Die Stützen der Gesellschaft - Theater Luzern
Fitnesswahn statt Eisenbahn
10. Februar 2023. Die Oberfläche glänzt, aber darunter müffelt's modrig: Lebenslügen holen in Henrik Ibsens dieser Tage nur noch selten gespieltem Drama Vorzeigefiguren der "besseren" Gesellschaft ein. Die Luzerner Schauspieldirektorin Katja Langenbach setzt den Text mit festem Griff ins Heute.
Von Valeria Heintges
10. Februar 2023. Zuschauer:innen, die wollen, können ein Selfie machen im Hause der Bernicks. Rørlund, Konsul Bernicks Lifecoach, animiert alle dazu und pflanzt sie dann aufs Familiensofa. Später arrangiert er alle Bernicks fürs familieneigene Fotoshooting. Konsul Karsten Bernick, seine Gattin Betty, Tochter Oda, die angenommene Tochter Dina Dorf und sogar Aune, der Angestellte, lassen pflichtschuldig das Gesicht einfrieren.
Geld und Macht stimmen
Die Oberfläche also glänzt im Hause Bernick. Die Werft floriert, das Dorf ist dem Industriellen dankbar, Geld und Macht stimmen. Alles super im Haus der "Stützen der Gesellschaft", wie Ibsens erstes realistisches Drama heisst. Das wird heute kaum noch gespielt, findet sich nicht einmal in den gängigen Schauspielführern. Zu offensichtlich ist das Schema von "Mensch mit Lebenslüge wird von Vergangenheit eingeholt und dann geläutert". Auch das Business-Setting stimmt nicht mehr, wenn sich alle vor der Eisenbahn fürchten und der Schulfreund Johan Tønnesen, der des Konsuls Jugendsünden (eine Liebelei mit einer Schauspielerin – das galt mal als ganz verrufen...) auf sich nimmt, nach Amerika flüchtet, und dann plötzlich wieder auftaucht. Zusammen mit Lona Hessel, der Halbschwester Betty Bernicks, die der Konsul dermaleinst sitzenliess, weil nur die Schwester das Vermögen erben würde.
Entstauben, entstauben!
In Luzern ficht Schauspieldirektorin Katja Langenbach das alles nicht an. Sie verlegt das Geschehen beherzt ins Heute, stellt dem Konsul besagten Lifecoach (Christian Baus) zur Seite, verfrachtet ihn in ein Designhaus samt Bar, Achtsamkeits- und Fitnessraum, die sich auf der Bühne von Hella Prokoph zu fahr- und drehbaren Modulen zusammenfinden. Nach der Pause, wenn die große Offenheit herrscht und die Wahrheit ans Licht kommt, verschwinden die Rückwände, wird die Bühnenrückwand zur pinterest-instagramartigen Fototapete mit Blick ins Familienalbum. Ebenso beherzt auch die Stückfassung von Dramaturgin Eva Böhmer, die den veralteten Firlefanz und das Moralgerede eliminiert, aus den gefürchteten Maschinen Roboter macht und auch die Rollen der Frauen von dickem Staub befreit. Die sind dem Fitnesswahn anheimgefallen, putzen sich an Schminktischen auf der Seite heraus und verpassen sich wahlweise blond-blau geteilte Perücken oder goldfolienartige Kleider mit Riesenschlaufe. Dabei laufen die Frauenkostüme von Julia Ströder in ihrem deftigen Zuviel dem Entstauben ein wenig zuwider.
So wirkt manches doch ein bisschen gewollt; es provoziert auch hinterhältige Fragen wie: Wenn der Konsul alle unter Druck setzt, warum setzen die dann nicht einfach ein paar Tweets ab und heizen einen Shitstorm an, der alles ans Licht bringt? Zum Beispiel, wenn Jugendfreund Tønnesen sich in Dina verliebt, die vom Konsul angeheizte Gerüchteküche aber will, dass er selbst ihr Vater sei. Das Geschehen auf der Bühne provoziert – bei aller sinnvollen Beherztheit – selbst solche Fragen. Überdeutlich sind schliesslich die Hinweise auf Social Media. Ähnlich übertrieben auch der Auftritt von Lona, die "einreitet", als wäre sie ein Cowboy und Amerika-Klischees von vor 30 Jahren vertritt.
Ansonsten gelingt dem Team ein spannender Abend mit weitgehend guten Charakterzeichnungen. Warum auch nicht, schliesslich gibt es wörtlich über Leichen gehende Machtmenschen heute immer noch mehr als genug, am Meer in Norwegen, am Vierwaldstätter See in der Schweiz, in Amerika und auch sonst überall.
Achtsamkeitsfanatikerin und Partybohne
Das weitgehende Gelingen ist solidem Schauspiel zu verdanken, wenn etwa Lona den Konsul an der Bartheke mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Tini Prüfert ist dabei glaubhaft die prinzipiell gutmeinende Freundin von damals, die entsetzt erkennen muss, was für ein zweifelhafter Charakter der Jugendfreund noch immer ist. Christian Baumbach gibt den Konsul packend zwischen eiskalter Härte und kurzen Phasen echter Reue; wenn er sein Leben resümiert, klingt es, als käme gleich der Wirtschaftsprüfer oder der schweizerische Treuhänder, um die Bilanz abzunicken. Blass bleibt Hanna Binder als Betty, die zu schematisch angelegt ist; die Achtsamkeitsfanatikerin und Partybohne ist halt so gar nicht ibsenlike. Hugo Tiedje spielt den Tønnesen wunderbar jung-cool, voller stereotyper Gesten, aber gleichzeitig auch mit der hochfahrenden Wut der Jugendlichen, die im Alter schmerzhafter Pragmatik weicht.
Der Abscheu vor dieser Pragmatik und der mit ihr einhergehenden Langeweile treibt die jungen Frauen Dina Dorf und Oda Bernick nach Amerika; Amélie Luise Hugs Oda (abgewandelt von dem von Ibsen vorgesehenen Sohn Olaf) singt sehnsüchtig von Flucht, Anna Elisabeth Kummrows spielt verhuscht und etwas unmotiviert Fangen, schweizerdeutsch "Fangis", mit ihrer zukünftigen Liebe Tønnesen. Andreas Bittls Aune hat nur kurze Szenen, aber sie bleiben im Gedächtnis, weil der kämpferische Werftarbeiter so verzweifelt seine Arbeit gut machen will, aber von seinem Chef zu Fiesigkeiten gezwungen wird, um Job, Ansehen und Überleben zu sichern. Nein, ganz gelungen ist der Abend nicht. Aber er zeigt eben doch, dass sich den "Stützen der Gesellschaft" mit Ibsen auch heute noch anständig an die Säule pinkeln lässt, sozusagen.
Die Stützen der Gesellschaft
Von Henrik Ibsen
Regie: Katja Langenbach, Bühne: Hella Prokoph, Kostüme: Julia Ströder, Licht: Clemens Gorzella, Musik: Roderik Vanderstraeten, Dramaturgie: Eva Böhmer, Video: Rebecca Stofer.
Mit: Christian Baumbach, Hanna Binder, Amélie Hug, Hugo Tiedje, Tini Prüfert, Christian Baus, Anna Elisabeth Kummrow, Andreas Bittl.
Premiere am 9. Februar 2023
Dauer: 2 Stunden, 20 Minuten, eine Pause
www.luzernertheater.ch
Kritikenrundschau
Susanne Holz von der Luzerner Zeitung (€ | 11.2.2023) gesteht ihre "zwiespältigen Gefühle gegenüber der Inszenierung": Man "fühlt sich weder in einem Drama noch in einer Komödie. Zwischendurch schweift man ab, womöglich ging das auch Henrik Ibsen so, als er acht Jahre lang am ambitionierten Schauspiel schrieb. Und bis auf der Luzerner Bühne alle Charaktere und ihre verworrenen Bluts- und Liebesbeziehungen ansatzweise erklärt sind, hat die Konzentration auch schon etwas nachgelassen." Die "Charaktere und deren digitale Existenz" würden "im Programmheft weit besser erklärt" als auf der Bühne.
Ibsens Geschichte sei kompliziert, aber "auch wenn man nicht alles versteht, zieht einen das Stück hinein", berichtet Lea Schüpbach fürs "Regionaljournal Zentralschweiz" im SRF (10.2.2023, ab Minute 18:15) und lobt das Spiel mit Verkleidungen, das gut zum Thema "Lüge und Vertuschen" passe. Die Aktualisierung fällt für die Kritikerin mit Blick auf zeitgenössische Politik- oder Wirtschaftsfiguren zu wenig entschieden aus. "Es wird zwar neues ausprobiert, aber eine konsequente Haltung, auf was das alles hinausläuft, fehlt."
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