Horizont bis zum leeren Tellerrand

30. Juni 2023. Eine Kindheit, geprägt von Armut und Gewalt, die in einem Theaterbesuch eine Wende erfährt: Christian Barons autobiographischer Roman spielt dort, wo er nun auf die Bühne kommt – in Kaiserslautern.

Von Katharina Kovalkov

"Ein Mann seiner Klasse" am Pfalztheater Kaierslautern © Marco Piecuch

30. Juni 2023. "Ich wollte immer, dass er bleibt. Aber anders." Worte an einen Vater, aus dem autobiografischen Roman "Ein Mann seiner Klasse", in dem der Autor Christian Baron seine Kindheit im Kaiserslautern der 90er Jahre aufarbeitet. Geprägt ist sie von Armut, Gewalt und einem zerrütteten Verhältnis zu seinem Vater. In der Inszenierung von Jan Langenheim und Melanie Pollmann feierte die Bühnenfassung des Erfolgsromans nun Premiere auf der Werkstattbühne von Barons heimatlichem Pfalztheaters. Doch was da auf der Bühne gezeigt wurde, war mehr und alles andere als nur ein Stück "Theater". 



Im Flur vor der Werkstattbühne wird es um kurz vor 20 Uhr ziemlich eng. Als sich die Türen endlich öffnen, blicken einem hohe rote Metallwände und ein Labyrinth aus weißen Zäunen entgegen. Bevor die Zuschauer*innen zu ihren Plätzen düffen, müssen sie erst mal einen Parcours durchlaufen, zwischen einer Nintendo spielenden Jelena Kunz, einem Fußball kickenden Martin Schultz-Coulon, einer Gitarre spielenden Ilona Christina Schulz. Und einem völlig entnervten Rainer Furch, der fauchend und schimpfend versuchte, einen Röhrenfernseher zum Laufen zu bringen. Eine chaotische Gartenparty mit der gesamten Nachbarschaft, nur eben mitten auf der Bühne.

Teil der Geschichte des "Lautrer" Jungen

Die Zuschauer*innen, die auf extra Stühlen an den Seiten um die Bühne herum Platz nehmen müssen, weil auf den Treppenstufen alle Stühle belegt sind, werden immer wieder zu mehr oder weniger freiwilligen Statisten ins Geschehen gezogen. Bis man selbst mit Furch, Kunz, Schulz und Schultz-Coulon Ball spielt, zockt, diskutiert, Tamagotchis füttert und tütenweise Salzstangen knabbert.

Die vier sind die Hauptdarsteller des Abends, die schon beim Einmarsch der Zuschauer tief in ihren Rollen stecken und die Grenzen zwischen Spiel und Realität immer wieder durchbrechen. Eeine klassische Rollenverteilung gibt es nicht, alle vier Darsteller mimen in fliegendem Wechsel alle Charaktere des des Stücks. Sie alle sind Erzähler*innen und Figuren zugleich. Sie alle sind Mutter Baron, Vater Baron, Tante Juli und Opa Horst. Und sie alle erwecken die Geschichte eines kleinen "Lautrer" Jungen, der mit seinen drei Geschwistern in Armut, Gewalt und gesellschaftlicher Verachtung aufwächst, mit unbändiger Energie und Empathie zum Leben.

Im "Assi"-Status gefangen

Von den Wänden auf Rädern strahlen die Helden der 1980er- und 90er-Jahre: Bud Spencer und Terence Hill, Freddie Mercury und Jackie Chan, Super Mario und der heimatliche Fußballclub – der 1. FCK. Wie schön hätte es sein können, wenn auch der Vater in der Geschichte Christian Barons ein Held gewesen wäre. Doch so war es nicht. Auch wenn die Kinder in dem "muskulösen Möbelpacker" bis zuletzt den verkannten Helden gesehen haben – oder sehen wollten. "Meine Eltern entwarfen ihr Leben nicht am Reißbrett", reflektierte Martin Schultz-Coulon in der Rolle des Ich-Erzählers. "Tagsüber arbeiteten sie. Abends hingen sie ihren Träumen nach. Dichterin wollte meine Mutter werden. Ihre Reime in Büchern veröffentlichen. Mein Vater wollte umschulen. Polizist sein – das war seine Sehnsucht. Als Freund und Helfer Diebe, Vergewaltiger und Steuersünder hinter Gitter bringen."

Ein Mann seiner Klasse 05 c Pfalztheater Kaiserslautern Marco PiecuchSzenen einer Ehe mit Rainer Furch und Jelena Kunz © Marco Piecuch

Doch aus diesen Träumen wird nichts. Stattdessen mangelt es der jungen Familie immer wieder am Nötigsten. Kein Geld, um die Miete fristgerecht zu bezahlen, weil der Vater die letzten Ersparnisse seiner Spiel- und Alkoholsucht opfert. Keine Möglichkeit, aus dem "Assi"-Status raus zu kommen, wenn die einzige kulturelle Quelle die hauseigene Glotze ist. Und immer wieder verfällt der Vater in rauschhafte Wutausbrüche und prügelt erbarmungslos auf Kinder und Mutter ein – sogar als die hochschwanger ist. "Als er über die Schwelle wankte, da holte er wieder aus. Diesmal aber nicht mit dem Arm, oh nein. Jetzt trat er meiner Mutter mit voller Wucht in den Babybauch." Keine drei Tage später nimmt die Mutter ihn wieder auf, "als sei nichts gewesen". Fast drei Monate zu früh kommt das Baby zur Welt und ringt auf der Station um sein Leben, während der Vater in einer Kneipe zu Queens "Bohemian Rhapsody" auf den Tresen trommelt.

Surreale Brutalität mit Tanzeinlage

Die schmerzverzerrten Schreie eines Neugeborenen hört man im Verlauf des Stücks nicht. Die brutalen Tritte und Schläge sieht man ebenso wenig. So viel erspart die Inszenierung von Jan Langenheim und Melanie Pollmann dem Zuschauer. Und doch spürt man sie, die Verzweiflung, die Angst, die Qualen. Im Publikum leises Schluchzen, gerührtes Räuspern, unbehagliches Hin- und Herrutschen, verdrängendes Husten. Die Szene wirkt so grausam und surreal, als könnte sie nicht echt sein. Real waren sie für den Neugeborenen – namens Christian Baron.

Ein Mann seiner Klasse 12 c Pfalztheater Kaiserslautern Marco PiecuchTanzeinlage mit Jelena Kunz und Ilona Christina Schulz © Marco Piecuch

Den Kontrast zur Brutalität bilden die spielerisch vollzogenen Umbauphasen, jedes Mal eingeleitet von den Hits dieser Ära, von Queen bis Ultravox. An dieser Stelle ein Lob an Musikdirigent Frank Kersting, der mit solch musikalischem Witz die anhaltende Beklemmung aufbricht. Die Akteure flitzen von Szenerie zu Szenerie, schieben die weißen Zäune und Requisiten umher, öffnen Räume, ziehen Wände und schaffen den begrenzten Kosmos einer Familie, deren Horizont nie über den leeren Tellerrand hinaus geht. Die Akteure bleiben in ihrem Spiel so nah an der Buchvorlage wie möglich, durchbrechen jedoch immer wieder die vierte Wand zum Publikum und spicken das Ganze auch mal mit ad hoc-Momenten und karnevalistischen Dinner- und Tanz-Szenen, die ein kleines Quäntchen Humor ins Familiendrama bringen.

Stück bittere Realität

In einer Szene erinnert das Ensemble an Christian Barons allerersten Theaterbesuch, der 2002 im Pfalztheater stattfand. Gespielt wurde damals "Orpheus in der Unterwelt". Und in dem Stück gab ausgerechnet Ilona Christina Schulz die Eurydike, während Günther Fingerle – das heimliche fünfte Ensemble-Mitglied an diesem Abend – als gülden-geflügelter Götterbote Merkur über die Bühne schwebte und trällerte. Für Christian Baron, der als Zuschauer in der Premiere sitzt, dürfte das Erinnerungen geweckt haben: Das ist in seinem Buch der Moment, in dem der Junge aus "Lautre" sein Leben völlig umkrempeln will. Ganz nach dem Motto von Cass Elliot: "Make Your Own Kind of Music".

Die Inszenierung trifft jeden Ton. Die Dramaturgie trifft ins Herz. Und die Akteure sind: exzellent. Der Eindruck, der weit über die stehenden Ovationen und feuchten Augen der Zuschauer hinaus bleibt: Nein, das ist kein Theaterstück. Das ist ein Stück Leben, unzensiert auf die Theaterbühne geknallt! Und es ist ein Stück ungeschminkter Wahrheit, die – leider – noch heute für viele Christian Barons dieser Welt bittere Realität ist.

 

Ein Mann seiner Klasse
von Christian Baron
Inszenierung: Jan Langenheim, Bühne und Kostüme: Anja Jungheinrich,
Dramaturgie: Melanie Pollmann, Carola von Gradulewski, Musikalische Einstudierung: Frank Kersting, Ilona Christina Schulz, Licht: Thomas Schöneberger.
Mit: Jelena Kunz, Ilona Christina Schulz, Rainer Furch, Martin Schultz-Coulon, Günther Fingerle.
Premiere am 29. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

/www.pfalztheater.de

Kritikenrundschau

Nach der (zum Berliner Theatertreffen eingeladenen) Inszenierung vom Schauspiel Hannover erweise sich Christian Barons Roman auch in Kaiserslautern "als Vorlage für eine grandiose Inszenierung", schreibt Björn Hayer in der Deutschen Bühne (30.6.23). Aufgeteilt auf fünf leidenschaftlich spielende Sprecher, bekämen die "vielen Stimmen im Erzähler" entsprechenden Raum. Text und Inszenierung seien "voller Wahrheit, bewegend bis ins Mark", resümiert der Kritiker.

Anders als in der Uraufführung in Hannover schlüpfe das Ensemble hier nicht in die diversen Rollen des Textes, sondern dieser werde vielmehr aus der Distanz erzählt, berichtet Fabian R. Lovisa in der Rheinpfalz (1.7.23, €). Der Kritiker rückt dieses Konzept in die Nähe zu Brechts epischem Theater und lobt, dass die Figuren "in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit gezeichnet" würden.

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