Als das System Rache abgelöst wurde

19. November 2023. Mord kommt auf der Bühne entschieden besser als eine Gerichtsverhandlung. Ein Grund, warum der dritte Teil von Aischylos' Orest-Trilogie, die "Eumeniden", oft als weniger bühnentauglich eingestuft wird. Carl Philip von Maldeghem tritt den Gegenbeweis an – und das Publikum hilft mit.

Von Reinhard Kriechbaum

"Die Erfindung der Demokratie" am Salzburger Landestheater © Christian Krautzberger

19. November 2023. "Schwierig", seufzt Pallas Athene lapidar. Sie, die Rechts-Schutzgöttin, hat unversöhnliche Parteien vor sich. Die Erinnyen, die Rachegöttinnen, fordern härteste Bestrafung von Orest, der seine Mutter getötet hat. Geht nach ihrem Naturgesetz gar nicht. Die Götter, die sich oft genug einmischen in die Aktionen der Griechenhelden, stehen für eine andere Rechtsauffassung. Apoll selbst hat Orest zum Mord an Klytaimnestra (die ihrerseits ihren Ehemann Agamemnon auf dem Gewissen hatte) angeleitet. Wem nun Recht geben? 

Nah an der Gegenwart

Pallas Athene setzt auf den denkbar breitest aufgestellten Senat, die Bevölkerung der Stadt Athen. Die liefert ein Fifty-fifty-Ergebnis. Orest geht frei. Aber wie es halt so ist in einer Demokratie, geifern nun jene, die sich nicht durchgesetzt haben. Die Erinnyen wünschen den Athenern die Pest und anderes Verderbnis. Es bedarf gefinkelter Überredungskunst und individueller Einsicht, bis sich die Rachegöttinnen in Wohlmeinende/Eumeniden wandeln. Womit exemplarisch ein ziemlich reifer Standard von demokratischer Akzeptanz vorgezeichnet ist.

Ein zeitloses Polit-Lehrstück also, dem John von Düffel eine unaffektierte Sprachfassung ohne verkrampfte Modernisierungen oder Aktualisierungen gegeben hat. So nah an Aischylos wie an unserer Gegenwart. Die Theaterbesucher sind als Athener gefragt, dürfen in der Pause mit Jetons abstimmen. Aber weil wir in Ur-Zeiten der Demokratie sind, ist da nichts mit Wahlgeheimnis. Das Publikum ist gebeten, sein Votum auch mit einer schwarzen oder weißen Plakette am Sakko, Kleid oder Pullover kenntlich zu machen. Für Pausen-Diskussionsstoff ist damit gesorgt.

Matthias Hermann, Larissa Enzi, Tina Eberhardt, Sarah ZaharanskiAlles Verhandlungssache: Matthias Hermann, Larissa Enzi, Tina Eberhardt, Sarah Zaharanski © Christian Krautzberger

Carl Philip von Maldeghem hat mit einer temporeichen Inszenierung dem sperrigen Stoff auf die Sprünge geholfen. Der Abend ist mit anderthalb Stunden inklusive Pause kurz und dürfte auch nicht länger sein. Maximilian Paier als Orest, noch mit Blut am weißen Hemd, ist ein Getriebener mit smarten Beschützern: Apollon (Matthias Hermann) könnte man sich gut als Yuppie-Strafverteidiger im Gerichtssaal vorstellen. Und auch Athene (Nikola Jaritz-Rudle), jung und im eleganten weißen Hosenanzug, steht für die neue Rechtsordnung. Die drei Erinnyen (Sarah Zaharanski, Larissa Enzi, Tina Eberhardt) sind unaffektiert gekleidet, schwarze Hosen, ein bisserl angeschmiert auf Oberarmen und in den Gesichtern.

Minimalausstattung auf der Bühne

Eine nette multiple Rolle hat Georg Clementi: Im Gerichtssaal hält er die Streithansln auseinander, er erklärt dem Publikum die Abstimmungsmodalitäten und verkündet das Ergebnis. Das ist übrigens am Premierenabend beinah so ausgegangen wie bei Aischylos im fünften vorchristlichen Jahrhundert: 172 hielten Orest für schuldig, 180 plädierten für Freispruch. Es gab massig Enthaltungen, so schlecht besucht war die Premiere nämlich nicht.

Minimalausstattung auf der Bühne: drei halbhohe helle Wände. Der Altar Apolls sieht aus wie ein Lüftungsteil einer Industrieanlage. Im Orchestergraben ein paar Erdhaufen. "Alte Rechte, alte Pflichten aus dem Schoß der Erde", skandieren die Erinnyen. Die zornigen Damen liefern dann eine respektable Schlammschlacht. "Überstimmt, aber nicht gegen euch", versucht Athene zu moderieren, aber die Erinnyen keifen und toben.

Bahnbrechender Übergang

"Wohlwollen, Versöhnung, Erinnerung" – bis diese Ideale auch in der gegnerischen Partei erreicht sind, braucht's einen Läuterungsprozess. Der Übergang vom System Rache zu geregelter, abwägender Meinungs- und Mehrheitsfindung im Jahr 458 vor Christus war nun wirklich bahnbrechend, insofern ist der Stücktitel "Erfindung der Demokratie" zwar wenig sexy, aber korrekt.

Bei Aischylos kommt "Klytaimnestras Schatten" vor. Die Ermordete legt logischerweise größten Wert drauf, nicht vergessen zu werden, sie mahnt im Original Sühne ein. Diese Episode ist umgedeutet, es werden einige kurze Aussagen der deutschen Gedenkkultur-Vorkämpferin Lea Rosh projiziert. Ein unaufdringlicher Bogen zum Heute. Und in Zeiten wie diesen darf in einem Stück über die Demokratie auch nicht fehlen, was uns Athene als Schlusswort mitgibt: "Bleibt wachsam!"

Die Erfindung der Demokratie – Der vergessene Teil der Orestie
Nach Aischylos in einer Fassung von John von Düffel mit Texten von Lea Rosh
Regie: Carl Philip von Maldeghem, Bühne und Kostüme: Eva Musil, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Matthias Hermann, Georg Clementi, Maximilian Paier, Sarah Zaharanski, Larissa Enzi, Tina Eberhardt, Nikola Jaritz-Rudle.
Premiere am 18. November 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, eine Pause

www.salzburger-landestheater.at

 

Kritikenrundschau

Magdalena Pichler in den Salzburger Nachrichten (20.11.2023) gab nur ungern ihre Stimme ab. "Wohl fühlt man sich nicht, das Dilemma ist komplex." Und weiter: "Aber vielleicht geht es weniger darum, wie der Fall gelöst wird, sondern dass am Ende den Verlierern der Abstimmung die Hand gereicht wird. Spaltung, ein Thema, das heute sehr präsent ist, soll verhindert werden." Die Kritikerin lobt die klare Bildsprache und "die eindringlich und intensiv spielenden Schauspielerinnen und Schauspieler".

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