Kafkas Haus - Laura Linnenbaum birgt am Saarländischen Staatstheater aus Franz Kafkas Erzählwerk eine Zeitstudie für paranoide Gesellschaften
Sind wir nicht alle ein bisschen Kafka?
von Reingart Sauppe
Saarbrücken, 1. September 2018. Da liegt er, der Kafka: Ein grauer Tweedanzug, ein weißes Hemd, die Hosenbeine stecken in einem Paar schwarzer Schuhe. Sorgfältig über einem Tisch ausgebreitet, sieht die altmodische Herrenkleidung aus wie ein schlaffer, lebloser Körper. Sieben Schauspieler, in weißer Unterwäsche, nähern sich vorsichtig prüfend dem Kostüm, befühlen und probieren Schuh, Hemd und Hose. Am Ende dieser pantomimischen Annäherung ist es entschieden: Ein Schauspieler steckt in Kafkas Anzug, die anderen sechs assistieren ihm dicht angeschmiegt als Alter Egos.
"Ich probiere Geschichten an wie Kleider" hat Max Frisch in "Mein Name sei Gantenbein" geschrieben. Hier probieren sieben Schauspieler die Geschichten von Franz Kafka an. Jeder ist K., ob als Georg Bendemann, als Vater, Braut, Prostituierte, Hund, Affe, Hungerkünstler oder als Käfer Gregor Samsa. Das kafkasche Personal der Erzählungen verwebt Regisseurin Laura Linnenbaum in szenischen Collagen zu einem einzigen Gedankengebäude: zu "Kafkas Haus".
Vaterfurcht, Schuldgefühle, Bindungsängste
Die Regisseurin hat für ihre Inszenierung eine eigene Textfassung erstellt: Ein Glücksfall, wie sich im Laufe des Abends herausstellen wird, keine dröge Kopfgeburt, sondern eine, die ihrer szenischen Phantasie folgt. Als sanfte Einführung in Kafkas Welt wird zunächst vor dem Eisernen Vorhang die Vater-Sohn-Geschichte "Das Urteil" in epischer Breite erzählt. Selbstzweifel, Vaterfurcht, Schuldgefühle, Bindungsängste, paranoide Realitätsverschiebungen: alle kafkaschen Angstzustände treten hier schon zutage.
Raimund Widra als Georg Bendemann alias K. versteht es auf der Klaviatur der Gefühlszustände virtuos zu spielen, blitzschnell zwischen clownesker Komik, skrupulöser Feinnervigkeit und abgrundtiefer Verzweiflung zu wechseln und dabei den feinen ironischen Grundton, der nicht nur Kafkas Erzählungen, sondern auch diese Inszenierung durchzieht und sie damit vor falschem Verzweiflungs-Pathos bewahrt, stets mitklingen zu lassen.
Anschließend sampelt Linnenbaum die kafkaschen Quellentexte, legt sie über- und nebeneinander. Bekannte Motive ziehen sich dabei leitmotivisch durch die Inszenierung: K. der von schwarzen Schreibtischgestalten angeklagt wird und vergeblich nach Richter und Urteil sucht. Sohn K., der vom Vater vernichtet wird. Bräutigam K., der sich nach Liebe sehnt und Nähe wie Zurückweisung fürchtet. Tierfabelwesen K., die daran scheitern, sich der Menschenwelt anzupassen.
Vieles davon erschließt sich in Linnenbaums Inszenierung sinnbildlich: Etwa wenn der Hungerkünstler K. sich vorm Publikum splitternackt auszieht, dabei laut über den zweifelhaften Wert künstlerischer Arbeit nachdenkt, um schließlich – von einem Scheinwerfer glorifizierend beleuchtet – die Arme ausbreitet wie der gekreuzigte Gottessohn zur Apotheose aus väterlicher Vernichtung und narzisstischer Selbstüberhöhung wird.
Realität mischt sich mit Wahn
Atmosphärisch dicht und intensiv bleibt dieser Abend, emotional getriggert von einer sparsam dosierten, aber suggestiven Bühnenmusik und von der
strengen Ästhetik des Bühnenbilds: schwarze rechteckige Tische stehen aneinandergereiht auf der großen nackten Bühne, kaltes Licht und schwarz-weiße Kostüme erzeugen eine klaustrophobische und paranoide Atmosphäre.
Die Introspektion eines Autors wird hier nach außen gestülpt: Sichtbar und spürbar werden wir mit seiner Welt konfrontiert, die von Ängsten beherrscht wird, in der Realität und Wahn sich nicht mehr trennen lassen: eine Welt, die der unsrigen, in der Fake News, Verschwörungstheorien, angstbesetzte Feindbilder, Realitätsgrenzen gefährlich verschwimmen lassen, verdammt nahe kommt. Mit Kafkas Haus portraitiert Linnenbaum also weit mehr als das Seelenleben eines Künstlers. Denn sind wir nicht alle ein bisschen K.?
Dank eines hochkonzentriert und glänzend spielenden Schauspielensembles gelingt Laura Linnenbaum ein herausragender Abend, der angesichts der aktuellen Ereignisse in Chemnitz die gesellschaftliche Stimmung in unserem Land nicht besser hätte ausdrücken können.
Kafkas Haus
Schauspiel nach Erzählungen von Franz Kafka Fassung von Laura Linnenbaum
Regie: Laura Linnenbaum, Bühnenbild: Valentin Baumeister, Kostüme: Michaela Kratzer, Musik: Fiete Wachholtz, Choreographie: Lili M. Rampre, Licht: Daniel Müller, Dramaturgie: Bettina Schuster-Gäb.
Mit: Anne Rieckhof, Ali Berber, Sébastien Jacobi, Philipp Seidler, Gregor Trakis, Philipp Weigand, Raimund Widra.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.saarland
Christoph Schreiner von der Saarbrücker Zeitung (2.9.2018) ist hin- und hergerissen. Linnenbaums Inszenierung finde nicht nur einige hinreißende Bilder für das existenzielle Ausgeliefertsein, sie kitzele auch viel Verwandlungskraft aus dem fortlaufend in neue Rollen schlüpfenden Ensemble heraus. Und dennoch wirke ihre ambitionierte Collage am Ende ein bisschen wie ein "– zwar nicht seelenloses, so doch verwaistes – Text-Museum", in dem man Kafkas vertrackter Welt kaum näherkomme. Auch wenn einzelne Erzählbausteine in diesem nachgestellten Haus zu täuschend echt wirkenden Kulissen arrangiert sind. Es fehle "diesem kunstvollen Hantieren mit (allzu) vielen Erzählfäden ein roter Faden als Ziel".
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