Professor Bernhardi - Landestheater Linz
Falscher Trost
7. Mai 2023. Das alte Stück hat ebenso Konjunktur wie sein Autor: Arthur Schnitzler spielt hier am Fall des jüdischen Klinikarztes Dr. Bernhardi einen Fall von strukturellem Antisemitismus durch (wie man das heute nennen würde). Stephanie Mohr inszeniert es mit vielen Männern in Weiß.
Von Martin Thomas Pesl

7. Mai 2023. Schnitzler zieht. Am Wiener Burgtheater ist Barbara Freys kühle Interpretation seines Ehedramas "Das weite Land" ein Publikumserfolg, auch "Die Ärztin" steht dort auf dem Spielplan, eine zeitgenössische Überschreibung des "Professor Bernhardi". Während einige Häuser im deutschsprachigen Raum das farben- und genderblinde Update für sich entdeckt haben, bleibt das Landestheater Linz derweil noch bei der alten Version.
Das bedeutet, obgleich mit Stephanie Mohr eine Frau inszeniert: Männer. Viele Männer mit hoher Bildung, in Ärztekitteln und Anzügen, die folgenschwere Diskussionen führen und dann anderen vom Verlauf dieser Gespräche berichten. Ideologien werden verhandelt, Strategien gewälzt, Gesinnungen ausgebreitet, Namen gedroppt. Weil ein simpler Vorfall zum Politikum gerät.
Vorwurf: Religionsstörung
Bernhardi, der ärztliche Leiter eines Privatspitals in Wien, verweigert einem katholischen Priester den Zugang zu einer Sepsispatientin. Er will dem sterbenden Mädchen die Illusion nicht rauben, alles sei in Ordnung. Da Bernhardi Jude ist, unterstellen ihm einige Kollegen Religionsstörung. Antisemitismus war schon zu k.u.k.-Zeiten salonfähig: "Professor Bernhardi" wurde 1912 in Berlin uraufgeführt.
Den Hauptunterschied 111 Jahre später bildet wohl der Wegfall des Realismus auf der Bühne. Ein subtiler Soundteppich erinnert an Herzschläge und EKG-Maschinen, leuchtende Großbuchstaben verraten, wo wir uns befinden: im Elisabethinum, so der Name des Spitals. Der Schriftzug fährt anfangs mit dem Vorhang hoch und schwebt fortan über einer leeren Drehbühne mit Büromobiliar und einem Krankenbett, nach der Pause ersetzt durch ein Klavier. Die Diskussionen erfolgen von rollenden Drehstühlen aus. Erhebt sich jemand von seinem, heißt das, dass er sich gerade besonders aufregen muss.
Sarkastisch, emotional, eloquent
In der Titelrolle ist Christian Higer zu sehen. Dem Ensemblemitglied brachte Matthias Ripperts exzessive Inszenierung "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" 2022 die Nominierung für einen Nebenrollen-Nestroy ein, hauptsächlich für die denkwürdige Darstellung eines betrunkenen Militärs, der minutenlang – viele, viele Minuten lang! – erfolglos versucht, einen Witz zu erzählen. Die Premiere wurde von Publikum und Kritik in Linz so vehement abgelehnt, dass sich vor weiteren Vorstellungen die Schauspielleitung bei den anwesenden Zuschauer*innen für ihren Mut bedankte.
Dies sei erwähnt, weil hier sozusagen das krasse Gegenteil vorliegt. Stephanie Mohrs Schnitzler-Aufführung ist zwar auch sehr lang, von Regieexzess oder Empörung kann aber keine Rede sein. Higer ist ein charismatischer, wenn auch nicht unbedingt sympathischer Bernhardi, sarkastisch, eloquent und im richtigen Moment auch emotional, vor allem, wenn man ihm streitig machen will, was er genau weiß: dass er korrekt gehandelt hat.
Männer in Uniform: Das Kollegium im Elisabethinum © Petra Moser
Auch die siebzehn übrigen Männer agieren sauber, wach, den Argumenten ihrer Figuren treu. Hervorheben ließe sich Benedikt Steiner, der das komische Potenzial des Medizinstudenten und in alle Abteilungen seine Nase reinsteckenden Superstrebers Hochroitzpointer pointiert ausschöpft (passenderweise darf er am Ende auch noch den Amtsdiener des Unterrichtsministers spielen). Die einzige Frau auf der Bühne ist Gunda Schanderer, die als Krankenschwester Ludmilla eigentlich nach dem ersten von fünf Akten nach Hause gehen könnte, danach aber noch mit blutbesudeltem Schoße in der Rolle der verstorbenen Patientin mahnend im Hintergrund umherstreifen darf.
Großartig und schwer auszuhalten
Von diesem Einfall und behutsam gestreuten Massenchoreografien abgesehen betreibt die Regisseurin Schauspielführung und weiter nichts. Muss sie auch nicht: Das Stück läuft wie geschmiert dank seiner Dialoge und glühenden Reden. Dass es Aktualität besitzt, wenn Wahrheit und Wissenschaft auf Wehleidigkeit und Winkelzüge stoßen, wird niemand bestreiten. Die turbulente Direktoriumssitzung im dritten Akt, an deren Ende Bernhardi die Leitung des Instituts hinschmeißt, ist und bleibt in ihrer Lebensechtheit so schwer auszuhalten wie großartig: rote Köpfe, verbissen in ihren jeweiligen Standpunkten, und am Kopfende des Tisches einer, der wacker darum ringt, dass die Tagesordnung eingehalten wird.
Wo der Antisemitismus noch hinführen würde, konnte Dr. Schnitzler damals kaum ahnen. Vielleicht findet deshalb seine Komödie, anders als "Die Ärztin", kein kathartisches Ende, stattdessen scheint die Auseinandersetzung der Rechthaber ewig weiterzugehen. Das Publikum, derart in seltsam falschem Trost gewogen, jubelt. Schnitzler zieht.
Professor Bernhardi
von Arthur Schnitzler
Inszenierung: Stephanie Mohr, Bühne: Florian Parbs, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Wolfgang Schlögl, Dramaturgie: Andreas Erdmann
Mit: Jan Nikolaus Cerha, Helmuth Häusler, Alexander Hetterle, Horst Heiss, Christian Higer, Jakob Kajetan Hofbauer, Sebastian Hufschmidt, Daniel Klausner, Patrick Ljuboja, Alexander Julian Meile, Klaus Müller-Beck, Markus Ransmayr, Gunda Schanderer, Julian Sigl, Kaspar Simonischek, Benedikt Steiner, Christian Taubenheim, Nils Thomas, Lutz Zeidler
Premiere am 6. Mai 2023
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause
www.landestheater-linz.at
Kritkenrundschau
"Eine Arbeit, die Schnitzlers Text erfreulich ernst nimmt und nur minimal adaptiert", sah Thomas Kramar für Die Presse (8.5.2023): Fast alle Darsteller:innen zeichneten, "wie dieses subtile Spiel es will, Charaktere statt Typen. Die manchmal auch komisch sein dürfen." Christian Higer sei "ein wunderbar facettenreicher, reflektierter Professor Bernhardi mit tiefen Stirnfalten und viel melancholischer Ironie." "Wolfgang Schlögls still dräuende, oft pulsierende Musik trägt zur packenden Atmosphäre bei."
"Der Regisseurin gelingt hier ein subtiles Panorama einer mit allen Mustern von Verschlagenheit, Ressentiment und Überheblichkeit ausgestatteten, aber letztlich destruktiven, im Nichts endenden (männlichen) 'Streitkultur'. Und das ist wiederum eine ziemlich punktgenaue Analyse unserer (welt)politischen Gegenwart", schreibt Margarete Affenzeller im Standard (11.5.2023).
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