Edler Haller, Leuchte aller!

von Daniel Di Falco

Bern, 16. Oktober 2008. Manchmal braucht es einen Kellner, der die ganz große Frage stellt. Die einzige, die noch offen bleiben könnte nach den einhundert Veranstaltungen, mit denen die Stadt in diesem Jahr den 300. Geburtstag Albrecht von Hallers begeht: "Sollte man den kennen?"

Von einem "Genie" und einem "zeitlosen Beispiel" hatte unser Bundesrat Samuel Schmid doch gerade eben gesprochen, von "Weitsicht", "Innovation", "Vernetzung" und von dem staatsklugen Viehseuchenmanagement, das Haller im 18. Jahrhundert eingeführt habe. "Wir ehren einen großen Sohn Berns", sagte der Minister als Ehrengast noch, überbrachte die Geburtstagsglückwünsche der Landesregierung, dann ging der Vorhang auf, und bald kam der Kellner.

Den haben Lukas Bärfuss und Christian Probst auf die Bühne gestellt. "Was soll uns dieser Haller heute?" fragt Regisseur Probst im Programmheft, und eine Antwort darauf mag er selber nicht geben. Tatsächlich interessieren sich heute vor allem die Gelehrten für diesen Gelehrten, der zu seiner Zeit mit seinen Erkenntnissen über die Reizempfänglichkeit des Organismus zwar die Medizin auf den Kopf stellte, zudem die Flora der Schweiz so vollständig etikettierte wie keiner vor ihm und außerdem der erste Schriftsteller in diesem Land war, der auch im Ausland ankam ("Es war eine Zeit, da ein schweizerischer Dichter ein Widerspruch zu sein schien", schrieb Lessing: "Der einzige Haller hob ihn.").

Veritable Hallermaschine

Doch eben: Das war gestern. Dieser Mann wurde als Forscher wie auch als Künstler schnell überholt. Und gerade das steht in merkwürdigem Gegensatz zu all den Jubiläumsritualen, die dem Fall doch noch eine Moral abgewinnen sollen. Haller, so heißt es, habe uns auch noch heute viel zu sagen – was denn und wieso denn genau, wird dann doch nie recht klar.

Das genau ist das Kellnerproblem. Und Bärfuss und Probst denken gar nicht daran, es zu lösen: Ihr Stück widmet diesem Universalgelehrten ein großes Fragezeichen, kein Denkmal. Die Universalgelehrtheit nehmen sie allerdings ernst und verquirlen Botanik mit Politik und Liebeslyrik mit Anatomie. Die beiden haben Hallers gigantischen Nachlass durchschürft (an Briefen allein gibt es 15.000), auf der Suche nach "berührenden Sätzen" und "heißen Konflikten", und haben aus seinen Schriften und aus denen seiner Zeitgenossen eine Textcollage montiert. Besser gesagt: eine Installation für allerlei Originalstimmen, einen Assoziationsapparat – eine veritable Hallermaschine. 

Bedient wird sie von sechs Schauspielern, die in einer zweistündigen Parforcetour dieses Textschwergewicht stemmen: Klaus Knuth, Andri Schenardi, Marcus Signer und – neben diesen Volltönern etwas im Nachteil – Doro Müggler, Ernst Sigrist und Diego Valsecchi. Sie produzieren dabei weder Charaktere noch Handlung, sondern eine Art Text-Hologramm auf der Bühne, in dem Haller selbst spricht und das über ihn spricht: "Edler Haller, hehrer Waller / Ehre Berns und Leuchte aller!" Zu den ironisch gebrochenen Hymnen treten Eindrücke einer rachitischen Kindheit und eines puritanischen Geistes, zudem die Zwischenfragen unseres Kellners und gewisse Zweifel an der Dichtkunst des Großen: "Komm, Doris, komm zu jenen Buchen / Lass uns den stillen Grund besuchen."

Zergliederer des Lebens

Das kann man sich gefallen lassen – und fürchtet bald einen lauwarmen Abend. Tatsächlich kommt die Maschine erst nach etwa einer Stunde auf Touren. Und das liegt wohl daran, dass erst zur Halbzeit ein leibhaftiger Haller auftritt, mit Schlafmütze und einem staubfarbenen Morgenmantel mit Kordeln und Quasten: Immer weiter drängt er sich ins Textgeschehen, als Echo und Einspruch und Antrieb. Außerdem liegt es wohl daran, dass man bis dahin vergeblich auf jenes "Heiße" gewartet hat, das Probst und Bärfuss gesucht haben wollen: auf Stoff, an dem sich etwas entzündet.

Mehr davon liefert jetzt Haller als Forscher: mit seinem obsessiven Interesse am Zerlegen der Welt, am "Zergliedern" des Lebens, wie es einmal heisst, und das kann man wörtlich nehmen, denn das Universalgenie war ein Pionier in Tierversuchen, und seine Laborberichte handeln auch von den Schreien "heftigster Verzweiflung", die die Katzen unter seinem Messer ließen. 

Reise durch die Harnwege

Bärfuss hat seine Lust an der Brisanz also doch nicht verloren. Und dann wird es wirklich ungemütlich, jedenfalls fürs Heimpublikum: Die Textmaschine wirft die Stimmen des patrizischen Bern auf die Bühne, eines Bern, das den in Göttingen und anderswo auf Nobelpreisformat gewachsenen Geist daheim auf Bonsai-Format stutzte und ihn mit dem Amt eines besseren Aufsehers im Rathaus abspeiste. Andererseits zeichnet sie das Bild eines Forschers, der von Ehrgeiz zerfressen war und nichts mehr fürchtete als das Vergessen der Nachwelt.

Bärfuss und Probst lassen ihn genau so sitzen: im Halbdunkeln, verlassen und krank und bloß noch beschäftigt mit der Anatomie seiner selbst – Haller nimmt uns mit auf eine längere Reise durch seine Harnwege: "Eine Sonde liess sich leicht bis zum Blasengrunde einführen, auch konnte man ihr Ende ungehindert in der Blase hin- und herbewegen, so dass feststand, diese sei gross und ohne Steine oder sonstige Hindernisse. In der Harnblase wie in ihrer ganzen Umgebung spürte ich niemals einen Schmerz."

Ein Skandal? Das nicht gerade. Aber jetzt, wo dieser Haller vom Sockel geholt ist, kann man ihn sich wenigstens von nahem ansehen.


Ebenda – Ein Gedächtnistheater
von Lukas Bärfuss und Christian Probst (UA)
Regie: Christian Probst, Dramaturgie: Lukas Bärfuss, Bühne: Christoph Wagenknecht, Musik: Simon Hostettler. Mit: Doro Müggler, Andri Schenardi, Marcus Signer, Ernst C. Sigrist, Diego Valsecchi, Klaus Knuth.

www.stadttheaterbern.ch

 

Von Lukas Bärfuss haben wir außerdem Die Probe (der brave Simon Korach) rezensiert.

Kommentare  
Bärfuss' Ebenda: langweiliger Abend mit tollen Darstellern
Ein unerträglich langweiliger Abend, der aufgrund seines Auftragcharakters die ernsthafte Frage an Herrn Bärfuss stellt, wie viel ein Theater zahlen muß, um vergessenes an die uninteressierte Oberfläche zu bugsieren!!!
Tolle Darsteller als Ersatz immerhin!
Bärfuss' Ebenda: unerträglich
Es ist unerklärlich, was einen Autor wie Bärfuss dazu treibt, eine Betrachtung eines vergessenen Forschers in ein dramatisches Gewand zu kleiden, das dermaßen langweilig und unnütz daher kommt wie dieser Abend.
Schauspieler stemmen, aber beim Stemmen beherrschen Sie immerhin Ihr Handwerk, was man vom Autor nicht behaupten kann, wenn man als kreatives Schreiben die Suche nach dem Konflikt im Menschlichen versteht und nicht bloß eine langweilige Aufzählung historisch Verbürgtem!
Unerträglich!
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