Toxic Boy meets Love Interest

11. Februar 2024. Goethes "Werther" – 250 Jahre alt, ist nun wirklich mal ein kanonischer Text. Zum Jubiläum gönnt Swaantje Lena Kleff dem liebesleidenden Individuum eine Mehrfachbesetzung. Und legt die problematischen Seiten des Lebensunlustdramas frei, elegant in Originalzitaten. Ein Fest!

Von Jorinde Minna Markert

"Die Leiden des jungen Werter" von Swaantje Lena Kleff am Nationaltheater Weimar © Candy Welz

11. Februar 2024. Ok, das wird Fun – weiß man schon, wenn Nadja Robiné und Nahuel Häfliger als cringiges, Pailletten-glitzerndes Talk-Team das ausgesprochen folgsame Publikum zur "250 Jahre Werther"-Show begrüßen. Und direkt die erste von vielen großartigen Pop Darbietungen des Abends hinlegen ("Because" von den Beatles), gefolgt von einem typisch auf lustig gescripteten Dialog in Alman-Fernsehen-Manier: "250 Jahre, Mensch, Bert! So eine lange Zeit! Kannst du das glauben, Bert?" – "Ach Charly, wenn ich dich anschaue, dann schon." Den ersten Hüstelnden, die das nicht mögen, was man heute aus Klassikern macht, wird klar, was ihnen hier heute dräut im Nationaltheater Weimar.

Trio mit Originalzitaten

Es wird dann aber originalhaltiger als vermutet, denn die Hosts Charly und Bert rufen den ersten Show-Gast auf die Bühne: "Weeeeeeer-ther!". Er erscheint unter Applaus, zu dem das Publikum per Screenanzeige aufgefordert wird. Und – Surprise! – er erscheint gleich dreifach. Anhand des fulminanten Kostümbilds von Anne Horny kann man sie einfach mal Friesennerz-Werther, Tütü-Werther und Barock-Werther nennen (Calvin-Noel Auer, Marcus Horn, Fabian Hagen).

"Hey sag mal, wie geht’s dir denn?", fragt einer der Talkmaster. Die drei Werthers berichten in Goethe’schem O-Ton von der herrlichen Landschaft um Wahlheim und der süßen Einsamkeit – wir sind jetzt also am Anfang der Story. Und springen direkt zur Ballszene. Der zweite Gast des Abends, "Looooooooo-tte!", wird herein gebeten (Raika Nicolai). Die drei Werthers fordern sie zum Tanz auf, stoßen sich gegenseitig Ellenbogen in die Rippen, werfen sich warnende Blicke zu von wegen "Be cool, bro! Be cool!" und demonstrieren damit die Spielereien, die eine Mehrfachbesetzung reizvoll macht.

werther 3 foto candy welzDreimal Werther, mit Assistent und Lotte: Fabian Hagen, Calvin-Noel Auer, Marcus Horn, Nahuel Häfliger, Raika Nicolai © Candy Welz

Der um sich selbst wuselnde, mit sich selbst faselnde Werther ist aber auch ein Bild für die Tragik der Figur, die letztendlich ja allein da steht. Swaantje Lena Kleffs Inszenierung ist allerdings nicht sonderlich an diesem Dilemma interessiert. Das Stück folgt zwar pflichtbewusst in einer Art Best-of-Montage dem Plot, nimmt die essenziellen Szenen durch (Lotte schneidet das Brot undsoweiter), gibt Raum für die Entfaltung der Dreiecks-Problematik. Aber immer präsent ist eine Ironisierung, eine Lücke, ach diese Lücke. In einer Szene zerreißen die Werthers in einem Anfall aus Verzweiflung zum Beispiel lauter gelbe Reclam-Ausgaben.

Pop-Motiv und kanonisches Produkt

Werther wird hier weniger als das Individuum thematisiert, das die unerträgliche Lücke zwischen sich und der bürgerlichen Existenz oder zwischen sich und der Existenz per se mit einer Liebes-Imagination füllt. Als toxischer Boy wird er enthüllt, hauptsächlich steht hier aber ein Werther als kanonisches, recyclebares Produkt, als Pop-Motiv, als Jubiläums-Anlass. Dass der Name seines Schöpfers in der Gegend um das Theater herum vom Café bis zum Stadtbus überall prangt, unterstreicht das bestens.

werther 1 foto candy welz"Seid Ihr alle da?! Nadja Robiné und Nahuel Häfliger, die als Charly und Bert durch die Show führen © Candy Welz

Im Laufe der Show springen das Moderationsteam und ein Produktionsassistent für alle möglichen, vor allem aber für alle unmöglichen Rollen ein. Moderator Bert gibt einen lässigen Alphatier-Albert, ebenso ein liebestrunkenes Karnickel auf der Lichtung. Moderatorin Charly überzeugt durch ein Gesangs-Duett mit Lotte sowie mit mehreren sehr schönen Darbietungen von Wald-Vögelchen. In den Schatten stellen kann das nur noch der Auftritt des Produktionassistenten (Janus Torp) in einem naturalistischen Sandwich-Kostüm, in dem er den Hauptsponsor des Abends introducen darf – "Das Brot! Schmeckt und macht satt!". Im Sinne des Product Placements hat Lotte die Sandwichsscheiben auch öfter mal in Szenen oder schlenkert sie in der Plastikverpackung herum.

Performance von Männlichkeit

In diesen Ironisierungen, vor allem auch in den Spielweisen der Werther-Darsteller, zeigt sich, welche Haltung die Inszenierung zu ihrem Protagonisten einnimmt. Das wird nicht nervig veroffensichtlicht, sondern oft geschickt im Originaltext serviert – den man ja nicht mal viel drehen und wenden muss, um darin eine aus heutiger Sicht problematische und äußerst narzisstische Konzipierung von Love und Gleichführung mit Love Addiction zu finden. Hau-drauf-Deutlichkeit erlaubt die Inszenierung sich erst in der Schlussszene, wenn der Produktionsassistent, der schon die ganze Zeit auch mal Werther spielen wollte, sich das T-Shirt vom Körper reißt, es ins Publikum schmeißt, die nackte Brust von Bühnenregen und Scheinwerferlicht begießen lässt und Werthers Abschiedsworte ins Mikro brüllt, wie nicht mal der Sänger von Nickelback es besser also männlicher könnte.

Auf Werthers Seite ist man aber trotzdem ab und an, weil die drei Schauspieler ihn so herrlich und verschieden erschaffen und weil er diese Wahnsinns-Outfits anhat. Und immer dann, wenn die Pop-Musik spricht, wenn so schöne, andächtige musikalische Verschnaufpausen entstehen und Tütü-Werther (Fabian Hagen) eine Schnulze von Danger Dan singt: "Ich hab 'ne gute Nachricht und 'ne schlechte auch / Zuerst die schlechte: Wir zerfall'n zu Staub / Wir werden zu Asche, kehren in das Nichts / Zurück, aus dem wir alle einst gekommen sind / Und jetzt die gute: Heute nicht / Es bleibt noch Zeit für dich und mich."

Würde ein heutiger Werther es so ausdrücken – Staub? Die Frage, wie sein grundsätzliches Uneinverstandensein mit der Existenz, das sich in einer gescheiterten romantischen Fixierung enthüllt, heute erzählbar ist oder welche Haltung die beiden Lottes dazu hatten, die fiktive und ihre historische Vorlage – viele Fragen hätte diese Inszenierung vertiefen können. Andererseits war sie ja als Party gedacht, 250 Jahre und so weiter. Und eine Party war es! Schmeckt und macht satt.

 

Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Swaantje Lena Kleff, Bühne: Philip Rubner, Kostüm: Anne Horny, Musik: Ludwig Peter Müller, Choreografie: Romina Geppert, Licht: Andreas Heptner, Dramaturgie: Beate Seidel / Eva Bormann.
Mit: Fabian Hagen, Marcus Horn, Calvin-Noel Auer, Raika Nicolai, Janus Torp, Nadja Robiné, Nahuel Häfliger, Sebastian Kowski.
Premiere am 10. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

"Punktlandung in Weimar", bemerkt Wolfgang Schilling beim MDR (11.2.2024). Der Regisseurin und ihrem Ensemble gelinge es, Goethe "auf wundervoll verrückte Weise ins Heute zu übersetzen". Von der "überkandidelten Personnage" spielerisch in Szene gesetzt, gewinne der Originaltext Klarheit; er werde, "gerade wegen der verrückten Projektionsfläche, umso verständlicher". Offensichtlich inspiriert sei die Inszenierung von der zeitgenössischen Leipziger Buchmesse (dort war vor 250 Jahren der "Werther" erschienen und sogleich zum Bestseller avanciert): So mancher historische Roman werde dort als Graphic Novel angeboten, und die jungen Leser*innen zögen "als wilde Cosplay-Horde durch die heiligen Hallen". Kurz: "Kulturgenuss auf neue Art."

Viel Political Correctness ließen die Angestellten der Weimarer "W250-GmbH" Charly und Bert bei ihrer Begutachtung von Goethes Briefrom walten, schreibt Frank Quilitzsch in der Thüringer Allgemeinen (11.2.2024): "Werther mag ja ein bezauberndes, umweltbewusstes und gesellschaftskritisches Kerlchen sein, doch in der Liebe ist er übergriffig, ein Stürmer und Bedränger. Prompt ergeht eine Triggerwarnung ans Publikum: Vorsicht, männliche Dominanz!" Regisseurin Kleff demontiere die Werther-Figur und bekomme sie am Ende nur mühsam wieder zusammen. "Das ist zuweilen lustig, zumal mit Effekten, englischen Popsongs und Tanzeinlagen nicht gespart wird", doch nahe bringe es einem "diesen leidenschaftlichen Quer- und Sturkopf" nicht. Die Charaktere und Konflikte würden größtenteils an der quietschbunten Oberfläche ausgestellt, es gebe für die "Mimen" kaum etwas zu spielen. Erst im letzten Drittel gewinne die Inszenierung an Intensität und Dichte: "Da gehen Textzeilen von Goethe als melancholisches Lied unter die Haut".

 

Kommentare  
Werther, Weimar: Zukleisternder Zeitgeist
Ich bin einer der zu Aufführungsbeginn Hüstelnden, und ich hüstlele noch immer. Diese Aufführung kleistert jede Möglichkeit zu, einen eigenen Gedanken zu fassen - und zwar mit all den grellen Showeffekten, der Ironie, den Triggerwarnungen, den ungefährlichen, unserem Zeitgeist getreuen Perspektiven. Die Verwendung des Orinigaltexts hilft solange wenig weiter, wie ihm nicht die Gelegenheit gegeben wird, unseren Konsens zu befragen, unseren Horizont zu erweitern.
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