Fremd in Bern

von Charles Linsmayer

Bern, 10. Juni 2008. Schon die Türkontrolle ist anders als sonst: Da sieht man sich wegen des Ausländerausweises, den man mit der Eintrittskarte zusammen ausgehändigt bekam, einer schikanösen Behandlung durch dunkelhäutige Beamte ausgesetzt. Und auch im Innern des Theaters ist alles anders als gewohnt: Da sitzt das Publikum dicht gedrängt auf der Bühne im Scheinwerferlicht und blickt in einen fast leeren Zuschauerraum, der ganz in der Hand einer Gruppe von vorwiegend dunkelhäutigen Männern und Frauen ist, die sich nach Begrüßungsritualen in mehreren Sprachen als in Bern lebende, zumeist seit Jahren eingebürgerte Migranten entpuppen.

Sketches und Satiren

Die aus Afrika, zum Teil auch aus Südamerika stammenden Darsteller imitieren auf der Bühne die Jobs, die für sie an der Tagesordnung sind: Putzen vor allem, aber auch den Minibarservice im Zug. Sie steigern sich in diesen Tätigkeiten in witzige, ballettmässige Slapstick-Nummern hinein und bringen mit einer Reihe von Satiren und Sketches zum Ausdruck, wie sie ihr Zusammenleben mit der Berner Bevölkerung erleben, welche eigenen Vorstellungen sie mitbringen, und wie sich das, was sie Integration nennen, aber nicht eigentlich zu definieren vermögen, ausnehmen könnte.

Es begegnen sich zwei selbstbewusste schwarze Schweizer im Zug, es karikiert ein Viehzuchtminister die Schafe auf den Plakaten einer gewissen Schweizer Partei, verkündet der Ministerpräsident eines afrikanischen Landes in einer pathetischen Rede einen radikalen Boykott gegenüber allen Weißen, jubiliert ein mehrheitlich schwarzer Chor in emphatischer Berner Manier, besingt eine Afrikanerin die Vorzüge der afrikanischen Frau und die Defizite der Bernerin, deren Künste sich bei der Zubereitung von Salat bereits erschöpfen und die ihrem Mann viel zu wenig von jener Zuwendung entgegenbringt, mit der die Afrikanerinnen ihre Partner zu beglücken wissen.

Lockerheit und Spielfreude

Auch wenn der Titel "Charta von Bern" etwas ins Leere greift und der Abend weniger mit Erklärungen und Strategien denn mit humorvoll verpackten alltäglichen Erfahrungen und Beobachtungen aufwartet, und auch wenn Themen wie Fremdenhass und Rassismus gelegentlich allzu sehr verharmlost erscheinen, ist es doch erstaunlich, was Raphael Urweider und Erich Sidler aus den Beteiligten herausgeholt haben, wie locker und spielfreudig das deutsch und französisch radebrechende, ebenso exotisch wie authentisch wirkende Laientheater sich des altehrwürdigen Berner Kunsttempels bemächtigt.

Richtig stimmungsvoll wird es, wenn ein weit oben in eine Fan-Zone des Berner Nationalklubs Young Boys verfrachteter schwarzer Sänger und Musiker die gelegentlich etwas langfädigen Reden der Protagonisten in schwungvolle Musik überführt, und wer das Theatererlebnis als solches höher einschätzt als die gesellschaftspolitische Zielsetzung des Abends, kommt unter anderem bei der umwerfend komischen Kabarett-Nummer auf seine Rechnung, in der, ausgehend vom Berner Bären, zwei weiße einem schwarzen Protagonisten mit Mimik und Pantomime die verschiedenen Schweizer Wappentiere vorführen – alles ursprünglich Jagdopfer der Stadtgründer versteht sich­ – bis sie schließlich zum "Mohrenkopf" im Wappen von Avenches kommen und ihren Gesprächspartner davor warnen, dorthin zu gehen.

Anders als die Vökerverbrüderung der Euro 2008

Es spricht sehr für das Berner Theater und seinen Intendanten Marc Adam, dass sie der lautstarken kommerziell erzeugten Völkerverbrüderung der Fußball-Europameisterschaft eine Produktion gegenübergestellt haben, die die alltägliche Realität in Sachen Integration von Ausländern zeigt, und dass sie die Bühne für einmal einem Teil der Bevölkerung zur Verfügung stellen, der am Theaterleben sonst kaum Anteil nimmt. Es gebe keine Berner Kultur, nur Kultur aus Bern, lautete die Quintessenz des anregenden Theaterabends. Eine Kultur, zu der nicht nur die zu neuer Blüte gelangte Dialektliteratur, sondern auch die spezifischen Äußerungen der in Bern lebenden Menschen fremder Herkunft zu zählen wären.


Charta von Bern
Projekt mit Migranten und anderen Bernern von Erich Sidler und Raphael Urweider
Regie: Raphael Urweider, Erich Sidler.
Mit: Lucas Balogno, Isak Biaas, Souleymane Diallo, Khady Diop, Clovis Inocencio, Florentin Lutz, Chera Mack, Seye Madior, Yenga Mogbaya, Joshua Monten, Pedro Moraes, Aziz Touré, Angel Zulueta, Stefano Wenk.

www.stadttheaterbern.ch

 

Mehr vom Stadttheater Bern: zum Auftakt im vergangenen Oktober inszenierte Erich Sidler, der das Theater seit Beginn der Spielzeit 2007/08 leitet, Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf. Aufmerksamkeit erzeugte auch das Fremde ist nur in der Fremde fremd, eine kleine Leistungsschau zeitgenössischer Schweizer Dramatik. Im Mai 2008 brachte Erik Altorfer das Stück Kaltes Land von Reto Finger zur Schweizer Erstaufführung.



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