Moskauer Eis - Lydia Bunks unaufwändige Inszenierung von Annett Gröschners Wendeverlier-Roman in Magdeburg
Eis, Eis, Baby!
von Matthias Schmidt
Magdeburg, 1. April 2016. Zwei Waffeln, in der Erinnerung leicht pappig schmeckend, und dazwischen zwei Zentimeter weißes Eis. Sahneeis. Oder Vanille. Eine Art Vanille. Das ist Moskauer Eis, das war die DDR. Am Ende essen die Schauspieler dem Publikum eins vor, zu dieser Musik, die jeder kennt. "Ice, Ice, Baby" von – richtig! – Vanilla Ice. Das ist ein bisschen plump, aber trotzdem ein schönes Ende, weil der Song aus dem Jahr 1991 stammt, in dem ja auch die Rahmenhandlung von Annett Gröschners Roman spielt. In den 100 Minuten zuvor war zu erleben, warum dieser Roman, der eigentlich gar nicht "Moskauer Eis", sondern "Eingefrorene Guthaben" heißen sollte, was dann aber wegen der schwarzen Kassen bei der CDU missverständlich schien, eines der schönsten Bücher über die DDR ist. Über die Traurigkeit, die über allem schwebte, die Eiszeit, um den Kalauer nun doch noch einmal zu machen. Über das vergebliche Warten auf alles Mögliche. Über das Sich-Einrichten in diesem Land und vor allem über die Schwierigkeiten mindestens einer Generation, nach dessen Ende einfach ganz neu anzufangen.
Der Vater der Erzählerin, Annja Kobe, ist so einer. Mit 50 wird er, DDR-Kühlmittelforscher in zweiter Generation, entlassen. Abgewickelt. Ab jetzt kühlen die anderen, die aus dem Westen. Da friert er sich einfach selbst ein, und Annja findet ihn. In der Kühltruhe der Großmutter. Das ist, gelinde gesagt, skurril. Aber vielleicht ist es ja auch nur eine Metapher. Traurig ist es allemal, und doch halten sich in Lydia Bunks Inszenierung Melancholie und Komik angenehm die Waage. Es herrscht minutenlang angespannte Stille, und es wird ungeheuer viel und herzhaft gelacht. Ganz wie im wirklichen Leben.
Gänzlich unmodern
Das wirkliche Leben ist in der Bühnenfassung reduziert auf die Familie Kobe. Annja, aus Berlin angereist, beschließt, ihre senile Großmutter Elsa zuhause zu pflegen. Annjas Mutter, Barbara, hatte sie und den pedantisch-kauzigen Vater Klaus (nun tiefgefroren) bereits vor Jahren verlassen. Opa Paul ist lange tot. In den Erinnerungen an die guten und die schlechten Zeiten der Familie leben bzw. tauchen sie nun alle wieder auf und mit ihnen – en passant – DDR-Alltag und -Geschichte. Versorgungslage, Grenze, Stasi, Partei – alles drin, zwischen den beiden in der Erinnerung leicht pappig schmeckenden Waffeln, sozusagen.
Lydia Bunk inszeniert ihre Spielfassung bewusst einfach, erzählerisch, naturalistisch, auf den ersten Blick scheinbar gänzlich unmodern. Ohne Chichi, ohne Live-Musik, ohne Videos. Ohne Lärm und Körperliches. Ohne Fremdtext-Splitter und diskursives Beiwerk. Und siehe: geht! Geht sogar sehr gut. Passt gut zum Stück, passt gut auf die Studiobühne des Magdeburger Schauspiels. Kleine Ausstattungs- und Regie-Ideen sorgen für Wohlfühl-Atmosphäre und Heiterkeit im Saal. Omas Bett steht senkrecht an der Wand und die Krawatte des tiefgefrorenen Papas waagerecht nach vorne. Die Schauspieler dürfen dem Affen Zucker geben und machen, wo es angebracht ist, reichlich Gebrauch davon. Großmutter Elsa tippelt in Oma-Tippelschritten durch das Bühnen-Puppenstübchen, in dem ein Sandmännchen im Regal steht, und während sie tippelt, singt sie mal DDR-Schlager, grüßt mal den Besuch mit "Heil, Hitler" und beklagt schließlich beiläufig, es sei nicht gut, dass die Mauer gefallen ist. Man wisse jetzt gar nicht mehr, wo die Kinder gerade sind. Michaela Winterstein als Großmutter – komödiantisch großartig!
Magdeburger Theaterglück
Abgesehen von ihr sind die Rollen weitgehend altersgerecht besetzt, auch das sieht man ja nicht mehr so oft. Die jüngeren spielen die Jungen und die älteren die Alten. Und zusammen erzählen sie dem Publikum ihre Geschichten. Das wirkt kein bisschen trutschig, na gut, manchmal, ein bisschen. Zugleich aber spielt es ironisch mit dem klassischen Theatertürenklappern, etwa wenn Annja sagt, so sei es nun mal zugegangen in ihrer Familie, nur dass es eben keine zweite Tür gab. In Magdeburg gibt es zwei. Dazu ein Kellerloch und einen Kühlschrank, durch die man auftreten und abgehen kann. Was reichlich getan wird. Kurzum: Die Inszenierung ist aufs Wunderbarste altmodisch.
Dass sie in einer Passage zur szenischen Lesung wird, in der alle – scheinbar ganz erstaunt – Annett Gröschners Buch zur Hand nehmen, um darin ihre Geschichten zu entdecken und dann vorzulesen, sei's drum, diesen Einfall (als Kniefall vor der ja aus Magdeburg stammenden Autorin?) hätte es nicht gebraucht. Denn natürlich war Annett Gröschner da, und natürlich wurde sie bejubelt und war bester Laune, und als nach dem Applaus auch noch Marie Ulbricht (die als Annja souverän durch den Abend führte) mit dem Förderpreis des Fördervereins als Beste junge Schauspielerin geehrt wurde, war das Magdeburger Theaterglück für diesen Abend komplett.
Moskauer Eis
Nach dem Roman von Annett Gröschner
Regie: Lydia Bunk, Bühne und Kostüme: Christiane Hercher, Dramaturgie: Oliver Lisewski.
Mit: Marie Ulbricht, Michaela Winterstein, Susi Wirth, Raphael Kübler, Thomas Schneider.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.theater-magdeburg.de
Gisela Begrich schreibt in der Volksstimme (4.4.2016): "In der ersten Hälfte der Aufführung dominieren zum Vergnügen der Zuschauer das Absurde des Geschehens und die Leichtigkeit der Dialoge." Bald aber mische sich reichlich "historischer und belletristischer Treibsand" in die Umsetzung. "Das Regieteam lässt sich bedauerlicherweise auch die Chance entgehen mit Magdeburg-Assoziationen zu punkten." Lydia Bunke gelinge es nur partiell, eine dem Theater gemäße Wirksamkeit zu behaupten.
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Die junge Protagonistin hätte dringend Hilfe gebraucht in ihrem Spiel.
Frau Begrich beschreibt es in der Volksstimme Magdeburg einmal mehr auf eine kluge und klarsichtige Weise.