Wer seid ihr - Landesbühnen Sachsen
Die nicht wissen, worauf sie zusteuern
von Michael Bartsch
Radebeul, 26. April 2019. Dem Volk, dem motzend-unberechenbaren, schaut man am besten in der Kneipe aufs Maul. Oder legt ihm als Autor in den Volksmund, was man meint, dass es zu sagen wünsche. In die Studiobühne der Landesbühnen Sachsen am Stammhaus in Radebeul ist ein Bierzelt hineingebaut, reisefähig, denn man will mit Oliver Bukowskis "Wer seid Ihr" nicht nur durch real existierende Kneipen ziehen, sondern bei Bedarf dieselbe gleich mitbringen.
Geisterbeschwörung Ost
Ein probates Mittel, wenige Wochen zuvor war bereits das Kleine Haus des Dresdner Staatsschauspiels für Dirk Lauckes Stück Früher war alles mit originalen Freitaler Bürgern zum Bierzelt umgerüstet worden. Platz gibt es in Radebeul für nur etwa 6o Besucher an Biertischgarnituren. Dafür werden sie von Wirtin und Mutter Renate alias Anke Teickner am Tresen persönlich angesprochen und zu einem Fläschchen Bier im DDR-Drittelliterformat eingeladen.
Bei Bukowski geraten nicht die durstigen Zufalls- oder Stammgäste aneinander, sondern die Familie, die diesen Zentralort niedrigschwelliger Kommunikation betreibt und im angrenzenden Häuschen wohnt. Zu lange, eine geschlagene halbe Stunde der insgesamt nur etwa 80 Minuten Spielzeit, sieht es nach dem üblichen Generationenzoff aus. Tochter Lisa, immerhin auch schon 35, ist das Enfant Terrible in der Wirtsfamilie Heuser (zufällig heißt Michael Heuser als Vater Martin wirklich so). Hier herrscht proletarische Direktheit der Sprache, ein derber Humor, wie er schon fast als eine Geisterbeschwörung Ost erscheint.
Langer Anlauf
Tochter Lisa wird von Fred Vögli, ihrem aus der Schweiz stammenden Möchtegern-Lover, zu Hause irgendwo in Sachsen "eingeliefert". In Berlin war sie bei einem ihrer Tänze, bänderschwingend und an roten Ampeln haltende Autofahrer zu einem Bakschisch provozierend, erschöpft zusammengebrochen. Man erfährt, dass sie irgendeinen Blog betreibt, erlebt Lisa hochempfindlich, schnell aufbrausend, rigoros als "Miss Gnadenlos", wie Fred sie bezeichnet. Ihre schwarze Pudelmütze lässt linke Affinitäten zunächst nur vermuten. Aus der Art geschlagen, begegnet der in ihrem vorläufigen Rollstuhl Sitzenden doch ein gewisser Respekt in dieser heterogenen, eher dem weißen Tischtuch als der Barrikade verpflichteten Familie. Mutter Renate kann gar nicht anders, als ihr Kind unverändert zu lieben.
Dieser halbstündige Anlauf, der beim vorab informierten Zuschauer schon Ungeduld auslöst, mag dramaturgisch mit einer Ökonomie der kalkulierten Eskalation erklärt werden. Denn plötzlich, beim Frühstück nach geglücktem Integrationssaufen mit dem jungen Schweizer Fremdling Fred, kracht es nachhaltig. Lisa erfährt, dass Eltern und Onkel bei einer dieser "Demos" waren. Einer, bei der "Aufhängen" gegenüber Politikern und "Absaufen" gegenüber Flüchtlingen gerufen wird. "Bei vollem Bewusstsein", unterstellt Lisa und stellt schockiert ihren Verwandten die titelgebende Frage "Wer seid ihr?".
Doch Bukowski wäre nicht Bukowski und das Stück keinen Theaterabend wert, wenn es bei dieser plakativen Konfrontation bliebe. Es zeigt sich, dass die Motive dieser bieder-hausbackenen, aber keineswegs doofen Familie Heuser so vielschichtig liegen, dass sie Anerkennung und Widmung verdienen. So, wie auch Lisa im packenden Spiel von Sophie Lüpfert gleichermaßen als überzeugte Kämpferin gegen "knuffige Nazis" wie auch verletzbare Tochter erscheint. Unerwartet zieht sie sogar ein Dirndl an, um im deutschtümelnden Milieu das Geschäft hinter dem Tresen zu unterstützen.
Wer ist ein "Nazi"?
Diese Heusers neigen ohnehin schon zur Hysterie, aber die fünf Spieler, samt Regisseur Tom Quaas, selbst ein bekannter Schauspieler, fordern sich und die Zuschauer mit vehementem, leidenschaftlichem Einsatz zusätzlich heraus. Geschickt verteilt der Autor mögliche Argumente und bietet damit Anknüpfungspunkte für jedermann an den geplanten Spielorten draußen. In einem langen Dialog mit Fred, den Moritz Gabriel gleichermaßen als Freund und Widerpart Lisas spielt, geht es auch gegen die selbstgefälligen und immerkorrekten "neulinken Snobs". Aber wer ist ein "Nazi"? Onkel Ralf, der "Ralle" im Bademantel, war einst fleißiger Altpapiersammler in der DDR-Schule, dann nach einem erschütternden KZ-Besuch freiwilliger SED-Kandidat, ja Stasi-IM. Ihm ist das Wertesystem abhanden gekommen, er will nach der "Roten Scheiße" nicht schon wieder indoktriniert werden. Matthias Henkel schwingt sich in so authentischer Weise zur dominanten Figur auf, dass man meint, er spiele nicht nur. Vater Heuser erscheint als der schwankende, von der allgemeinen "Verblödung" überforderte Pragmatiker.
Aufhängen, Absaufen, Totschlagen
Er sieht allerdings die Gefahr voraus, die Lisas fortgesetzte Anwesenheit als Bloggerin "Zecke" mit sich bringt. Das Gleichgewicht der Argumente, die demonstrierte Meinungsfreiheit, kippt tatsächlich in ein Menetekel, in die Warnung vor den Konsequenzen des ganz normalen Rechtsseins. Ein Nazi-Brandanschlag vernichtet Haus und Gartenkneipe, Lisa wird am Ende totgeprügelt. Drastischer und eindeutiger geht es kaum. Das Schlitzohr Bukowksi löst das Unfassbare zwar scheinbar im unverbindlichen Epilog einer Fernsehshow mit den Akteuren auf. Es folgt aber ein langes Black, ehe nach gefühlt einer halben Minute Stille eine erste Hand vorsichtig Beifall wagt.
Wer seid ihr
von Oliver Bukowski
Uraufführung
Regie: Tom Quaas, Ausstattung: Tom Böhm, Dramaturgie: Judith Zieprig.
Mit: Sophie Lüpfert, Anke Teickner, Michael Heuser, Matthias Henkel, Moritz Gabriel.
Premiere am 26. April 2019
Dauer: 1 Stunde und 20 Minuten, keine Pause
www.landesbuehnen-sachsen.de
Kritikenrundschau
Man könne Oliver Bukowskis Stück auch eine Familienaufstellung nennen, findet Ute Grundmann in der Deutschen Bühne (27.4.2019): "Da die Rechten, dort die Linke, und dazwischen Lisas Freund Fred, als 'neutraler' Schweizer quasi der Schiedsrichter, was aber nicht ganz funktioniert." Ein bisschen Ost-Häme könne sich der in Cottbus geborene Autor nicht verkneifen - entbehrlich, findet Grundmann. Zudem packe Bukowski fast zu viel in sein Drama hinein, "aber zum Glück verfallen weder Regisseur Tom Quaas noch die ausgezeichneten Darsteller in die Klischees, die das Stück auch ausstellt."
Man sitze vertraulich eng auf Klappbänken an Klapptischen, schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neusten Nachrichten (29.4.2019). Für Gemütlichkeit oder Party sei allerdings kein Platz, Quaas habe "eine Art episches Theater inszeniert, gewissermaßen mehrfach verfremdet, in dem nicht klar wird, auf welcher Ebene zwischen vermeintlicher theatraler Fiktion und Fake News es 'eigentlich' spielt." Zudem sei in all den Auseinandersetzungen auf der Bühne, "so glaubhaft sie in ihrer Leidenschaftlichkeit geführt werden", "nichts, was man nicht schon allzu häufig gehört und gesehen hätte."
"Die Sprache ist bissig, bodenständig, zupackend, witzig und dialektgefärbt", notiert Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (29.4.2019). Bukowskis Herz schlage für die "sozial Schwachen und Abgehängten", für "die Ostler und ihre brachliegenden Talente." Tom Quaas' Inszenierung sei temporeich und beziehe das Publikum hautnah ein.
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