicht die Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts. Ohne Gedächtnis werden in der Gegenwart alle Bedeutungen beliebig manipulierbar.
Trutz
von Christoph Hein
In einer Bühnenbearbeitung von Dušan David Pařízek
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Dramaturgie: Johannes Kirsten
Mit: Sarah Franke, Henning Hartmann, Markus John, Ernst Stötzner
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhannover.de
www.ruhrfestspiele.de
Dušan David Pařízek habe seiner Fassung des Romans jeden Ansatz zum Realismus ausgetrieben. Die Wirkung bleibe eher zwiespältig, so Michael Laages auf Deutschlandfunk (5.06.2018). "Was Trutz und den Seinen geschah, ist Teil vom großen Grauen des blutigen Jahrhunderts. Was Pařízek zeigt, und vor allem wie er das macht, sieht eher aus nach Schelmenroman, bestenfalls 'Simplicissimus'. Grundsätzlich aber hat das Theater einmal mehr einen starken Stoff für sich erobert, nicht zuletzt im Spiel von vier herrlichen Clown-Figuren. Darum: Gut so."
"Leichthändig" habe Pařízek das "anders als bei Brecht extrem komplexe Lehrstück" auf die Bühne "gewuchtet", schreibt Bernd Aulich in der Recklinghäuser Zeitung (6.6.2018). Das Spiel sei bei ihm nur flüchtlig angedeutet, wirke wie improvisiert.
Keine leichte Kost sei der Stoff, aber Pařízek gelinge eine packende Erzählweise, die bis zum Ende trage, schreibt Karsten Mark im Westfälischen Anzeiger (6.6.2018). Er inszeniere mich reichlich Witz und vielen Überraschungen. Einige davon seien zwar absurg, "aber sie halten den Zuschauer humorvoll bei der Stange".
Ein Reenactment des Historikerstreits als Theater der "farbigen Regieeinfälle" hat Daniel Alexander Schacht von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.9.2018) bei der Hannover-Premiere gesehen. Zwischen Essay und Typendrama changiere die Inszenierung, mitreissend seien die sprachliche Wandlungsfähigkeit und rasanten Rollenwechsel der Schauspieler*innen. Jubel und Applaus, letzterer auch vom auf die Bühne gebetenen Christoph Hein.
"Ganz viele Tonarten und kein Missklang", lautet das Urteil von Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (10.9.2018). "Der große Kondensator Dušan David Pařízek" habe den Stoff "famos eingedampft". Markus John in Strumpfhosen auf Zehenspitzen – eine Sowjet-Schönheit; der 66-jährige Ernst Stötzner in Unterhose – ein schutzloser Säugling: "Vier geniale Komödianten spielen an gegen den Verlust der Erinnerung, als gebe es ein Morgen und kein Gestern, lustvoll, oft zum Brüllen komisch und doch mit der Sensibilität", so Golisch. "Gewagte Behauptungen, die immer aufgehen." Pařízek vertraue seinen vier Spieler*innen – und der kollektiven Erinnerung: "Es braucht angesichts des 20. Jahrhunderts eben auch nicht mehr als zwei Overhead-Projektoren, um die sich überlagernden Bilder in den Zuschauerköpfen abzurufen." An diese Inszenierung werde man sich lange erinnern, prophezeit Gohlisch.
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Die von mir besuchte Vorstellung war leider nicht ausverkauft, der Jubel des Publikums aber groß. Für mich ist war das die beeindruckendste Inszenierung dieses Jahres.
Eine Anmerkung zum Nachtkritik - Text: Maykl Trutz heißt Maykl, nicht Mykel.
(Danke sehr für den Hinweis, wir haben den Fehler korrigiert. d. Red.)