Anouk & Adofa - Schauspiel Leipzig
Konfetti für einen Therapieplatz
27. November. Awareness, Self-Care, Care-Arbeit: Dem jungen Dramatiker und Regisseur Marco Damghani gelingt ein kluger Kommentar zu zeitgenössischen Narrativen – und eine Liebesgeschichte, die es sogar dann schafft zu erheitern, wenn sie mit den denkbar ernstesten Problemen zu kämpfen hat.
Von Iven Yorick Fenker
27. November 2022. Szenen einer Liebe, Szenen von der Leipziger Kleinmesse aus den Fahrgeschäften und zwischen Imbissbuden: ein Paar, strahlend. Schnelle Schnitte, Hände im Close Up, die Eiswaffeln tragen, Hände, die ineinander greifen. Dann erlischt die Projektion, die Musik ist aus, das Vorspiel vorbei und die Strahler beleuchten die Bühne in der Diskothek, dem Spielort für zeitgenössische Dramatik des Leipziger Schauspiels.
Heute ist diese ein aufgestellter Guckkasten, eine in die Länge gezogene Kammer. Eine angedeutete Küche, die Leitungen liegen frei, verteilte Möbelgerippe in Bade-, Schlaf- und Wohnzimmer, keine Wände. Die Kulisse urbanen Lebens auf engem Raum, ästhetisch austauschbar und doch universell. Das Individuelle zeigt sich in den Details. Welche Bücher stapeln sich dort? Welche Sticker kleben auf dem Kühlschrank? Wer lebt hier?
Feines, kleinteiliges Spiel
Anouk, Paulina Bittner, schleudert die Daunendecke davon, springt aus dem Bett, macht sich fertig, geht ab. Sie bewegt sich, als ob dies Kraft erfordere. Sie sieht müde aus. So allein daheim und für sich sieht man ihr zu, wie sie immer wieder innehält. Bereits hier legt Bittner ihr feines, kleinteiliges Spiel an: subtile Gesten, grimmiges Gucken, spürbar werdende Leere. Im Kleinen ist das großartig gespielt. Und dann taucht Adofa, Patrick Isermeyer, hinter dem Duschvorhang auf. Er weint und schreit. Er verzieht das Gesicht, reckt die Wachsstreifen tapfer in die Höhe, mit denen er sich die Haare vom Genitalbereich reißt. Die Arme zittern. Das tut weh, sicher, aber irgendwie scheint das alles zu groß. Denn auch, als er aus der Dusche schon wieder heraus ist – Anouk ist wiedergekommen, sie leben zusammen – geht das so weiter.
Während Bittner konsequent Klein-Klein spielt, manövriert Isermeyer zwischen absurd anmutenden Showeinlagen und jenem Naturalismus, den die Bühne suggeriert. Der Kontrast der Spielanlagen ist merkwürdig, aber unterhaltsam. Außerdem findet sich in dieser Differenz etwas angelegt, das sich später tatsächlich als deutlicher Konflikt zwischen den beiden offenbaren wird. Die spielerischen Leistungen sind beeindruckend. Die Inszenierung scheint durchgearbeitet, die Qualitäten dieser Setzungen liegen klar im Formalismus, der hier gekonnt zelebriert wird. Nur beginnt der Abend leider etwas unentschieden. Aber das ist sicher auch Formsache.
Gegen alle Widerstände
Mit dem Auftragswerk "Anouk und Adofa", welches er hier selbst zur Uraufführung bringt, zeigt Marco Damghani die Geschichte einer tiefgründigen Liebe zweier Menschen. Er erzählt vom Versuch des Zusammenhaltens gegen alle Widerstände, vom Auflehnen gegen das Vorgelebte, von den Katastrophen der Gegenwart, den ideologischen und politischen Verwerfungen des Zeitgeists und den gesellschaftlichen Missständen; von den Zwängen, den klaffenden Lücken im Alltag psychisch erkrankter Menschen und dem drohenden tiefen Fall in die Verzweiflung. Dies ist Damghanis zweite Arbeit am Leipziger Schauspiel nach dem mit Eidin Jalali entwickelten Monolog "Die Leiden des jungen Azzlacks", für den dieser zeitgleich zur Uraufführung hier in Leipzig in Düsseldorf den Deutschen Theaterpreis DER FAUST in der Kategorie "Darsteller:in Theater für junges Publikum" verliehen bekommt.
Anouk ist krank. Sie leidet unter einer depressiven Episode mittleren Grades. Die Diagnose präsentiert sie freudig, Adofa kommt da gerade aus der Dusche. Endlich kann sie etwas tun, hat Worte, eine Bestätigung für das eigene Unwohlsein, die Qualen, das Leid. Was sie aber nicht findet, ist ein Therapieplatz. Und die erschöpfende Suche bringt nur Absagemails, die das Postfach verstopfen. Anouk ist so verzweifelt, dass sie sogar die vierte Wand durchbricht und ins Publikum spricht: Ist hier ein:e Therapeut:in?
Ob Sprechen hilft?
Sie taumelt, Adofa hält sie. Obwohl er gerade erst seine Mutter verloren hat. Deswegen meint sie, er solle ebenfalls zur Therapie. Doch Adofa kümmert sich lieber um sie als um sich, bis es aus ihm herausbricht: nachts, in der Küche, nachdem er ein Glas zerbricht – er zittert. Anouk hingegen hat mittlerweile einen Therapieplatz bekommen. Da regnet es goldenes Konfetti auf der Bühne. Es scheint bergauf zu gehen.
Es ist auch sehr schön, den beiden zuzusehen, wie sie gut zueinander sind – und wunderbar erheiternd, selbst wenn sie nur die ganze Zeit im Bett liegen und kiffen. Doch dort ist ein Riss, der größer wird mit der Zeit. Dort, wo die Pathologisierung Einzug in die Sprache der beiden hält, beginnt das Liebesidyll zu bröckeln. Bis es zum großen Bruch kommt. Das ist ein gelungener Kommentar auf zeitgenössische Narrative, der es schafft, Errungenschaften wie Awareness, Self-Care und Care-Arbeit zu verankern, ohne sie verächtlich zu machen, und der doch auf Probleme verweist, die Menschen miteinander haben, wenn sie zusammenleben wollen und darüber sprechen. Ob dies hilft, bleibt offen.
Anouk & Adofa
Uraufführung
von Marco Damghani
Regie: Marco Damghani, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Ragna Hemmersbach, Musik: Lennard Eggers, Dramaturgie: Georg Mellert, Licht: Sebastian Elster, Ton: Heribert Weitz, Video: Gabriel Arnold, Theaterpädagogische Betreuung: Amelie Gohla, Requisite: Thomas Weinhold, Bühnenbildhospitanz: Hannah Lowe, Kostümhospitanz: Ida Luttkus, Inspizienz: Jens Glanze, Sofflage: Philine von Engelhardt, Regieassistenz: Emily Huber, Bühnenbild- und Kostümassistenz: Arabella Marsh-Hilfiker, Maske: Anja Engert, Bühnenmeister: Mattheo Fehse.
Mit: Paulina Bittner, Patrick Isermeyer.
Premiere am 26. November 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Kritikenrundschau
Marco Damghani schreibe "großartige Dialoge", urteilt Dimo Rieß in der Leipziger Volkszeitung (28.11.22, €). Und als Regisseur komme er "ohne Symbolismus-Hammer" oder "artifizielle Ästhetik-Spielereien" aus. Ihm gelinge ein "wunderbar geradliniger Zugriff, mit Tiefenblick in die Figuren-Psychologie und ihre Verstrickungen in gesellschaftzliche Erwartungen", resümiert der Kritiker. Kurzum: "Ein großer Abend im kleinen Saal“.
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