Seit sie - Dimitris Papaioannous Bilderreigen ist die erste abendfüllende Choreographie für das Tanztheater Wuppertal nach Pina Bauschs Tod
Hymne an Pina
von Elena Philipp
Wuppertal, 12. Mai 2018. Stuhl um Stuhl stapelt sich Michael Strecker auf den Rücken. Sechs, sieben, acht schwarze Caféhausmöbel hängt, hakt und huckepackt er sich auf den Rücken während er, zunehmend vorsichtig, von Stuhl zu Stuhl balanciert. Schon schwankend gabelt er den zehnten Stuhl mit einem Bein des neunten auf – da rutscht er ab, stürzt und das wackelige Gebilde fällt polternd in sich zusammen. Alles vergebens.
Ein Scheitern setzt Dimitris Papaioannou an den Schluss seiner Kreation für das Tanztheater Wuppertal – des ersten abendfüllenden Stücks, "seit sie", seit Pina Bausch, die Wuppertaler Tanztheater-Gründerin, Direktorin und Allein-Choreographin, 2009 unerwartet starb. Was erzählt uns Papaioannou mit seinem stühlernen Schlussbild? Von Wagnis, Erfolg und Zusammenbruch, dem abrupten Ende einer Ära wie beim Tanztheater Wuppertal? Oder steht das Bild pars pro toto für die Inszenierung, kündet von unmöglichen Aufgaben und Erwartungen, die nicht zu erfüllen sind?
Ein Bruch mit Pina Bauschs Ästhetik war gewünscht
Mut braucht es in jedem Fall, um den teils noch von Pina Bausch geformten Ensemble-Körper zu bespielen und ihr Werk ins Heute zu verlängern. Vielleicht gar den Wagemut eines Hasardeurs. Wer will schon antreten gegen eine künstlerisch derart prägende Persönlichkeit? Zugetraut hat es sich der choreographische Quereinsteiger und Multikünstler Papaioannou; Maler, Comiczeichner, Bühnenbildner, Kostüm- und Lichtdesigner, Performer, Regisseur und Choreograph ist er; 1986 gründete er seine eigene Kompanie, das Edafos Dance Theatre, 2004 inszenierte er die Abschlussfeier der Olympischen Sommerspiele in Athen. Was er sich allerdings nicht getraut hat – oder was von der seit 2017 amtierenden Intendantin des Tanztheaters Wuppertal, der Kuratorin und Kulturmanagerin Adolphe Binder, nicht gewünscht war –, ist ein Bruch in der Ästhetik: "Neues Stück I – Seit sie" ist eine Hymne an Pina, ein Bilderreigen voller Anspielungen (nicht nur) auf ihre Werke.
Optisch kommt das Ensemble daher wie früher: die Frauen in langen, fließenden Kleidern, mit Pumps und langem, offenem Haar, die Männer in Anzügen. Einfache schwarze Stühle wie sie sich Michael Strecker auf den Rücken stapelt verwendete Bausch nicht nur in Café Müller, ihrem ikonischen Stück aus dem Jahr 1978. Graphitfarbene, hoch aufgeschichtete Schaumstoffmatten (Bühne: Tina Tzoka) – Abraumhalde oder Kalvarienberg – erinnern vage an die kühnen Bühnenbilder von Rolf Borzik und Peter Pabst, die Erde, Geäst oder Wasser auf die Bühne kippten und surreale Settings mit Schiffen oder Walrössern bauten.
Auch das keck-spielerische Verführungs-Verhältnis zwischen den Geschlechtern nimmt Papaioannou in seiner Szenenreihung auf, lässt es, wie bei Bausch, mitunter ins Grausam-Brutale kippen: Julie Anne Stanzak, seit 1986 im Wuppertaler Tanzensemble, lehnt im eleganten schwarzen Kleid am Portal, sehr souverän, sehr schön – und schaut stoisch bis starr ins Publikum, als ihr eine Gruppe sehr viel jüngerer Tänzer auf den Leib rückt und mit offensiven Berührungen ein goldfarbenes Muster aus dem Stoff ihres Kleides hervorstreicht. In einer wunderbar beschwingten Walzer-Szene wiederum wirbeln die Männer die Frauen auf den Stühlen herum und wirft sich Ophelia Young in ein rasantes Pas de deux mit einem Holztisch, den sie vor sich herschiebt – auch diese Ausgelassenheit feierte Pina Bausch in ihren Stücken.
Epigonal wirken diese Verweise, weil es Papaioannous Stück an der existenziellen Wucht der Wuppertaler Tanztheater-Werke mangelt. Vor allem fehlt der Tanz, das Element, in dem sich Pina Bauschs Ensemble verausgabte, Schmerz und Freude ausdrückte, Leid verkörperte und Liebesrausch. Ungenutzt bleibt damit die Kompetenz der Wuppertaler Kompanie, verschenkt wird die Präsenz und Präzision vor allem lang gedienter Mitglieder des Ensembles wie Julie Anne Stanzak, Franko Schmidt oder Ruth Amarante. Nur halbherzig adressiert Papaioannou die enormen Erfahrungsunterschiede zwischen den Tänzer*innen, von denen ein Großteil nicht mehr mit Bausch gearbeitet hat.
Insgesamt weist "Seit sie" dem Tanztheater so keinen Weg in die Zukunft. Der Vergangenheit verhaftet wirkt die Zitatensammlung bildstarker (Tanz-)Theatersprachen von Robert Wilson, bei dessen "Black Rider" der griechische Künstler Assistent war, über Marie Chouinard und Sasha Waltz bis zu Peeping Tom oder Romeo Castellucci. Papaioannou spielt an auf Mythen wie den vom Goldenen Vlies; wenn das Kleid von Ekaterina Shushakova mit Spießen durchbohrt wird, sieht man den Heiligen Sebastian vor sich, und eine orthodoxe Ikone, wenn Ophelia Young Stäbe zum Strahlenkranz in ihr Haar steckt. Aber zur großen Erzählung rundet sich das mitnichten. Wie die Stühle auf den Tänzerrücken ist hier eins aufs andere gestapelt und miteinander verhakt – und zerfällt doch in seine Einzelteile.
Neues Stück I – Seit sie
von Dimitris Papaioannou
Choreographie: Dimitris Papaioannou, Bühne: Tina Tzoka, Kostüme: Thanos Papastergiou, Licht-Design: Fernando Jacon, Stephanos Droussiotis, Sound-Design: Thanasis Deligiannis, Musik-Arrangement: Thanasis Deligiannis, Stephanos Droussiotis, Künstlerische Beratung: Tina Papanikolaou, Stephanos Droussiotis, Probenleitung: Barbara Kaufmann, Plastiker: Nectarios Dionysatos, Mitarbeit Kostüme: Rike Zöllner, Künstlerische Fotografie: Julian Mommert.
Mit: Ruth Amarante, Michael Carter, Silvia Farias Heredia, Ditta Miranda Jasjfi, Scott Jennings, Milan Kampfer, Blanca Noguerol Ramírez, Breanna O’Mara, Franko Schmidt, Azusa Seyama, Ekaterina Shushakova, Julie Anne Stanzak, Oleg Stepanov, Julian Stierle, Michael Strecker, Tsai-Wei Tien, Ophelia Young.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.pina-bausch.de
"Kein echter Neustart, aber eine Vorstufe", heißt es in der Unterzeile von Dorion Weickmanns Kritik in der Süddeutschen Zeitung (15.5.2018). Der Abend sei "keine dankbare Mission, weil Gefühls- und Gemengelage der Tanztheaterfamilie allzu lang auf Trauerbetrieb gestellt blieben". Papaioannou aber gelinge die Wiedergeburt des Tanztheaters aus dem Geist der Bausch-Ära. "Es triumphiert: das Epigonale, das nebenbei ein paar reichlich poröse Pfeiler der Tanztheater-Kathedrale ins Blickfeld rückt." Die Urmutter Pina "ist mit von der Partie, ploppen allenthalben Reminiszenzen ihres Schaffens auf". Wenig überraschend halte sich Papaioannous Erzählweise strikt an die episodisch geprägte Tanztheaterlinie, dennoch bringe der Grieche einen Bilderreigen in Schwung, der vertraute Motive zitiert und wirkungsvoll nachverdichtet.
Der Ausdruck der Tänzer sei ein bedrömmeltes Vor-sich-hin-Schauen, in ihren Gesichtern stehe nichts. Mal posierten sie präraffaelitisch, mal madonnengleich, mal wie Jesus. "Ist das Tanztheater jahrelang mit Pina Bausch in alle Länder gereist und hat aus Souvenirs Stücke gemacht, so spricht Griechenland jetzt in Gestalt des Griechen Papaioannou selbst. Deswegen ist alles schwarz und weiß, deswegen gibt es kaum Musik, darum noch weniger Tanz. Willkommen in der Wuppertaler Gruselshow", schreibt Wiebke Hüster in der FAZ (14.5.2018). "Niemals hätte es dazu kommen dürfen, dass an dieser Stelle steht, das hätte Pina Bausch nicht gewollt. Das ist aber die furchtbare, deprimierende Wahrheit."
Statt Bauschs unverwechselbarer Überlagerung von Komik und Verzweiflung erlebe man einen oft irritierenden, fast immer faszinierenden Bilderbogen mit überraschenden Effekten, so Stefan Schmöe und Nicole Bolz in der Wuppertaler Rundschau (13.5.2018). "Auch wenn die Fülle an Ideen mitunter etwas kurzatmig umgesetzt ist und manchmal zu sehr an Pina erinnert, hat das Tanztheater endlich ein vorzeigbares neues Stück, das die Wurzeln nicht verleugnet und doch ästhetisch neue Wege geht."
Nicole Strecker vom Deutschlandfunk (13.5.2018) erkannte eine Hommage an Bausch, in der viele Requisiten und Situationen aus ihren Stücken auftauchten, aber Papaioannou entlocke ihnen doch immer neuen, immer anderen Zauber. Es gebe keine gefühlsgeladenen Seelenerkundungen, keine herzzerreissenden Tragikomödien – für die bleibe in Wuppertal Pina Bausch die einzig wahre Instanz. Stattdessen: kraftvoll-abstraktes Bilder- und Körpertheater im Dialog mit dem Erbe. "Ein Tanztheater im Schattenreich. Kühl, aber überzeitlich gültig."
"Papaioannou hat viele wirklich schöne, auch Mythologien zitierende, poetische Bilder erdacht", schreibt Sylvia Staude in der Frankfurter Rundschau (14.5.2018). "Es sind Traumbilder, manchmal surreal, manchmal skurril, manchmal zart ironisch." Papaioannou habe sich den Bausch-Stil anverwandelt, sich für eine durchgängige Bausch-Anmutung seines Stückes entschieden. Was jedoch fehle sei der eigentliche Tanz. Diese Uraufführung sei "stummes Theater, Tableaus, der Tanz dabei das Salatblättchen am Tellerrand".
"Anspielungen auf alte Tage" sieht auch Lilo Weber von der Neuen Zürcher Zeitung (15.5.2018) an diesem Abend, der eine neue Ära einläuten soll. Papaioannou spiele an auf Bausch und zeige Bilder aus griechischer Mythologie und christlicher Religion, die sich vor den Augen der Zuschauenden verwandelten, "mittels Zirkustrick oder Materialveränderung, weniger aber in der lebendigen Begegnung der Menschen". Dunkel sei "Seit sie", die Tänzerinnen und Tänzer "gefangen in einem dysfunktionalen Körper, in einer verstörten Welt, im verstörten kulturellen Gedächtnis". Webers Fazit: "Würde das Zerrüttete mit Bewegungen dargestellt, 'Seit sie' hätte ein fabelhaftes Stück werden können."
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