Wilde Schafsjagd

15. Februar 2024. Dieses Familiendrama hat die üblichen Ingredienzien, doch hat Leonora Carrington noch ein paar drauf gepackt: Neben unglücklicher Ehe, plötzlich auftauchender Ex und saufendem Sohn gibt's ein tierisches Wesen, das Unheil anrichtet. Johannes Lepper verpasst dem Stück von 1940 eine rohe Inszenierung.

Von Martin Thomas Pesl

 

"Das Fest des Lamms": Maria Lisa Huber, Nanette Waidmann, Roman Mucha, Nico Raschner © Anja Köhler

15. Februar 2024. Das Programmheft hilft nicht. Meist findet sich da ein "Zum Stück", konsultierbar bei aufkommenden Fragen oder Unaufmerksamkeiten während des Zuschauens. Die Textauswahl im Heft zu "Das Fest des Lamms" von Leonora Carrington am Vorarlberger Landestheater bewegt sich auffällig um den heißen Brei herum. Immerhin ein biografischer Text beschreibt, wie die Verfasserin als junge Frau die Pariser Kunstwelt betörte. Die Rede ist von "einem Abendessen in einem Restaurant, bei dem sie ihre Schuhe auszog, die Beine auf den Tisch legte und mit Senf bestrich." Das kommt der Sache schon näher, die da vor einem bemerkenswert geduldigen, nach zwei Stunden ratlos, aber ausgedehnt applaudierenden Bregenzer Publikum über die Bühne ging. 

Bäääh!

1917 als Britin geboren, starb Carrington 2011 als Mexikanerin. Die bildende Künstlerin lebte kurz mit Max Ernst zusammen, wollte aber nicht als Surrealistin gelabelt werden. Mit 23 schrieb sie auf Französisch "La Fête de l’Agneau", eine Melange aus gepflegter Oscar-Wilde-Salonkomödie, deren Persiflage à la Ionesco und Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater mit einem Hauch Tod-Browning-Horror. Die Liste der Triggerwarnungen, die das Ensemble schon beim Einlass auf den eisernen Vorhang schreibt, ist beträchtlich. Zur Einstimmung erfahren wir, wie das Jacobsschaf auf die britische Insel kam (angeblich auf der spanischen Armada). Schauspielerin Maria Lisa Huber singt zart das "Abendlied", durchbrochen von eigenen Bäääh-Rufen, den ersten, wahrlich nicht den letzten heute. "Bählamms Fest" nannte Olga Neuwirth ihre 1999 verfasste Opernversion des Stoffes, das Libretto stammte von Elfriede Jelinek. 

Familiendrama mit Werwolf

Wenn der Eiserne dann hochgeht, wird dies für fast zwei Stunden der letzte Technikeinsatz gewesen sein. Selbst das Licht verändert sich nicht, auch im Saal bleibt es an. Die Bühne ist leer bis auf einen Stuhl, einen Vorhang, der nie ganz aufgezogen wird, und viel Kreide – sie bezeichnet Orte wie die Bar oder dient der dramatischen Aufwirbelung. Carringtons Szenenanweisungen sind geschrieben, um gesprochen, nicht um umgesetzt zu werden. Genauso handhabt es Regisseur Johannes Lepper in dieser nackten Skizze einer Inszenierung. Wir erfahren etwa von Roman Mucha, dass das Gesicht von Mrs Carnis (Raphael Rubino) "aristokratische Habgier" ausdrückt. Kammerdiener Robert, den er selbst spielt, ist "ein sehr ungepflegter junger Mann, der stinkt wie ein Dachs. Mrs Carnis aber macht sich nichts daraus."

festdeslamms R anjakoehler240595Schaf, Wolf und Kreide: Nico Raschner, Raphael Rubino, Nanette Waidmann © Anja Köhler

Es folgt nun eine Zusammenfassung des Inhalts im Versuch, jegliche Ironie zu unterdrücken, wie ihn auch die Inszenierung wacker – und teils erfolgreich – unternimmt: Bei Carnis herrscht ein rauer Umgangston. Sohn Philip (Nico Raschner) verfällt wegen des erratischen Irrsinns seiner zweiten Frau Theodora dem Ingwerwein. Bei Mutter und Sohn deutlich beliebter ist seine unerwartet zu Besuch kommende Ex Elizabeth (Rebecca Hammermüller). Kurz nachdem der am Landgut beschäftigte Schafshüter Joe Green das zwölfte mysteriös enthauptete Lamm vorbeigebracht hat, fällt er selbst kopflos über die Türschwelle in den Salon. In Akt zwei erfahren wir, dass Theodora manisch Philips Halbbruder Jeremy liebt, einen Werwolf (Nanette Waidmann), den Mrs Carnis offenbar einst von ihrem Hund Henry (ebenfalls Waidmann) empfing. Schließlich richtet Jeremy ein Blutbad unter einer Weihnachten feiernden Schafsherde an, bevor er selbst sich zu Theodoras Unglück in Luft auflöst.

Kontextfrei dargereicht

Lepper lässt das alles wie in einem Versuchslabor so zu, wie es in Heribert Beckers altmodisch knisternder Übersetzung steht: die kruden Sprachbilder ("Ihr Körper ist noch immer so glatt und warm wie ein Drosselei", sagt der Hund zum Frauchen), die häusliche Gewalt (es ist ein Gekreische und Gezerre, niemand respektiert niemanden) und das schrankenlose Pathos. Im Außer-sich-Sein kann vor allem Maria Lisa Huber brillieren, die als Kindfrau Theodora mit großer Lust eine enthemmte Spielweise wiederfindet, wie sie ihr vermutlich mal im Unterricht streng verboten wurde. Rubino kontert immer wieder mit Understatement, fällt aus der Rolle und verbrüdert sich mit dem fassungslosen Publikum. Auch das ist erlaubt (und tut zwischendurch ehrlich gesagt ganz gut).

festdeslamms R anjakoehler240591Ex Elizabeth und Kammerdiener Robert: Rebecca Hammermüller, Roman Mucha © Anja Köhler

Nachhaltige Folgen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft wird diese Wiederentdeckung kaum zeitigen. Dennoch liegt ein besonderes Geschenk in diesem kontextfrei dargereichten Animalium. In einer prekären Welt erinnert Bregenz an eine Zeit, die es vielleicht nie gab: als die Kunst einfach Kunst sein durfte.

Das Fest des Lamms
von Leonora Carrington
Mit einem Prolog von Johannes Lepper
Inszenierung und Bühne: Johannes Lepper, Kostüm: Monika Gebauer, Dramaturgie: Juliane Schotte.
Mit: Rebecca Hammermüller, Maria Lisa Huber, Roman Mucha, Nico Raschner, Raphael Rubino, Nanette Waidmann.
Premiere am 14. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.landestheater.org

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Johannes Lepper und sein Ensemble zeigen jedenfalls ein abgründiges, aberwitziges Schauspielfest", berichtet Julia Nehmiz im Standard (16.2.2024) und lobt das virtuose Spiel des Ensembles. Lepper "pfropft nichts auf die Vorlage drauf. Die fantastischen Welten entstehen im Kopf des Publikums. Leer geräumt die Bühne, nur eine Stange mit Vorhang und ein Stuhl. Keine Lichtstimmungen, keine Requisiten. Nur Sprache und Spiel. Als wär’s ein Stück von Brecht (...)."

"Die schauspielerische Leistung am Premierenabend ist außergewöhnlich", schwärmt Andreas Marte in den Vorarlberger Nachrichten (16.2.2024). "Die Inszenierung von Johannes Lepper selbst ist ein Triumph der Kreativität und des Einfallsreichtums. Ein minimalistisches Bühnenbild, das im Wesentlichen aus einem großen Vorhang besteht, lässt der Vorstellungskraft des Publikums freien Lauf und schafft eine ebenso traumhafte wie intensive Atmosphäre. Kostüme und Requisiten sowie Elemente wie expressive Bewegungen und Choreografien verstärken die surreale Qualität des Stücks und laden die Zuschauer dazu ein, die Grenzen ihrer eigenen Vorstellungskraft zu erweitern."

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