TELL - Eine wahre Geschichte - Luzerner Theater
Heldenhafte Apokalypse
von Valeria Heintges
Luzern, 9. Mai, 2021. Das Tell-Denkmal in Altdorf stellt die Sache eindeutig dar: Der starke Vater blickt sinnend in die Ferne. Und sein kleiner Sohn Walter schaut ihn bewundernd von unten her an. Ganz klar: Der Vater beschützt den Sohn. Und der dankt es ihm. So eindeutig ist die Sache am Luzerner Theater nicht. Der Tell, den Fritz Fenne auf der Bühne zeigt, ist verzweifelt, hat Angst. Denn die Väter hier haben ihren Söhnen (und Töchtern) ein Desaster hinterlassen.
"TELL – Eine wahre Geschichte" nennt Christian Winkler sein Theaterstück, das er nach einer Reise mit seinen Akteuren zu den Originalorten des Schillerstücks geschrieben hat. Vor Ort haben sie Menschen interviewt, deren Aussagen in das Stück einflossen. Winklers Alter Ego Franz von Strolchen hat das so entstandene Werk in Luzern zur Uraufführung gebracht. Zunächst war es coronabedingt in einer Filmvariante zu sehen, jetzt ging es auch als Liveversion über die Bühne des Luzerner Theaters.
Und die ist düster und dunkel. Und alles, was darauf zu sehen ist, ist auch düster, dunkel, unheimlich. Das Bergpanorama im Mittelgrund ist kaum zu sehen, so schummerig ist alles erleuchtet, so oft ist alles vernebelt. Denn auch das Wetter ist aus den Fugen. "Materialermüdung. Menschermüdung. Naturermüdung", sagt Ruodi, der Fischer. Die Berge sind zerborsten, die Städte und Ortschaften zerstört. Heil- und ziellos irren Menschen durch das Dunkel. Zu essen gibt es kaum etwas, und so wird verzehrt, was einem über den Weg läuft: ein Murmeltier etwa, das der Einfachheit halber gleich ins offene Feuer geworfen wird. Und auch tote Menschen werden gegessen, wenn der Hunger groß ist.
Alte Namen, neue Schwüre
Die Apokalypse, so deutet es Arnold von Melchtal an, könnte aus einem undichten Atomendlager entwichen sein, gegen das er vergeblich angekämpft hat. Ja, es gibt sie noch die Namen aus Schillers Drama. Die nutzt Winkler, um seine Geschichte entlang einiger ikonischer Szenen zu erzählen. Der Schwur auf dem Rütli geht nicht an ein einzig Volk von Brüdern, sondern lautet: "Wir wollen Menschen sein"." Wir wollen Geschichten erzählen. Von Heldinnen und Helden". Wollen "keinem Gott vertrauen", nicht "Konsum und Gier". Und ja, Tell wird Gessler erschiessen. Der hat ihm vorher den Sohn geraubt und ihn, den Vater, nackt im Schnee zurückgelassen. Die vier vom neuen Rütli-Schwur können ihn retten, aber der Sohn ihn nicht vom Töten abhalten; auch wenn er noch so laut "Vater, es ist ein Missverständnis!" schreit.
Es ist ein wenig arg verwirrlich, was sich Winkler / von Strolchen da ausgedacht haben. Auch Schiller kann man nicht vorwerfen, ein monothematisches Stück geschrieben zu haben. Aber Winkler / von Strolchen verheben sich mächtig, wenn sie alles hineinpacken in die Neufassung: den Vater-Sohn-Konflikt in der menschengemachten Apokalypse. Die Auseinandersetzung mit den Helden, die doch nur für den Moment als solche leuchten können. Das Atommüll-Endlager-Problem. Kannibalismus. Die Sicht der Menschen auf den Mythos und die der Historiker auf Heldensagen. Kapitalismus- und Konsumkritik. Und dann wird alles auch noch im Rückblick erzählt, von einer Touristenführung an der Tellkapelle zurück in die Vergangenheit. Und wieder nach vorn.
Materialermüdung. Menschermüdung.
Das wird zu viel und belastet Bühne und Stück und Schauspieler. Die Akteure müssen ohnehin schon in drei Ebenen agieren: Auf bespielbarem Vorder- und Mittelgrund zeigen sie die Flucht von Vater und Sohn Tell in den Süden,"weil da die Welt aufhört", wie Tell dem Sohn erklärt. In wechselnden Unwettern steigen gleichzeitig die anderen vier Akteure als schwer bepackte Flüchtlinge umher. Zusätzlich steht im Hintergrund ein Kasten, dessen Gaze-Vorderwand als Projektion für bedeutungsschwangere Naturbeschreibungen dient. Und auf den zudem Interviewszenen projiziert werden, die mit den angeblichen Interviewpartnern, die man auf der Reise traf, gleichzeitig im Kasten gespielt und gefilmt werden. Doch sind die Interviewpartner eben auch die Akteure, wenn Parricida, Schillers Herzog von Schwaben, als Historiker auftritt, Gertrud Stauffacher als streitbare Juristin oder eben Melchtal als Atomgegner.
Endlich – Licht!
Es sind der Ebenen zu viel, es ist der Dunkelheit zu viel, es ist der Apokalypse und der Übertreibung zu viel, der grossartigen Effekte zu viel; und es ist auch der bombastischen Musik zu viel. Es ist alles zu viel. Aber der Differenziertheit, die der Historiker doch so vehement einfordert, zu wenig. Ein paar Verständnishilfen hätten auch nicht geschadet. An den Schauspielern liegt es nicht, Fritz Fenne schlägt sich wacker, auch Nicolai Perkmann als Walterli. Aber die anderen stehen so oft im Dunkel, dass man gar nichts kritisieren kann. Man ist dann sehr froh, als endlich das Licht angeht.
TELL – Eine wahre Geschichte,
von Christian Winkler, nach Motiven von Friedrich Schiller.
Inszenierung: Franz von Strolchen, Text: Christian Winkler, Kostüme: Katrin Wolfermann, Bühne: Andrea Cozzi, Video: Jonas Ruppen, Licht: Clemens Gorzella, Musik: Timo Keller, Dramaturgie: Gábor Thury.
Mit: Fritz Fenne, Nicolai Perkmann / Fynn Liam Dettwyler, Christian Baus, Olivia Gräser , Sophie Hottinger, André Willmund.
Premiere am 9. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.luzernertheater.ch
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