Die Kleinen und Niedrigen - Jakob Fedler führt in Wuppertal Texte von Ernst Toller, Robert Walser und Anne Lepper zusammen
Die Menschen könnten auch anders
von Sascha Westphal
Wuppertal, 25. Januar 2014. Drei Texte aus drei Epochen. Der eine, Robert Walsers rätselhafter Entbildungsroman "Jakob von Gunten", stammt noch aus der Zeit vor dem ersten Großen Weltkrieg. Der andere, Ernst Tollers seelenwunde Tragödie "Der deutsche Hinkemann", aus den leidvollen Jahren nach seinem Ende. Und der dritte, Anne Leppers atemlose Szenenfolge "Oh ist das Morrissey", aus dem vergangenen Jahr. Drei Betrachtungen über das Wesen des modernen Menschen und drei Haltungen, die kaum unterschiedlicher sein könnten.
Voller Ironie, aber auch voller Zärtlichkeit erzählt Robert Walser von der Sehnsucht, Teil der Masse zu sein. Voller Wut und Verzweiflung beschwört Ernst Toller die Verheerungen herauf, die gerade Menschen aus der Masse anrichten. Und voller Spott skizziert Anne Lepper eben jene als ewige Lemminge, stets auf der Suche nach der nächsten Klippe. Doch eins ist diesen drei Annäherungen an "die Kleinen und Niedrigen", als die Walsers Jakob von Gunten sich und die anderen Zöglinge des Instituts Benjamenta beschreibt, trotz allem gemeinsam. Am Ende steht entweder der Tod oder die symbolische Auslöschung einer Frau. Sie verliert, wenn nicht gleich ihr Leben, so doch jedes Bewusstsein. Währenddessen marschiert die Zeit ungerührt weiter, und die Männer fallen ein in ihren Schritt. Mit dem Bericht von einer Lazarettschwester, die am Abend alle Soldaten küsst und darüber nicht nur die Besinnung verliert, endet Anne Leppers szenische Skizze über den vergangenen oder doch erst kommenden Großen Krieg.
Fortwährend im Krieg mit sich selbst
In Jakob Fedlers Uraufführungsinszenierung, für die das derzeit heimatlose Wuppertaler Schauspiel in das Kulturzentrum "Die Börse" gezogen ist, geht dieser doppelbödigen Erzählung erst einmal eine bedrückende Choreographie voraus. Die von Moritz Heidelbach, Jakob Walser und Marco Wohlwend verkörperten Soldaten präsentieren der Lazarettschwester (Julia Wolff) ihre Gebrechen, nur um sich 'ihren' Kuss zu holen. Wieder und wieder reihen sie sich ein. Aus den dreien wird eine Heerschar, bis Julia Wolff schließlich am Boden liegt und die Männer sich ganz ihren Fantasien und Gelüsten hingeben können.
Aufreizend langsam schlägt Marco Wohlwend den Rock der Krankenschwester um, und jeder weiß, was kommt. Hernach ziehen sich die drei zurück und bleiben vor der weißen Wand im Hintergrund (Bühnenbild: Dorien Thomsen) stehen. Julia Wolff liegt alleine auf der leicht erhöhten, auf drei Seiten von Zuschauerreihen umgebenen quadratischen Spielfläche, die Beine gespreizt, die Arme verrenkt, den Kopf zur Seite gedreht. Fast wie eine achtlos beiseite geworfene Puppe wirkt sie in diesem Moment, und ihre Stimme scheint von ganz weit her zu kommen, aus einem Reich jenseits des Bewusstseins und jenseits der bitteren Wirklichkeit einer Welt, die fortwährend im Krieg mit sich selbst ist.
Wuppertaler Welttheater
Es ist ein wahrhaft gespenstisches Bild. So schlägt Jakob Fedler im Weltkriegsjubiläumsjahr auf überaus eindringliche Weise den Bogen von Anne Leppers Szenen aus der Zeit des Wartens auf die erste Schlacht hin zu Tollers "deutschem Hinkemann" wie auch zu Walsers Tagebuch eines Zöglings. Es weckt Erinnerungen an das tragische Ende von Eugen Hinkemanns verzweifelter Frau Grete, die zuvor leblos auf der Bühne lag. Zugleich deutet es schon hin auf das Ende des Fräulein Benjamenta, der Lehrerin Jakob von Guntens, die stirbt, weil kein Mann wagte, sie wirklich zu lieben. In dieser Szene kommen die so unterschiedlichen Texte auf ebenso wundersame wie erschreckende Weise zusammen. Und über allem hallt Hinkemanns todtraurige Erkenntnis nach: "So sind die Menschen ... Und könnten anders sein, wenn sie wollten. Aber sie wollen nicht."
Unentwegt kreist dieses kleine Wuppertaler Welttheater, das in nicht einmal 90 Minuten die Zeit zu falten scheint, bis 1914 und 2014 in eins fallen, um dieses tragische, dieses absurde Nicht-Wollen. In Fedlers pointierter, sich aufs Essentielle konzentrierender Bearbeitung von Robert Walsers Roman, die den Abend rahmt, hat es sogar fast etwas Beruhigendes. Wie Julia Wolff, Moritz Heidelbach, Jakob Walser und Marco Wohlwend ihre Sätze gleich einem Staffelstab weiterreichen, wie sie eins werden, ohne ein Chor zu sein, ist von einer verlockenden Schönheit. Nur gebiert dieser trügerische Lockruf nichts als die Schrecken und den Wahnsinn des Militarismus, die "Oh ist das Morrissey" in abgründig komischen Wortwechseln und Choreographien entlarvt. Im "deutschen Hinkemann" gerinnt er dann zu einem schrillen expressionistischen Schrei, der die Körper von Julia Wolff und den anderen mal erstarren lässt, mal ins Groteske und damit zur Kenntlichkeit verzerrt.
Die Kleinen und Niedrigen (UA)
von Ernst Toller, Robert Walser und Anne Lepper
Regie: Jakob Fedler, Bühne und Kostüme: Dorien Thomsen, Dramaturgie: Sven Kleine.
Mit: Julia Wolff, Moritz Heidelbach, Jakob Walser, Marco Wohlwend.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.wuppertaler-buehnen.de
Mit Tollers "Hinkemann" biete der Abend "ein böses Zerrbild militaristischer Propaganda, klug gekürzt, das ausgezeichnete Wuppertaler Ensemble spielt hier mit großen Gesten und lauten Tönen", sagt Stefan Keim auf Deutschlandradio Kultur (26.1.2014). Regisseur Fedler vertraue der Sprache und lasse die vier Schauspieler "packend agieren". In der Kombination mit den Texten Anne Leppers und Robert Walsers gehe aber "die Kritik, die dieser 90 Minuten kurze, präzise Theaterabend formuliert, weit über das Militär hinaus. Den Zwang, eine Null zu sein, findet man auch anderswo."
Der Abend habe "Längen, die ermüden – aber auch faszinierend intensive Momente, die aufrütteln", meint Martina Thöne in der Westdeutschen Zeitung (27.1.2014). In den besten Szenen werde "deutlich, wie eine Uniform die menschliche Seele erniedrigt und zugleich erhebt." Doch Jakob Fedlers Produktion bleibe "in der Vergangenheit haften". Diese Kritik untermauert Martina Thöne in einem beigestellten Kommentar. Darin heißt, die Wuppertaler Bühnen thematisierten "Soldatenleid als allgemeines Phänomen, ohne explizit in die Gegenwart zu schauen und aktuelle Bezüge zu suchen. Die Chance, aufrüttelnd den Bogen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart zu schlagen, wurde nicht ergriffen, die Möglichkeit, wirklich zeitkritisch den Finger in die Wunde zu halten, verpasst."
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