Als die Schläger kamen

7. April 2024. Der Großvater der Autorin eröffnete 1922 in Innsbruck das legendäre Café Schindler. Die Geschäfte liefen gut, doch dann verfolgten die Nazis die jüdische Familie. Am Tiroler Landestheater inszeniert Jessica Glause die biografische Recherche als Heimkehr an den Ort des Verbrechens.

Von Martin Jost

"Café Schindler" in der Regie von Jessica Glause am Landestheater Innsbruck © Birgit Gufler

7. April 2024. Beim Schlussapplaus kommt Meriel Schindler mit dem Regieteam auf die Bühne. Auf stehende Ovationen antwortet sie mit Herz-Händen ins Publikum. Ihre Vorfahren sind im 19. Jahrhundert aus Böhmen nach Innsbruck gezogen. Aus ihrer Saft-, Spirituosen- und Essigfabrik wurde ein stattliches Unternehmen. Großvater Hugo und sein Bruder eröffneten schließlich in der Altstadt in bester Lage ein Kaffeehaus, das legendär wurde. Doch von Anfang an sahen sie sich antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt. Vor dem Nationalsozialismus flüchtete ein Teil der Familie nach England.

"Café Schindler" heißt das Buch, in dem Meriel Schindler die Geschichte ihrer Familie erforscht. Genau wie das Buch nimmt die Bühnenfassung von Jessica Glause und Veronika Maurer ihren Anfang mit dem Tod von Meriels Vater Kurt im Jahr 2017. Kurt hinterlässt Unmengen Papiere und 13 Fotoalben. Meriel Schindler, die als Rechtsanwältin in London lebt, beginnt zu forschen, möchte die Persönlichkeiten auf den alten Fotos kennenlernen, aber auch ihren Vater, mit dem sie zu Lebzeiten keinen vertrauensvollen Umgang fand.

Vergangenheit, die nicht vergehen will

Warum war Kurt so unstet und streitsüchtig und was ist wahr an seinen unglaublichen Erzählungen: dass man mit dem Franz Kafka verwandt sei; dass eine Tante zweiten Grades mit dem Hausarzt des jungen Adolf Hitler verheiratet war; und dass Kurt selbst in den 1950er Jahren den untergetauchten Kriegsverbrecher und ehemaligen Tiroler Gauleiter Franz Hofer aufspürte?

Sieben Meriels stehen anfangs auf der Bühne. Das Ensemble trägt Hosenanzüge aus glänzendem Purpurstoff. Später wird jede*r Schauspieler*in Stellvertreter*in eines weiteren Mitglieds der Familie Schindler. Dazu legen sie Latze an, auf die die passende Hemdbrust, Fliege oder ein Kittel gedruckt sind (Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili). Sara Nunius bleibt als einzige den ganzen Abend Meriel und sagt "ich" – die anderen "Figuren" beschreiben in der dritten Person, behalten die Distanz des Forschungsberichts.

Reise durch die Zeit

Über mehr als ein Jahrhundert, durch verschiedene Staatsverfassungen, durch zwei Weltkriege und die Shoah vollzieht die Autorin ihre Familiengeschichte nach. Die vielen Erzählstränge und Ebenen klar zu gliedern, gelingt ihr im Buch bemerkenswert gut. Genau wie das Kunststück, nah an den Quellen zu berichten und dabei anregend und atmosphärisch zu erzählen.

Anders ist es mit der Übertragung auf die Theaterbühne. Gerade in der ersten Hälfte deklamieren die Schauspieler*innen zuweilen ein historisches Referat. Das abwechselnde, chorische Sprechen beugt Monotonie vor, aber die Aneinanderreihung von Zahlen, Namen und Orten hat bisweilen Vorlesungscharakter.

Auftrag Aufarbeitung: Birgit Gufler uAuftrag Aufarbeitung: Marion Reiser, Philipp Rudig, Cansu Şîya Yıldız, Julia Posch, Sara Nunius, Christoph Kail, Tommy Fischnaller-Wachtler © Birgit Gufler

Auf einer ansonsten leeren, schwarzen Fläche helfen große Requisiten-Kulissen bei der Orientierung: So steht ein riesiger Lüster für die Villa, die die Schindlers sich in Innsbruck bauten und die sich der Gauleiter Hofer unter den Nagel reißt. Eine große Leuchtschrift repräsentiert das Café. Auf projizierten Fotos sehen wir die echten Familienmitglieder.

Eher Kabarett als Lyrik

Ein eigenartiges Stilmittel sind die Songs von Eva Jantschitsch. Die gereimten Texte zu Elektropop sind eher Kabarett als Lyrik. "Einbeinige schlagen Zweibeinige mit ihren Krücken; Arme stoßen Wohlhabende von massiven Brücken", heißt es im Zäsur-Song über den Ersten Weltkrieg und über den Siegeszug des Nationalsozialismus wird gerappt: "Aufstand der defekten Ma-Ma-Maskulinität […] erreicht 'ne neue Qualität". Die Musikeinlagen sind entweder stilistische Fehlgriffe oder als Mittel der Verfremdung gedacht.

Die "Ich-Erzählerin" ist die menschliche, nahbare Figur des Abends. Sie, die erfahrene Anwältin, weist ihrem Vater an einer Stelle eine Unwahrheit nach. Entgegen seinen Erzählungen kann er nicht Augenzeuge gewesen sein, als sein Vater in der Pogromnacht 1938 in der Innsbrucker Wohnung überfallen und beinahe totgeschlagen wurde. Der jugendliche Kurt war nachweislich bei seiner Mutter im Londoner Exil. Hat Kurt bewusst gelogen, oder hat er sich die traumatischen Ereignisse als falsche Erinnerungen angeeignet?

Rückblick mit Schrecken © Birgit Gufler

Im Laufe des Abends enwickelt sich Meriels Beziehung zu Innsbruck. Sie wird einerseits nachsichtiger gegenüber dem Ort, an den ihr Vater die Familie gegen ihren Willen zurückbrachte, als sie ein Teenager war. Andererseits gewinnt die Stadt an Ambiguität: "Den Bozner Platz betrachte ich jetzt auch als den Ort, an dem sich die Schläger […] versammelt haben, bevor sie meinen Großvater überfielen." Schindler liest Innsbruck auch die Leviten bezüglich seiner Erinnerungskultur im öffentlichen Raum.

Und dann sagt Sara Nunius als Meriel diesen letzten Satz: "Am 4. April 2024 – vorgestern – habe ich die Asche meines Vaters auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt. […] Gleich rechts vom Eingang." Auf einmal sind wir im Jetzt angekommen. Die Meriel auf der Bühne ist die Meriel Schindler, die gleich zum Applaus mit auf die Bühne kommt. Mit ihrer Recherche hat sie sich Innsbruck als Heimatstadt erschrieben und die Stadt hat sich in ihr wiedererkannt.

 

Café Schindler
nach Meriel Schindler
Deutsch von Erica Fischer
Bühnenfassung von Jessica Glause und Veronika Maurer
Regie: Jessica Glause, Musik: Eva Jantschitsch, Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili, Dramaturgie: Veronika Maurer und Elisabeth Schack, Lichtdesign: Ralph Kopp, Ton: Marco Divan.
Mit: Tommy Fischnaller-Wachtler, Christoph Kail, Sara Nunius, Julia Posch, Marion Reiser, Philipp Rudig, Cansu Şîya Yıldız.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.landestheater.at

Kritikenrundschau

Regisseurin Jessica Glause reagiere mit maximaler Reduktion auf den wuchernden Stoff, schreibt Ivona Jelcic vom Standard (8.4.2024). "Das wirkt, wenn eingangs zu ins Schwarze projizierten Fotos eine Textlawine anrollt, gewagt, erweist sich auf Strecke aber als das richtige, durch Live-Videos raffiniert unterstützte Konzept." Sara Nunius steche als Erzählerin hervor, Cansu Şîya Yıldız auch als tolle Sängerin. "Eine kollektive Gesangs- und Tanzeinlage gerät jedoch zum Total-Reinfall, den man am liebsten ganz schnell vergessen möchte. Fürs Theater wider das Vergessen gibt es trotzdem verdient viel Applaus."

"Vieles ist eindrücklich an diesem Abend", so Joachim Leitner in der Tiroler Tageszeitung (8.4.2024), der Beginn al- lerdings zäh. Die wichtige Produktion sei "ein Beitrag zur Erinnerungskultur, für die es in Tirol lange reichte, nach Klärung aller Haftungsfragen Plaketten an Wände zu schrauben". Doch das Stück begnüge sich nicht mit Betrof- fenheitstheater. Es suche Wege von vergangenen Verbrechen in die Gegenwart – mit historischen Bildern, zurückhaltendem, aber treffendem Dekor, Songs, die ins Heute reichten.

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