Blutstück - Schauspielhaus Zürich
Die geerbten Körper
23. Februar 2024. Kim de l'Horizon und Regisseurin Leonie Böhm nehmen am Schauspielhaus Zürich Themen und Motive aus dem Roman "Blutbuch" und machen daraus das "Blutstück". In der mäandernden Textperformance steht Autorperson de l'Horizon im Zentrum und spielt auch selbst mit.
Von Tobias Gerosa
23. Februar 2024. Metatheater auf neuer Ebene: Im "Blutstück" am Schauspielhaus Zürich steht die Autorperson selbst auf der Bühne und erklärt, was seit Probenbeginn mit ihrem preisgekrönten Roman "Blutbuch" geschehen sei. Nein, keine richtige Adaption sei es geworden, "wir benutzten den Text eher als Material, um auch neue Formen von Gemeinschaft zu entdecken und der Prozess ist echt". Prozess, Formen der Gemeinschaft und viel Material, das de l'Horizon im preisgekrönten Roman ausgelegt hat und das im Pfauen geschreddert, gemischt, kompiliert und ergänzt wird – wie die englischen Übertitel erklären, die immer dann aussetzen, wenn improvisiert und versucht wird, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen.
Anders als vor gut einem Monat an den Bühnen Bern hält sich Regisseurin Leonie Böhm formal und textlich nicht an die Vorlage – sie geht mit ihr um wie mit den Klassikern, für deren Neuinszenierungen man sie kennt. Anders als bei Schiller, Horváth oder Euripides hat sie sich in Zürich nun aber mit der Autorperson zusammengetan, das war laut Co-Intendant Benjamin von Blomberg ihre Bedingung, um zum ersten Mal einen zeitgenössischen Roman zu inszenieren.
Suche nach Gemeinschaft
Kim de l'Horizon steht als einer von fünf PerformerInnen auf der Bühne. Diese zitiert das titelgebende Blut in ihrer Grundfarbe, die allerdings fast ganz von bunten Tüchern bedeckt ist, die sich mal wasserartig wellen und aus denen sich einmal ein Penisbaum aufpumpt. Einige Findlinge ziehen sich bis in die ersten Zuschauerreihen und sorgen zunächst für Verwirrung, weil sie offenbar verkaufte Plätze besetzen.
Zunächst bleibt alles dunkel, und es dauert eine ganze Weile, bis eine Figur (Kim de l'Horizon) mit einer Kerze an die Rampe tritt. Brüchig und nicht gerade melodiesicher singt sie Robbie Williams' "Feel". Ist da auch schon die Rede von "shit in my vains"?
Textlich wird diese Metapher zu einem Leitmotiv. Immer wieder geht es um den Körper und die Herkunft beziehungsweise, was die Reihe der "Grossmeeren" uns weitergeben hat und was denn dann das Ich ist. "Grossmeere" – de l'Horizon nutzt das französische Lehnwort mère, wie es in der Region von Bern für Mutter beziehungsweise eben Großmutter gebraucht wird für die ganze weiblich Ahnenreihe, für das Weibliche an sich.
Zurück in die Ursuppe
Aus der Ursuppe entwickeln sich die Körper der Grossmeeren und wachsen von Generation zu Generation weiter – mit ihren "Fingern im Arsch", mit ihrem Unwohlsein an und in ihren Körpern und eben mit ihrer "Scheisse in den Adern". Die Grosspere kommen nur zweimal vor: Als Verführer (die dann doch nicht gebraucht werden …) und dann als Gewalttäter. Darum: "Dieser Körper war mal eine gute Idee, aber jetzt Storno – wir wollen zurück in die Ursuppe".
Aber schließlich wird alles gut. Nach der Anrufung der Priesterin der Faulheit prasselt Liebe oder wenigstens Regen vom Bühnenhimmel. Der Bakterien-Austausch über den Atem verbindet die Bühnenfiguren und uns im Publikum alle zu einer Gemeinschaft, weil doch ein sicherer Hinterausgang besteht – so etwa könnte eine Handlungszusammenfassung aussehen. Aber um eine lineare Geschichte geht es in diesen frei zwischen den Themen und Stichwort flottierenden zwei Stunden nicht; hat man beim gemeinsamen Erarbeiten und dem gemeinsamen Spaß auch an der Improvisation das Publikum aus den Augen verloren?
In ständiger Angst
Nacheinander treten die Figuren an die Rampe, während die andern hinten sich oft an den Händen halten oder sich eurovisionsverdächtig zum Chor formieren (Lukas Vögler klampft dazu). Für die Übergänge von der einen in die nächste Szene (man könnte streckenweise auch von Nummern sprechen) wird einfach ein Stichwort auf- oder wieder aufgenommen. Während Gro Swantje Kohlhof den vielseitigsten, plastischsten Umgang mit dem Text demonstriert, bekommt Kim de l'Horizon klar am meisten Raum.
Nicht immer wirkt das theatralisch durchgearbeitet. Nicht immer wirkt der Text so bezwingend, wie wenn de l'Horizon – Figur und reale Person sind dann nicht mehr zu unterscheiden – mitten im Publikum und ganz direkt zu einem ausgewählten Zuschauer von der immerwährenden Angst vor der Gewalt spricht. Hier wird der Text konkret politisch, wo er sonst in spirituellen Sphären schwebt. War da vielleicht doch etwas mehr Respekt von Regisseurin Böhm gegenüber de l’Horizon als gegenüber den Klassikern?
Blutstück
nach dem Roman "Blutbuch" von Kim de l’ Horizon (Textfassung aus dem Probenprozess)
Inszenierung: Leonie Böhm, Bühnenbild: Zahava Rodrigo, Kostümbild: Mascha Mihoa Bischoff, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Helena Eckert.
Mit: Vincent Basse, Gro Swantje Kohlhof, Kim de l’Horizon, Sasha Melroch, Lukas Vögler.
Dauer: 2 Stunden, ohne Pause
Premiere am 22. Februar 2024
www.schauspielhaus.ch
Kritikenrundschau
"Ich mag diesen Abend", berichtet Andreas Klaeui im SRF (23.2.2024). "Er ist angreifbar, weil er sich so offen zeigt, rhythmisch auch mal aus dem Ruder läuft, sich an manchen Stellen verliert; aber gleichzeitig ist das seine Qualität, er stellt sich zur Verfügung, und er behauptet nicht nur, sondern lebt das, wovon er spricht." Regisseurin Leonie Böhm und das Ensemble knüpften bei ihrem sehr freien Umgang mit der Romanvorlage vor allem bei der Frage an, was uns unbewusst formt. "Angst ist ein Stichwort – wie oft bei Leonie Böhm, Angst und Scham; das Gefühl, den eigenen Körper zu bewohnen oder im Gegenteil, sich in seinem Körper fehl am Platz zu fühlen und keinen Ort in der Welt zu haben."
Das Stück verliere sich in einzelnen Monologen, bemängelt ein nicht ganz überzeugter Ueli Bernays in der NZZ (23.2.2024). "Die existenziellen Themen werden bloss angetippt und verschwinden dann zu oft unter Klamauk und Comedy. Dramaturgisch liesse sich der Abend ausserdem noch etwas straffen." Trotzdem bleibe einem Kim de l’Horizon als faszinierende Persönlichkeit in Erinnerung. Mit Grazie und Sportlichkeit ebenso gesegnet wie mit Selbstbewusstsein und Intelligenz, verfüge sie durchaus über performative Präsenz.
"Zwar finden sich in dieser tremolierenden Ode ans Ineinanderfliessen immer wieder Theaternuggets. Besonders die Auftritte von Lukas Vögler mit und ohne Gitarre glänzten, auch ganz für sich allein! Und Gro Kohlhof strahlte als Grossmeer-Vertreterin." Doch Alexandra Kedves vom Tagesanzeiger (23.2.2024) hätte sich gleichwohl etwas mehr Regie und etwas weniger Impro gewünscht. Als gescheitert möchte sie "dieses Theaterwabern und Bakterienwogen" nicht bezeichnen, als geglückt allerdings auch nicht.
"Diese Anleitung zum Ausbruch aus Zwängen und Erwartungen und Aufbruch in ein anderes Denken und Leben, in die Leonie Böhm Kim de l'Horizonts Roman verwandelt hat, schrammt mitunter haarscharf an der Feelgood-Messe vorbei", so Christoph Leibold auf SWR2 (23.2.2024). "Gebannt wird diese Gefahr durch großartige Spielerinnen und Spieler wie Gro Swantje Kohlhof oder Lukas Vögler, die den drohenden Wohlfühlkitsch mit Humor brechen und ein phantasiereiches Spiel beherrschen, das sich auch von gängigen Darstellungskonventionen befreit hat. Und nicht zuletzt durch Kim de l'Horizont selbst."
Leonie Böhm "macht einen Meta-Abend über das 'Blutbuch' und den ganzen Kosmos Kim de L'Horizon, in dem noch viel mehr anklingt", berichtet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2024). "Um Kim, grandios herrlich, freundlich und scheu, vier Schauspielerinnen und Schauspieler, Lukas Vögler schiebt mit seiner Gitarre den Abend immer dann an, wenn es nötig ist, Gro Swantje Kohlhof ist das Grosi aller Großmütter, Wurzeln allen Erbes, das sich in den Körpern ablagert, sie ist überlegen großartig, manchmal auch im Dialog mit sich selbst."
"Was für die einen ein berührender und intimer Abend ist, der die Grenzen zwischen den Menschen einreißt, stellt sich für andere als unangenehm aufdringliches Mitmachtheater dar, das einen plumpen Romantizismus des ozeanischen Gefühls propagiert, in dem die prä- und postödipalen Subjekte untergehen", formuliert es Jakob Hayner in der Welt (24.3.2024). Bis zur Unkenntlichkeit vermischten sich maritime Privatmythologie, anale Gruppentherapie und hygienische Sozialpsychologie. "Das kommt als queer und fortschrittlich daher, nur ist die Beschwörung eines ursprünglich grenzenlosen Kollektivkörpers mit Reinheitsfimmel eher dystopisch als utopisch zu nennen. Doch zu den eigenen Abgründen hat der plüschig-nette Abend keine reflexive Distanz."
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ich dürfte mehr oder minder in Ihrem Alter sein: Haben Sie das Publikum aus den Augen verloren?
Was ich und das begeisterte Publikum erlebt haben, sind, ein Abend, der einfallsreich und schön spielerisch ist; Schauspieler, die durchlässig, lustvoll und vielfältig agieren und ein Text, der sensibel und politisch ist (und lange Standing Ovations).
da haben Sie einen Steilpass genutzt, den ich einbaute - unwillentlich. Einfallsreich ja, da bin ich einverstanden; mir fehlte dabei aber eine Ordnung, eine Gestaltung all der Ideen, gerade auch auf eine gesellschaftliche Perspektive (die der Roman klarer hat).
(Anm. Redaktion. Eine Volte ad personam wurde aus diesem Kommentar entfernt. Bitte sorgen Sie, dass Polemik nicht übers Ziel hinaus schießt.)
Merci!
Ich fand die Inszenierung in der Umsetzung dieses Konzepts durchaus gelungen. Dazu passt auch, dass Vincent Basse wie ein Extra wirkt, wenn Vincent den geringsten Raum auf der Bühne erhält oder sich nimmt.
Es gibt an der Inszenierung Einiges an Zumutung. Zumutung ist vordringlich die Fäkalsprache, mit der der gesellschaftliche Ist-Zustand beschrieben wird. Das, was überwunden werden soll, um eine Gemeinschaft zu bilden. Übersetzt geht es um ein Aufgeben (familiärer) kultureller Prägungen zugunsten einer meiner Auffassung nach infantilen Gemeinschaft allseitiger Verbundenheit. Gestört hat mich das aufdringliche und auch übergriffige Mitmachtheater, bei dem einzelne Zuschauende (ihre Schuhe, ihr forciertes Eintreten für Kim de l´Horizon, ihr Gesang, ...) ausgestellt werden.
Für mich liegt es nah, Kim de l´Horizon als männlichen Crossdresser zu lesen, auch wenn sie sich als Non-Binary verstehen. Verbündete oder Verbündeter zu sein, sollte sich aber nicht darin erschöpfen, dass weitere Spielende auf der Bühne quer zu ihrem biologischen Geschlecht gekleidet sind. Die Kostüme stellen u. a. primäre Geschlechtsmerkmale oder auch schambesetzte Körperteile heraus. Das passt insoweit, als thematisch die Befreiung von Schamhaftigkeit angesprochen wird. Diese endet in der Inszenierung aber vor dem Baumwollslip, was das propagierte Streben nach Befreiung von Scham und negativen, an Körperteile geknüpften Gefühlen ironisch konterkariert.
Im Fazit ist die Inszenierung naiv in ihrem Versuch, eine (infantile) Gemeinschaft zu bilden, gelungen in ihrem Anspruch, Inhalte des Blutbuchs in eine andere Ausdrucksform zu übertragen und ärgerlich in ihrer Zwanghaftigkeit. Kim de l´ Horizon hat mich als Performer:in ihrer eigenen Fiktion durchaus überzeugt.
Leider geht der knapp 100minütige Abend nicht so vielversprechend weiter. Die vier Mitstreiter*innen kommen auf die Bühne: Vincent Basse, Sasha Melroch und Lukas Vögler aus dem Zürcher Ensemble und Gro Swantje Kohlhof, die schon an den Münchner Kammerspielen mit Böhm arbeitete. Unterspannt mäandert die Nummernrevue vor sich hin, die Performer*innen versuchen, das Publikum in den ersten Reihen ins Gespräch zu verwickeln, zwischen albern und belanglos plätschert die Performance vor sich hin.
Stärkere Momente gibt es, wenn Kim de l`Horizon zurück in den Fokus rückt. Die Autor*in streift durch die Reihen und unterhält sich mit dem Amerikaner Steve, der ihr verspricht, ihr einen Rückzugsraum und Safe Space zu bieten. In kurzen Momenten blitzt auf, wie sich dieser Abend entwickeln könnte. Es hätte ein tolles Solo von Kim de l´Horizon werden können, stattdessen verzettelt sich die Produktion zu oft.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/06/12/blutstueck-schauspielhaus-zuerich-kritik/
Über Körper hat unter anderem schon Pollesch nachgedacht und das war weitaus profunder und witziger. Auch Pollesch hat uns in seinen Probenraum mitgenommen, aber in diesem Züricher Raum hab ich mich leider nur gelangweilt. Das Genre Roman lädt vielleicht doch eher dazu ein, Situationen und Nöte zu benennen, die sich hinter bürgerlichen Pappfassaden verbergen.