Es ist kompliziert

9. September 2023. Ein Schüler aus armen Verhältnissen schreibt über seine Erlebnisse mit einer Mittelschichtsfamilie, sein Deutschlehrer redigiert die Erfahrungsberichte: In Juan Mayorgas Stück fließen Realität und Fiktion ineinander. Christiane Jatahy versucht in ihrer Inszenierung klare Verhältnisse zu schaffen.

Von Janis El-Bira

Silas Lio Glanzmann in "Der Junge aus der letzten Reihe" in Zürich © Binta Kopp

9. September 2023. "Was meinen Sie mit Realismus?", wird an diesem Abend einmal gefragt. Und man möchte direkt knapp antworten: Ungefähr das hier. Zugegeben, zum Zeitpunkt der Frage ist die Inszenierung noch nicht alt, mit der das Schauspielhaus Zürich in die letzte Spielzeit der schier monumental umzankten Intendanz Stemann / von Blomberg startet. Aber man ahnt da schon, dass die Wanderung heute nicht gar so weit abseits der markierten Pfade verlaufen wird. Und warum auch nicht? Schließlich hatten viele sich mehr Literaturtheater, mehr einfühlendes Spiel, mehr wiedererkennbare Texte und lebensweltliche Themen am Schauspielhaus gewünscht. Also all das, was man oft mit Realismus beschreibt, auch wenn man vielleicht Naturalismus meint. 

Aber klauben wir keine Begriffe: Wenn Daniel Lommatzsch zu Beginn als Deutschlehrer Hermann an seinem liebevoll ausstaffierten Schreibtisch sitzt und das schockierend abgesunkene Niveau seiner Klasse beklagt, wenn er dabei ganze Sätze spricht und obendrein vollständig bekleidet bleibt, ist erfüllt, was theaterlandläufig als realistische Darstellung gilt. Die tatsächliche Antwort, die "Der Junge aus der letzten Reihe" auf die selbstaufgeworfene Realismus-Frage gibt, lautet allerdings: Es ist kompliziert.

Sozialparabel, Thesendrama, Metafiktion

Zu tun hat das damit, dass sein Autor, der spanische Dramatiker, Schriftsteller, studierte Mathematiker und promovierte Philosoph Juan Mayorga, selbst nicht eben ein schlichter Geist ist. Sein Stück von 2006, das Stefanie Gerhold ins Deutsche übertragen hat, lässt schon mit der äußeren Handlungsebene Literaturwissenschaftler und Psychoanalytiker anerkennend die Hand ans Kinn legen. Ein schriftstellerisch begabter Schüler aus einfachen Verhältnissen schleicht sich ins Leben einer Mittelschichtsfamilie, verwirrt dort Vater und Sohn, seinen Mitschüler, verführt schließlich sogar die Mutter – und daheim sitzt unterdessen sein überambitionierter Deutschlehrer wie ein Lektor über den aus diesen skurrilen Hausbesuchen resultierenden Texten. Realität und Fiktion werden ununterscheidbar, die Überarbeitungen des Lehrers im Text beeinflussen den Fortgang der tatsächlichen Ereignisse und andersherum. 

Der Junge7 1200 Binta Kopp uDaniel Lommatzsch, Tabita Johannes © Binta Kopp

Mayorgas Stück ist vieler Geiste Kind: Eine Sozialparabel im Well-Made-Gewand, ein Thesendrama und gleichzeitig postmoderne Metafiktion, philosophischer Hintertreppenwitz und bildungsbürgerliche Schnitzeljagd mit lauter mehr oder minder gut versteckten Walter-Benjamin-Verweisen – erklärtermaßen der Lieblingsdenker Mayorgas. Höllisch konstruiert ist das naturgemäß alles und schon deshalb gar nicht so "realistisch" wie eingangs angenommen.

Charakterstudien auf gerasterter Bühne

Regisseurin Christiane Jatahy überträgt es in der arenaförmig angelegten Box im Zürcher Schiffbau gleichwohl in ein recht formstrenges Arrangement aus Blickachsen, Nähe- und Ferneverhältnissen, das wie ein Uhrwerk abschnurrt, aber – vielleicht zum Glück – eher nüchtern-naturalistisch an den philosophischen Tiefensuggestionen des ambitiösen Stücktexts entlangschnuppert. So werden Paul Klees Engelsbilder, das berühmte Leitmotiv Walter Benjamins und überall verlässliches Bedeutsamkeits-Glöckchen, zwar vom Jungliteraten Claudio im Haus der ausspionierten Familie entdeckt. Jatahy macht aber dankenswerterweise keine große Sache daraus. Die Gedankenexperimente und formalen Winkelzüge des Stücks hält sie unter dem Deckel des Sozial- und Familiendramas, dem ihr vorrangiges Interesse gilt. 

Der Junge2 1200 Binta Kopp uOtto Kosok © Binta Kopp

Das Ensemble folgt ihr im Bemühen, kleine Charakterstudien aus den Figuren zu formen: Thomas Wodianka legt dem beruflich gedemütigten und durch den seltsamen Eindringling verunsicherten Vater einen grimmigen Funken Stolz ins Auge, wenn er ihn berichten lässt, dass er gerade das Auto seines Chefs angezündet hat. Daniel Lommatzsch wird als Lehrer Hermann zu einem Frankenstein im Jeanshemd, der das Monster nicht mehr loswird, das er mitgeschaffen hat. Lena Schwarz tanzt allverausgabend zu "Mrs. Robinson" und Otto Kosok – echte Entdeckung! – entwirft Claudio mit kühler Präsenz als Nerd beim allmählichen Entdecken seiner Kräfte. Lauter Ab- und Aufstiegsporträts von Figuren im Übergang.

Unterschiedliche Interessen

Unter Jatahys ganzer Beherrschtheit brodelt indes stets etwas, das eigentlich lieber weg vom Individuellen und ran an die ganz großen Dinge möchte. "Zerstörung, Unterbrechung, Hoffnung, Rettung", zählt Claudio einmal auf. Auch das sind zentrale Begriffe aus dem Werk Walter Benjamins. Natürlich geht es irgendwo auch um Herrschaftsverhältnisse, natürlich um die Unterhöhlung der revolutionsuntüchtigen Mittelschicht. Der Hiatus besteht aber darin, dass Mayorgas Text sich dabei in die Feinkostabteilung vornehmer Anspielungen zurückzieht, während Jatahys Inszenierung immer auf Klarheit zielt. Als gäbe es kein Übereinkommen zur Entfesselung aller hier gebundenen Kräfte. Was trotzdem herauskommt, trägt bis zum Ende der Vorstellung.

Der Junge aus der letzten Reihe
von Juan Mayorga, in einer Übersetzung von Stefanie Gerhold
Regie: Christiane Jatahy, Künstlerische Mitarbeit, Bühnenbild und Lichtdesign: Thomas Walgrave, Kostümbild: Paula Henrike Hermann, Musik: Pedro Cunha Vituri, Beleuchtungsmeister: Frank Bittermann, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt.
Mit: Tabita Johannes, Daniel Lommatzsch, Lena Schwarz, Thomas Wodianka, Otto Kosok, Silas Lio Glanzmann.
Premiere am 8. September 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 Kritikenrundschau

"Als Saisonauftakt präsentiert das Schauspielhaus Zürich ein Vexierspiel mit philosophischen Obertönen und TV-Serien-Groove", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (9.9.2023). "Es hätte zwar durchaus etwas kürzer und temporeicher gestaltet sein dürfen, aber zum Reingleiten ins Theaterjahr verleiht es uns doch den nötigen Schwung." Das Stück sei "ein metafiktional aufgerüstetes Sozialdrama, in dem das Bühnengeschehen von den Figuren selbst in Frage gestellt wird". Trotz des etwas repetitiv durchgeführten ästhetischen Konzepts folge man dem Geschehen insgesamt gern.

Kommentar schreiben