Othello / Die Fremden - Lausitz Festival
Parallelgeschichten einer Tragödie
26. August 2024. Othello glaubt, was er denkt und er denkt vieles gleichzeitig. Was ihn zum Mörder seiner Frau Desdemona werden lässt, bleibt vieldeutig. Marcel Kohler hat den Klassiker jetzt in den Industriehallen von Weißwasser entzeitlicht, verräumlicht und mit neuem Schluss versehen. Eine Charakterstudie als Spektakel.
Von Michael Bartsch
26. August 2024. Nach einem solchen Theaterabend dürfen die Vorbehalte gegen ein anfangs unsensibel westimportiertes, finanziell unverschämt üppig ausgestattetes Lausitzfestival einfach einmal schweigen. Zumal die Kritik zwischen Zittau und Cottbus an mangelnder Bodenhaftung zwar auch zum fünften Jahrgang nicht verstummt, sich aber ein gegenseitiges Einlenken abzeichnet.
Der "Othello" im Industriedenkmal der früheren Spezialglasfabrik Telux in Weißwasser korrigierte auch Vorbehalte, diese Inszenierung folge nur einem etwas älteren Trend zu Spielorten morbiden Charmes und der neueren Mode des immersiven, also Publikumswandertheaters.
Denn erst der starke und anhaltende Schlussapplaus erinnerte nach fast drei Stunden an den Blick zur Uhr. Man glaubt, seinen Shakespeare zu kennen und muss doch wie Sokrates konstatieren: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und wenn man dann noch stark emotional angefasst zum Premierenbuffet taumelt, gibt es eigentlich nichts zu beckmessern. Erst recht nicht beim Vergleich zum Vorjahresversuch am selben Ort, Shakespeares "Kaufmann" mit dem Ambiente von Glasschmelzöfen, Fertigungsstrecken und Werkhallen zu synchronisieren.
Simultanspiel an drei Orten
Die Magie des Ortes erfasst und nutzt der erst 1991 geborene Schauspieler und Regisseur Marcel Kohler hervorragend. Vom Begrüßungssekt draußen geht es durch die Hafenbar zur Siegesfeier der Venezianer nach der Seeschlacht, bei der die türkische Flotte unterging. Aha, wir sind gleich in Zypern. Der unnachahmliche Götz Schubert, noch gar nicht der intrigante Bösewicht Jago, mimt den Abendspielleiter, dirigiert das Publikum und hält eine parodistische Rede auf den geliebten Feldherrn Othello. Dass Cassio hier schon besoffen aus der Rolle fällt, lässt kommende Konflikte ahnen.
Das mit farbigen Armbändchen in drei Gruppen eingeteilte Publikum begibt sich dann an die nacheinander zu besuchenden drei Hauptschauplätze. Aus diesem nichtlinearen Puzzle soll es den Plot selber zusammensetzen, was eine Grundkenntnis des Shakespeare-Originals und seiner italienischen Erzählungsvorlage nahelegt. Denn kausale Zusammenhänge werden nicht doziert, sondern vorausgesetzt.
Verzauberung einer Fabrikruine
Wer aber nur ein bisschen durchblickt, hat seine helle oder durch geschickte Lichtstimmungen auch abgedunkelte Freude an immer tieferen Erkenntnissen über allzumenschliche Abgründe und Höhenflüge. Unterschwellig stimuliert durch die Laboratmosphäre der Räume und die dazwischen liegenden Passagen. Assoziative Details, ein Marien-Hausaltar, Schattenspiele hinter Fenstern, dekorative Hirschgeweihe, Autowracks. Man läuft durch eine verbotene Zone, die an die griechisch-türkische Demarkationslinie in Nikosia erinnert. Handlung und Orte verschmelzen. Die Exotik der Räume wird wiederum in vertrauter Gewöhnlichkeit aufgehoben, an der Theke, mit dem angedeuteten Himmelbett des Paares Othello-Desdemona.
"Othello" bietet jeder Regie drei Komponenten als Vorlage: Karrieregeilheit, Eifersucht und Rassismus. Letzteres schlachtet Marcel Kohler überhaupt nicht aus. Und genau so wenig, wie sein von Leonard Burkhardt dargestellter Othello eindimensional nur als das Opfer von Intrigen erscheint, wirkt die Desdemona von Linn Reusse nur als emanzipierte junge Frau oder Tom Gramenz als Cassio ausschließlich als Irrender und mit seinen Schwächen Kämpfender. Die Nachvollziehbarkeit ihrer Beweggründe bringt sie uns näher, sogar den im Grunde einsamen Jago, der nicht nur als das geborene Karriereschwein erscheint.
Viel näher als beim Original kommt man auch der Figur von Desdemonas Vater Senator Brabantio. Marcel Kohlers Kunstgriff macht aus ihr eine Brabantia, und Desdemona hat mit deren mütterlicher Eifersucht nicht weniger zu kämpfen als mit der Othellos. Wie überhaupt dieser Shakespeare in Weißwasser wie eine Parabel auf Besitzansprüche erscheint. John Lennons "Jealous Guy" ist sozusagen die Leitmelodie der Inszenierung.
Aufwühlender Epilog mit Shakespeare-Entdeckung
Die lotet nicht nur Charaktere aus, sie bietet auch ein zeitmultiplexes Spektakel, von dem sich auch die Deutsche Bahn viel abschauen könnte. Die exzellenten Spieler stürmen exakt getimt von Schauplatz zu Schauplatz. Die Zuschauer bekommen das mit, erfassen zugleich die Parallelspielorte. Kompatible Textbausteine verbinden die Szenen, etwa die Klage über die Vergänglichkeit der Liebe oder Desdemonas wunderschöner Satz "Ich sah in deinem Gesicht die Schönheit deines Gemüts".
Das Finale hält einen Coup bereit. Was als aufgesetzte Schlusspredigt im Stil von Frank Castorf oder Volker Lösch erscheint, erweist sich als ein spät Shakespeare zugeordnetes Fragment "Die Fremden". Götz Schubert schwingt sich darin gleichermaßen zum demagogischen Volksverhetzer wie zum empathischen Humanisten auf, der daran erinnert, dass wir überall jenseits unserer Stammlande Fremde sind.
"Soweit kommt´s heute noch, wenn wir die Fremden hier dulden", johlt das Volk aus Weißwasser, das am 1. September nicht nur den sächsischen Landtag mitwählt, sondern möglicherweise auch einen Reichsbürger als neuen Oberbürgermeister. Schaudernd und faszinierend zugleich wie die gesamte Inszenierung.
Othello / Die Fremden
von William Shakespeare, in einer Fassung von Marcel Kohler
Text und Regie: Marcel Kohler, Kostüm und Bühnenbild: Torsten Köpf, Musik: Christoph Bernewitz, Video: Linn Reusse, Licht: Henning Streck, Dramaturgie: Michael Höppner.
Mit: Leonard Burkhardt, Götz Schubert, Linn Reusse, Dagna Litzenberger Vinet, Sina Kießling, Tom Gramenz, weiteren Statisten sowie dem Stadtchor Weißwasser.
Premiere am 25. August 2024
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, keine Pause
www.lausitz-festival.eu
Kritikenrundschau
Patrick Widermann vom Tagesspiegel (27.8.2024) sah in der Lausitz den Othello als "toll gespieltes Perspektivenpuzzle mit Live-Musik, das einem schlüssig vor Augen führt, wie wenig es braucht, um Welt und Wahrheit komplett falsch zu deuten". Das "Intrigendrama" zeige sich in der Regie von Marcel Kohler "als sehr gegenwärtiges Stück über die Zerrissenheit".
"Der Clou: Der Abend läuft in drei Handlungssträngen zeitgleich nebeneinander, das Publikum wechselt zwischen Bar, Bett und Venedig, man erfährt die Handlung aus drei verschiedenen Perspektiven. Das funktioniert brillant gut und macht uns zu Zeugen des Geschehens." So berichtet Christina Tilmann in der Märkischen Oderzeitung (27.8.2024). Marcel Kohler erzähle die "Tragödie der verzweifelten Selbst-Suche. Angetrieben wird das durchweg hervorragende Ensemble von Götz Schubert, der für seinen müden, desillusionierten Jago den Frust über verpatzte Karrierechancen mit altersbitterer Wut auf die Jüngeren verbindet."
Georg Kasch in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (25.8.2024) findet Marcel Kohlers Stückanlage mit ihren verschiedenen Handlungsräumen "wahnsinnig genau getimed und schön gemacht". Es gäbe allerdings eine Reihen "unlogischer Komponenten“, etwa die politische Wandlung in Jago mit dem Monolog "Die Fremden" im Finale, Othellos Femizid an Desdemona wirke "schal". Gleichwohl sei Regisseur Marcel Kohlers Schauspielerführung "sehr fantasievoll", die Inszenierung besitze "viele schöne kleine Ideen".
In manchen Momenten wie beim Auftritt des Bürgerchors hat Lara Wenzel vom nd (2.3.2024) eine "faschistische Überwältigungsästhetik" ausgemacht. Sie schreibt: "Überzeugend ist der Theaterabend nicht durch seine Monumentalität, sondern im Kleinen, wenn gleich zu Beginn ein empfindsamer Othello ein zu langes Geigensolo spielt oder Dagna Litzenberger Vinet als eigenwillige Emilia ansetzt, Heiner Müllers 'Hamletmaschine' zu sprechen, und mit den Worten 'Ach, egal' abbricht. In diesen Momenten beweisen sich Ensemble und Regie als fantasievolle Spieler*innen."
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nachtkritikvorschau
Aber es "johlt nicht das Volk aus Weißwasser"!
Wenn schon, dann spielt der Stadtchor Weißwasser das zypriotische Volk, das erst revoltierend, dann verblendet dem Rattenfänger Jago zujubelt und folgt....
Nachdenkenswert ist das dann das Requiem "Himmel... das wollte der Himmel nicht....!"
Natürlich sind da Parallelen zur aktuellen Situation in Weißwasser, der Lausitz, Deutschland, Europa und der Welt ganz bewusst und sehr passend eingebaut...
aus reinem Interesse frage ich, warum wird die Position Licht nicht genannt bei der Produktion Othello/Die Fremden in Weißwasser.
Herzliche Grüße Henning Streck
(Anm. Redaktion: Werter Henning Streck, wir bemühen uns durchaus um Vollständigkeit im Besetzungskasten und haben die Position entsprechend ergänzt. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow)
Die Gruppe mit den blauen Bändchen hat das Glück, gleich mit dem stärksten Teil des „Othello“-Puzzles zu beginnen. Als intimes Kammerspiel legen Reusse und Burkhardt ihre Szenen in den privaten Räumen der Desdemona an, mit Cassio (Tom Gramenz) und Jago (Götz Schubert) betreten auch die beiden wichtigsten anderen Protagonisten der Tragödie die Szenerie. In dieser Passage des Triples sitzt das Publikum am nächsten dran, die Auftritte sind am feinsten gearbeitet und dieser Teil ist auch der komödiantistische mit vielen kleinen Brechungen und Auflockerungen.
Nach fast drei Stunden erheben sich plötzlich einige Frauen und Männer vom Stadtchor Weißwasser, die bis dahin völlig unverdächtiger Teil unserer Gruppe durch den Parcours waren, und steigern sich in wütende Tiraden eines rechten Mobs hinein. Kohler schließt seine „Othello“-Textfassung mit dem Shakespeare-Fragment „Die Fremden“ ab. Mitten in der aufgewühlten Stimmung nach dem Messer-Attentat von Solingen und kurz vor den Landtagswahlen in Sachsen und den Nachbarländern Thüringen und Brandenburg wirkt dieser Schluss zwar etwas plakativ als Wink mit dem Zaunpfahl. Das Team zieht für dieses Finale jedoch effektsicher alle Register des Überwältigungstheaters.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/08/28/othello-die-fremden-lausitz-festival-kritik/