La Regina da Saba − Theater ohne Worte auf dem Julierpass
Am Übergang
von Andreas Klaeui
Bivio, 20. Juli 2010. Höher hinaus geht fast nicht. Auf dem Julierpass zwischen Alpennordseite und Engadin, knapp 2300 Meter ü.M., hat sich das Bündner Origen-Festival sein temporäres Theater gebaut: ein luftiges, dennoch windgeschütztes Bühnenhaus aus weissen Stoffbahnen, mit grandiosen Ausblicken in die wuchtige Gebirgslandschaft.
Hoch ist auch der Besuch, der sich hier angesagt hat: "La Regina da Saba", die Königin von Saba bei ihrem (um im Bild zu bleiben) Gipfeltreffen mit dem König Salomo. Die Geschichte findet sich im Alten Testament: Die Königin von Saba, Königin eines unermesslich reichen Lands im Süden, will Salomo auf die Probe stellen. Sie reist an mit Hunderten Kamelen, Gold, Balsam und schweren Rätseln, die Salomo aber alle zu lösen weiß; sie verlieben sich ineinander.
Auf dem Julier verläuft die Handlung etwas anders: Salomos Herrschaft steht kurz vor dem Ende, ein Seher weist schon darauf hin, sein Staat ist zerrüttet, und die Königin von Saba wird zur Zeugin von Salomos Untergang und der Heraufkunft einer neuen Herrschaft. Ein Staat im Übergang also, wie auch der Pass ein Übergang ist, im konkreten wie in einem metaphorischen Sinn.
Metaphysischer Kulminationspunkt
Zuerst sei der Ort gewesen, sagt Giovanni Netzer, der Gründer und Intendant des Graubündner Festivals, der Julierpass mit seinen "existentiellen Dimensionen", davon ausgehend hätten sie eine Geschichte gesucht, die hierher passt (ohne das Wortspiel jetzt weiter treiben zu wollen). Wo die Wege aus Süden und Norden ineinander übergehen, wo auch metaphysisch ein Kulminationspunkt erreicht ist.
Der aus dem Ort geborenen Geschichte folgt wiederum die Form: Oper geht hier oben nicht - es ist viel zu kalt zum Singen; Sprache geht nicht - die Bise verweht alle Worte; was bleibt, ist die Bewegung. "La Regina da Saba" ist also ein Theater, das ganz ohne Worte auskommt (was auch touristenfreundlich ist, man braucht nicht etwa Rätoromanisch zu verstehen, um folgen zu können), dafür in einer sehr rhetorischen, sehr "beredten" Bewegungssprache stattfindet, die zum Beispiel mühelos eine Palastintrige oder eine Revolution erzählen kann.
Sie bedient sich unterschiedlicher Mittel, choreographischer, pantomimischer, akrobatischer, höfischer, ritueller und komödiantischer, sie entwickelt sich im Lauf des Abends weiter und verändert sich, wird im Maß der umstürzlerischen Tumulte akrobatischer, bleibt aber immer sehr puristisch und erscheint in dieser unausgeschmückten Reduktion und in ihrem archaischen Gestus tatsächlich wie aus der Gebirgslandschaft herausgearbeitet.
Eine Vielzahl dialektischer Spannungen bringt das Bewegungsvokabular zum Schwingen: im Verhältnis zwischen der Weite der Landschaft und der schmalen Bühne, zwischen Außen und Innen, in den Bühnenrahmen gefasster Erzählung und Sichverlieren in der Natur. Mit der einsetzenden Dämmerung verschärfen sich die Kontraste, ausgesetzte Figuren im Halbdunkel spuken wie Irrwische hinter der zeremoniellen Repräsentation im Rampenlicht.
Hoher Anspruch glücklich eingelöst
Giovanni Netzer arbeitet ausgeprägt mit solchen Gegensätzen, mit starken körperlichen Haltungen, mit sich überschneidenden Linien im Raum - mit überwältigendem Elan rast ein Schauspieler von weither auf die Tribüne zu, setzt mit einem sportlichen Sprung auf, nimmt sie sich gleichsam unter die Füsse und erobert sie, wie er kurz darauf Salomos Thron erobern wird.
Und es ist ganz gewiss nicht zuletzt diese Spannung, aus der der Abend viel Energie bezieht: nämlich zwischen uralter Geschichte und einem blutjungen Ensemble, das sich fast ausschliesslich aus Studierenden der Zürcher und der Berner Hochschulen und der Scuola Dimitri zusammensetzt und das der metaphysischen Pass-Konstruktion äußerst erfreuliche Körperlichkeit und Dynamik gibt, vom geschmeidigen Tiger, der aufmerksam jede Regung seiner sabäischen Königin verfolgt, bis zum imperialen Balztanz Salomos und den rivalisierenden Purzelbäumen der aufständischen Rebellen.
Es ist der hohe Anspruch dieses Festivals, nicht einfach ein Stück vor Naturkulisse zu produzieren, sondern Stoff und Form der Produktion aus der Begegnung mit einem spezifischen Ort heraus und an diesem Ort zu entwickeln. Im Fall der "Königin von Saba" - oder vielmehr: der Julierpasshöhe ist er glücklich eingelöst.
La Regina da Saba
Buch und Regie: Giovanni Netzer, Musik: Lorenz Dangel, Licht: Daniel Müller, Kostüme: Jakob Schläpfer, Martin Leuthold, Deniz Ayfre Ümsu.
Mit: Tobias Bienz, Matiu Dermont, Linda Elsner, Kaspar Flück, Cynthia Gonzalez, Martina Keller, Andrej Lakisov, Natalina Muggli, Irene Müller, Marton Nagy, Youri Perrut, Matthias Schoch, Isabelle Sommer, Dimitri Stapfer.
Bis 7. August
www.origen.ch
"Die Inszenierung überzeugt, das Publikum applaudiert am Ende stehend", weiß Philippe Reichen, der Rezensent des St. Galler Tagblatts (19.7.2010), zu berichten. "Regisseur Giovanni Netzer ist es auf einzigartige Weise gelungen, die Elemente Natur, Bewegungstheater und Kostüme miteinander in Beziehung zu setzen." Die von Netzer engagierten Schauspielstudenten "garantieren jugendlichen Enthusiasmus. Netzer lässt sie ina allen Dimensionen spielen, schickt sie in die Natur, in die Tiefe, was ihm ein geschlossener Theaterraum nie erlauben würde. Die Bewegungen der Schauspieler sind rund, harmonisch, wirken nicht spektakulär akrobatisch, aber auch nicht banal. Die Figuren dominieren, nicht die Art, wie sie sich bewegen."
Es sei "eine ungewöhnliche Version der Geschichte von Salomo und seinem Zusammentreffen mit der Königin von Saba, die Netzer als Autor des Stücks entwickelt hat", meint Valerio Gerstlauer in der Aargauer Zeitung (19.7.2010). Denn bekannter sei "die Textstelle aus dem 'Zweiten Buch der Chronik' im Alten Testament, in der Salomo mit seiner Weisheit brilliert und die Königin von Saba beeindruckt." Netzer scheine sich hingegen auf das 'Buch der Könige' gestützt zu haben, "wo die israelitischen Herrscher kritischer beschrieben werden. (...) Salomo wird dekadent, er vergrössert seinen Harem, betet Götzen an und wendet sich von seinem Glauben an Jehova ab." Da nicht zuletzt durch die Musik von Lorenz Dangel die Dramatik des Stücks "ins Unendliche " gesteigert werde, kommt Gerstlauer zu dem Gesamturteil: "Schlichtweg atemberaubend."
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