born to shine - Junges Theater Basel
Ich im Netz
von Claude Bühler
Basel, 23. April 2021. TikTok ist nur eine der Berühmtmacher-Maschinen der Weltjugend. Mit der App kann man kurze Clips erstellen und verbreiten. In China sollen 2017 pro Tag durchschnittlich 68 Millionen solcher Videos eingestellt worden sein. Was tut das mit einem, wenn man mit dem Eindruck erwachsen wird, dass die eigene Existenz von der Netzpräsenz abhänge? Dieser Frage ging das junge theater basel nach und erarbeitete mit dem Choreographen Ives Thuwis-De Leeuw und dem Regisseur Sebastian Nübling in acht Probewochen Tanztheater-Szenen. Das Publikum betritt eine düstere Welt aus Ängsten, der Vereinzelung, aber auch des Empowerments.
Intimität mit Millionen Zeug*innen
Berückend und irritierend zugleich: Paare in weißen Lichtspots, verstreut in der schwarzen Szene, umarmen sich in einer elegischen Tanzbewegung immer wieder von neuem. Aber alle halten ein Handy: Keine Umarmung ohne einen Blick danach in das Gagdet, das sie in langsamem Flow von der linken zur rechten Hand wechseln – das außerkörperliche Organ der Selbstvergewisserung, aktiviert im Moment der Hingabe an jemand anderen. Intimität mit potentiell Millionen Zeug*innen. Ältere Besucher*innen erinnert die Szene vielleicht an den Schluss von Fellinis Casanova: Der Selbstdarsteller ist zur Puppe mutiert, im Kreis vor Venedigs Kulisse dreht er seine Tanzkreise, sein Narzissmus hat die finale Form gefunden.
Ob das hier auch so gemeint ist? Als potentielle Gefährdung zweifelsohne. Aber statt Sachverhalte interpretierend fest zu zurren, stellt sie das junge theater basel unkommentiert vor das Publikum. Statt die Kritik über individuelles oder gesellschaftliches Unvermögen zuzuspitzen, stellt sich hier eine Generation vor, die an der aktuellen Formel der vernetzten Welt, "born to shine" (geboren um zu leuchten), ihre Selbstbestimmung erprobt.
Die jungen Leute verausgaben sich im Moloch einer Casting-Show. Alle haben höchstens 15 Sekunden fame, alle sind in der Jury an der Seitenlinie, bevor sie selbst ins Zentrum der Fläche springen. Man ertappt sich dabei, die unterschiedlichen Fertigkeiten zu beurteilen. Das sportive, kompetitive Leistungs-Gezappel zum unbarmherzigen Holzhammerbeat ist die Norm. Aber manche brechen aus. Eine junge Frau zeigt mit ihren langsamen moves mehr Rhythmusgefühl als andere, die noch jeden 16tel-Beat mitmachen. Individualität als USP, als Chance, aufzufallen. Quälend das Bild einer anderen jungen Frau, die mit erhitzten Wangen Rumpf und Glieder drangsaliert.
Intervention der Netz- in der Realwelt
Was zunächst wie eine inszenierte Kapitalismuskritik aussieht, kippt unvermittelt: Die Frau im Off schildert, wie sie scheu, ohne Körpergefühl und Talent in die Tanzschule eingetreten sei, sich dem Drill und der schonungslosen Kritik gestellt habe. Wenn sie dann sagt, dass man sich befreien könne, "wenn man bereit ist, hart zu arbeiten", sieht man in der Vorstellung vielleicht das verkniffene Gesicht eines alten Republikaners vor sich. Aber man begreift auch, dass es den jungen Leuten damit gelingt, die Eindeutigkeit in eine Frage zu wenden, und dass in diesem Generationenbild Fertigrezepte oder das Verharren im Selbstmitleid angezweifelt werden.
Geschickte Umkehrung: Zehn Screens, die, an Sessel montiert, herumgeschoben werden, eröffnen uns nicht die virtuelle Welt, sie zeigen nichts als grell leuchtende Farben oder flirrende Buchstabenreihen. Sie stellen die omnipräsente Intervention der Netzwelt in der Realwelt dar, besonders bedrohlich, wenn sie in einer Frontlinie gegen das Publikum geschoben werden. Mal ziehen sich die Jugendlichen dann den Hoodie über und klüngeln sich in leisem Gespräch zusammen. Mal brechen sie aus in einem wilden Tanzfurioso, während eine Frau im Stechschritt um die Gruppe Runden zieht, wütend aufzählend, was sie alles nervt: Abwertung, Rassismus, Sexismus, Nazis, die heteronormative Gesellschaft oder dass ihr in Konfrontationen manchmal die richtigen Worte fehlen. Ein fulminantes Bild für gerechten Jugendzorn, aber auch dafür, wie invasiv der netzmediale Dauerstreit an den Seelen nagt.
"Ich mag es, dass es nicht um mich geht, sondern um die Gruppe. Ich muss nicht alles allein verantworten. Die Gruppe, das ist kein Hobby, sondern eine Notwendigkeit", sagt eine Frau – und spricht damit das Überlebens-Credo des Abends angesichts netzmedialer Übermacht aus. Diese Gruppe, in der beispielsweise Diversität selbstverständlich scheint, stellt ein Ideal in Bedrängnissen vor. Ihr Tanz, ihre Geschichten und Bekenntnisse berühren, lassen einen nicht los. Die 75 Minuten Spielzeit verfliegen im Nu. Hingehen!
born to shine
Regie & Choreographie: Ives Thuwis-De Leeuw und Sebastian Nübling, Sounds: Lukas Stäuble, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Ursula Leuenberger, Visuals: Robin Nidecker, Dramaturgie: Uwe Heinrich
Von und mit Anna Gerber, Diara Diop, Dilan Graf, Dominik Schüepp, Fátima-Frida Salum Said, Jakob Müller, Jan Dagorov-Grobben, Jelïn Nichele, Kaspar Maier, Lee-Ann Aerni, Lou Haltinner, Paula Krneta und Tim Brügger (Elif Karcı fiel krankheitsbedingt aus)
Koproduktion junges theater basel mit Kaserne Basel, Schauspielhaus Zürich und HELLERAU, dem Europäischen Zentrum der Künste in Dresden
Premiere am 23. April 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten ohne Pause
www.jungestheaterbasel.ch / www.kaserne-basel.ch
"Täglich schreiben alte Menschen Artikel darüber, wie es Jugendlichen momentan geht", schreibt Benjamin von Wyl in der bz Basel (24.4.2021). "In 'born to shine' zeigen es ausnahmsweise junge Menschen selber." Man könne zwar anfangs "schon auf den Gedanken kommen, dass man sich nach so langer Zwangstheaterpause einmal über 80 displayfreie Minuten gefreut hätte", so von Wyl. "Doch diese Sehnsucht des Publikums vergönnen ihm Regisseur Sebastian Nübling und Choreograf Ives Thuwis nicht. Und das ist auch gut so." Denn dass die persönlichen Bekenntnisse der jugendlichen Darsteller*innen über Smartphone-Lautsprecher dringen, sei ja gerade kein Ausdruck von Künstlichkeit. "Die digitalen Geräte sind so normal, dass der Verzicht darauf vielleicht Sehnsucht bedient, aber das Leben verfehlt."
"Was das Publikum aus 'born to shine' mitnimmt, ist ein Eindruck von der analog-virtuell durchtränkten Vielschichtigkeit, in der sich jugendliche Digital Natives bewegen – und behaupten müssen", schreibt Stephan Reuter von der Basler Zeitung (26.4.2021).
Die jungen Darstellerinnern und Darsteller hätten "Lust zu tanzen, Lust sich zu verausgaben und volle Energie auf der Bühne zu liefern", schreibt Elena Stenzel von der Badischen Zeitung (26.4.2021). "In inniger Umarmung mit dem Smartphone, das Smartphone als Teil der menschlichen Beziehungen, ein Paparazzo seiner selbst sein – das Junge Theater Basel tanzt es auf der Bühne vor, doch vielen im Publikum dürfte das nur allzu bekannt vorkommen."
Der Tanztheaterabend überzeuge und berühre, meint Kaa Linder vom SRF (26.4.2021). Sie lobt die starke Ensembleleistung der Tänzer*innen. "Sie zeigen starke und eindringliche Bilder, die von Lebenslust und Zukunftsängsten, von Verletzlichkeit und Selbstbewusstsein erzählen."
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