Andersens Erzählungen - Theater Basel
Plädoyer für die unglücklich Liebenden
von Claude Bühler
Basel, 27. September 2019. Das Theater Basel hat seinen ersten Renner der Saison. Sollte der Geist des dänischen Dichters Hans Christian Andersen über der Großen Bühne geschwebt haben, so dürfte er doppelt beglückt gewesen sein: dass ein Erwachsenen-Publikum seinem Märchen "Die kleine Meerjungfrau" jubelnd stehenden Applaus spendete; dass Autor Jan Dvorak und Regisseur Philipp Stölzl für den eitlen Dichter eine wohlwollende Figurenskizze schufen; dass sie für die unglücklich Liebenden wie ihn mit einem farbenprächtigen und bildgewaltigen Breitleinwand-Theaterspektakel aus Oper, Schauspiel und Tanz ein überwältigendes Plädoyer führten.
Andersens unerwiderte Liebe
Virtuos fügt Dvorak die Geschichten ineinander: Andersens unerwiderte Liebe zu Edvard, dem Sohn seines fast lebenslangen Förderers Jonas Collin, und Andersens Erzählung der kleinen Meerjungfrau, die ihren Prinzen unglücklich liebt. Die Analogie, dass die Meerjungfrau selbstlos und edelmütig liebt und dabei auch eine ewige menschliche Seele erringen will, fügt sich passgenau ins Selbstbild des Dichters, der sich zum Anwalt der Unglücklichen dieser Welt macht und gleichzeitig nachweltlichen Ruhm erstrebt. Um die Identifikation zweifelsfrei ins Bild zu setzen, trägt die Meerjungfrau wie Andersen Zylinder und Gehrock.
In einer Erzählung, in der die Fantasiewelt gleichberechtigt mit der realen alterniert, muss auch die Spannungsdramaturgie "bigger than life" sein. Alles spielt sich in der Nacht vor Edvards Hochzeit mit Henriette Thyberg ab. Andersen platzt bei seiner bürgerlichen Gönnerfamilie herein, wo er für Irritation sorgt. Am großen Tag will man den Mann aus ärmlichen Verhältnissen nicht dabeihaben. Andersen kreiert und inszeniert erzählend sein Märchen. So senken sich immer wieder von oben die prachtvollen Bühnenwelten, das Traumreich des Prinzen, die Unterwasserwelt der Meerhexe etc. in die kalte Biedermeierstube. Andersens Märchenpersonal tanzt und singt bei den Collins. Die Ereignisse spitzen sich in Parallelmontage zu.
Die Bürger und die Lüge
Das Märchen als Türe zu tieferen Wahrheiten: In dieser Nacht fällt Edvard im Liebesrausch nach anfänglicher Abwehr über Andersen her, vollzieht einen angedeuteten Sexualakt. Henriette wird unfreiwillig Zeugin. Sie hatte schon zuvor Andersen auf den Mund geküsst. Wenn am Morgen die Bürgerfamilie auf der Hauptbühne die Hochzeit "hinter sich bringt" (O-Ton Vater Collins), ist sie als Lüge, auch als bürgerliche Fiktion denunziert, die keinen Deut mehr Wahrheitsgehalt beanspruchen kann als Andersens Fantasien, der abseits auf der Nebenbühne mit seinen Märchenwesen singend die Transformation der sterbenden Meerjungfrau zum Luftgeist feiert. "In 300 Jahren bin ich frei. Und Du?", singt die Meerjungfrau zur unglücklichen Henriette.
So wird der Abend auch zum Plädoyer für jene, die nicht ins bürgerliche Mann-Frau-Schema passen. Gebannt lauscht man der Innigkeit von Sopranist Bruno de Sa, wird Zeuge des stummen Schmerzes im Ausdruckstanz von Pauline Briguet, die beide die Meerjungfrau als gesellschaftlich außenstehende Androgyne verkörpern. Sie gehören zu den Glückfällen der Aufführung, ebenso das neue Ensemble-Mitglied, Hauptdarsteller Moritz von Treuenfels: staunenswert, wie er die Widersprüche dieses Kauzes zwischen penetrantem Auftritt und schüchterner Zurücknahme, selbstischem Sendungsbewusstsein und zärtlicher Anteilnahme zu einer jederzeit glaubwürdigen, geschlossenen Figur formt.
Theater der Sinnlichkeit
Eine bunte Unterwasserwelt, an Seilen "schwebende" Meerjungfrauen, eine ausgeklügelte Geschichte, dazu ein Symphonie-Orchester, das das Gemüt mit spätromantischen Klängen oder jenen eines Fantasyfilm-Soundtracks (Komposition: Jherek Bischoff) weichkocht: Philipp Stölzls Theater ist wie bei seiner "Frankenstein"-Inszenierung von 2014 zunächst eines der Unterhaltung, der ausgespielten Emotion, der Eindeutigkeit, der an sich durchschaubaren Mittel – auch wenn er wie im Märchen Figuren wie aus dem Nichts auftreten lässt. Aber auch so kommt er zu sehr differenzierten Aussagen, die über die Gesellschaft von 1831 hinaus weisen und wie selbstverständlich auch für heute gültig wirken. Der Rhythmus der Aufführung ist meisterlich getaktet.
Nur wenige ironische Akzente setzt Stölzl: etwa ein großer, geöffneter Frauenmund mit vollen Lippen. Wie ein Fremdkörper hängt er deutlich erkennbar als Pop-Ikone der sinnlichen Sehnsucht in den Bühnenraum. Er scheint zu fragen, ob es denn Andersen nicht irgendwie auch recht war, sexuelle Begierden nur als Vorstellung zu kennen. Stölzl inszeniert Andersen als glücklichen Mann, der dank seiner Leiden über sich hinauswuchs.
Andersens Erzählungen
von Jan Dvorak (Text) und Jherek Bischoff (Komposition)
Uraufführung/Auftragswerk
Inszenierung: Philipp Stölzl, Bühne: Philipp Stölzl, Heike Vollmer, Kostüme: Kathi Maurer, Choreographie: Sol Bilbao Luciux, Licht: Thomas Kleinstück, Dramaturgie: Julia Fahle, Bettina Fischer, Johanna Mangold.
Mit: Linda Blümchen, Pauline Briguet, Klaus Brömmelmeier, Bruno de Sa, Jasmin Etezadzadeh, Mario Fuchs, Stefanie Knorr, Hyunjai Marco Lee, Ena Pongrac, Rolf Romei, Katharina Marianne Schmidt, Moritz von Treuenfels, Tänzerinnen: Claudio Costandino, Laetitia Aurélie Kohler, Kihako Narisawa, Daniel Staaf, Orchester: Basel Sinfonietta.
Uraufführung am 27. September 2019
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.theater-basel.ch
Mehr Hans Christian Andersen abseits des Kindertheaters: Am Deutschen Theater Berlin inszenierte Bastian Kraft im April 2019 seinen queeren Andersen-Abend Ugly Duckling.
Kritikenrundschau
Ein "großer Coup" sei dem Theater Basel mit dieser Uraufführung in der noch jungen Saison bereits gelungen, meint Gabriela Kägi im SRF1 (28.9.2019). Philipp Stölzl verbinde "Schauspiel, Tanz und Oper so virtuos, dass die Spartengrenzen bisweilen verschwimmen." Jherek Bischoffs Musik erinnere dabei "an grosse Oper, bisweilen auch an grosses Kino", habe aber auch "etwas vom Charme eines Musicals. Kompliziert will sie nicht sein, dafür emotional. Und das gelingt ihr, mit schönen Melodien und eingängigen Leitmotiven."
"Phänomenal" gelinge schon der Einstieg in dieses "märchenhaft mitreißende" Auftragswerk, findet Annette Mahro in der Badischen Zeitung (29.9.2019), in dem "der anreisende Hans Christian Andersen auf seine eigene Figur trifft, das Mädchen mit den Schwefelhölzern." Nach zahlreichen Operninszenierungen ziehe Regisseur Philipp Stölzl diesmal zwar wieder "mehr am schauspielerischen Strang" – der spartenübergreifende Ansatz sei jedoch "kein Lippenbekenntnis", freut sich die Rezensentin.
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