Die Möwe - Schauspielhaus Zürich
Ich spiele, also bin ich nicht
23. Dezember 2023. Tradierte gegen neue Kunst? Alte versus junge Generation? Da kommen der einen oder anderen Zuschauerin im Zürcher Pfauen, wo zum Spielzeitschluss ein viel diskutiertes Intendanz-Ende ansteht, recht konkrete Assoziationen. Und die sind in Christopher Rüpings Inszenierung durchaus beabsichtigt.
Von Valeria Heintges
23. Dezember 2023. Nach über zweieinhalb Stunden ist die Inszenierung schon fast an ihr Ende gekommen. Da fragt Wiebke Mollenhauer in der Rolle der Nina Benjamin Lillie in der Rolle des Kostja, ob er hören will, was wirklich geschah zwischen dem Schriftsteller Trigorin und ihr. "Wenn du es erzählen willst", sagt Kostja. Darauf sie: "Ist ja egal, ob ich will oder nicht. Ist ja schließlich meine Rolle."
Christopher Rüping hat in Zürich inszeniert, dass sieben Darsteller:innen spielen, dass sie Anton Tschechows "Die Möwe" aufführen. Permanent, drei Stunden lang, spielen sie, dass sie sich nie ganz mit ihren Figuren identifizieren, zeigen, dass und wie sie sich den Rollen nähern. Als täten sie es gegen ihren Willen, als fänden sie das Stück über lange Strecken schlecht, zu simpel, zu gestrig, zu sehr aus ihrer eigenen, heutigen Zeit gefallen. Als würden sie nur hin und wieder mit einzelnen Sätzen, einzelnen Haltungen etwas anfangen können (wobei sie recht nah an der Übersetzung von Thomas Brasch bleiben, aber sie immer wieder kommentierend mit ihren Einsprengseln unterlaufen oder sich Sätze anderer Personen aneignen). Diese Herangehensweise stellen sie permanent aus. Sie tun das allesamt professionell und auf hohem Spielniveau, schließlich ist auch das Nicht-Spielen ebenso ein Spielen, egal, wie oft man es bricht.
Alles schreit: Distanz!
Dabei ist die Bühne natürlich leer. Sie deklamieren die Regieanweisung vom Park, vom See – aber man sieht davon nichts. Einer nach dem anderen kommen sie auf die Bühne, setzen sich auf Hocker hinten und an den Seitenwänden, nehmen auch mal Kostüme (Tutia Schaad), die offen auf einem Ständer hängen. Die sind zunächst zeitlos, weite Hosen, fließende Gewänder für alle, klobig-hohe Schuhe für die Frauen, die ihnen einen eckigen Gang aufzwingen. Alles hier sagt, nein schreit: "Distanz! Wir sind autarke, denkende Menschen, wir sprechen doch nicht irgendwelche Texte, die uns vorgelegt werden!"
Dafür tun sie zunächst genau das: Sie sprechen, als wären ihnen die Sätze unbekannt, gänzlich fremd. Sie leiern sie, kommentieren sie mit Mimik und Gesten, übertreiben, persiflieren, brechen aus, fangen von vorn an. Die Geschichte der Möwe, die am See aufwächst und von einem Mann aus Langeweile zerstört wird und in der sich Ninas Schicksal spiegelt, sprechen sie vier Mal, bis Wiebke Mollenhauer über Lillies Worten nicht mehr in Lachen ausbrechen muss. Die Möwe selbst sieht man übrigens nie, sie landet nur in einer billigen Plastiktüte auf den Bühnenbrettern.
Maja Beckmann versucht, die Mutter eines 25-Jährigen zu spielen. Eine Rolle, die sie mit übergriffigen Berührungen adäquat darzustellen glaubt. Lillie krächzt den 25-jährigen Kostja, als wäre man in dem Alter noch im Stimmbruch. Sie spielen also nicht nur das Spiel im Spiel, sondern auch das Scheitern dieses Spiels. Gehen dafür auch mit riesigen Schritten ohne jede Dramaturgie auf ihr Ziel los, etwa wenn Wiebke Mollenhauer als Nachwuchsschauspielerin Nina von der ersten Sekunde an den berühmten Schriftsteller Trigorin anschmachtet, weil ihre Nina den laut Text eben toll zu finden hat. Nur Moses Leo als Schriftsteller Trigorin spielt diese Doppelbödigkeit nicht – dafür ist er prompt der wohl schweigsamste Trigorin der Theatergeschichte. Später werden sie mit Versatzstücken wie Reifröcken, Schleifen und Tüllbändern immer tiefer in die Vergangenheit schreiten, Requisiten werden erscheinen und der – natürlich ironisch verfremdete – Mond aufgehen (Bühne Jonathan Mertz). Aber die Distanz zum Text, die werden sie nie verlieren.
Auseinandersetzung über Kunst
Warum aber, so fragt man sich schon bald, hat die Truppe sich überhaupt Tschechows "Möwe" vorgenommen? Was wollen sie mit dem Stück? Dafür liefert die Inszenierung diverse, mehr oder weniger überzeugende Argumente. Zum einen bietet das Werk eine Auseinandersetzung über moderne und veraltete Kunst, zum anderen lässt es dafür die Generationen aufeinander krachen. Beide Aspekte haben Rüping deutlich interessiert, vermengt drittens mit der Tatsache, dass der 38-jährige Hausregisseur das vorzeitige Ende der Intendanz Nicolas Stemanns und Benjamin von Blombergs anscheinend so deutet, dass hier die jungen, wilden, mutigen Künstler krachend an dem Geschmack der älteren Generation gescheitert seien: "Wenn's kein neues Theater gibt, dann lieber keins", wie Kostja sagt. Eine Lesart, die höchstens ein Aspekt der doch etwas komplexeren Wahrheit ist – und die den Abend tatsächlich zu einem sehr zürcherischen werden lässt.
Wenn Kostja mit seinem höchst expressiven, modernen Werk vor den Augen der Mutter scheitert, dann scheitert hier auch der junge, mutige Autor vor einer Schauspielerin, die zwar berühmt und gefeiert, aber auch einem sehr konservativen, sterbenslangweiligen, völlig gestrigen Kunstbegriff verhaftet ist. Das Diktum von Mascha, die sich nicht für eine neue oder alte Theaterdramaturgie entscheiden will, sondern findet: "Dabei ist doch Platz für alle, oder nicht", glaubt die Inszenierung augenscheinlich selbst nicht. Im Gegenteil baut Rüping die Persiflage eines Gerhart-Hauptmann-Stücks so ein, dass man sie nur als brutale Nichtachtung von Armut und Ungerechtigkeit lesen kann – Spiel im Spiel hin oder her. Der Aspekt des Geldes, der gesellschaftlichen Stellung, letztlich: der Politik scheint Rüping nicht zu interessieren. Jede:r darf selbst für sich urteilen, ob er oder sie das in unserer Zeit gerechtfertigt und angemessen findet.
Alle feiern Party
Doch strauchelt das legitime Experiment, einen Klassiker zu spielen und sich gleichzeitig mit dessen Klassiker-Dasein auseinanderzusetzen, auch angesichts der Tatsache, dass das ausstellende Spiel auf Dauer sehr mühsam anzusehen ist. Auch merkt man ihm – trotz einem übermäßig kitschigen Ende, bei dem sich keiner umbringt, sondern alle Party feiern – den Anspruch der Rechthaberei allzu deutlich an.
Die Möwe
von Anton Tschechow
Regie: Christopher Rüping, Bühnenbild: Jonathan Mertz, Kostümbild: Tutia Schaad, Licht: Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Moritz Frischkorn.
Mit: Ann Ayano, Maja Beckmann, Moses Leo, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Lena Schwarz, Steven Sowah.
Premiere am 22. Dezember 2023
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspielhaus.ch
Kritikenrundschau
"Warum machen wir überhaupt Theater? Um uns selbst zu befriedigen? Um uns zu zeigen, wie viel Talent wir haben? Oder weil wir was wollen?" Dieser "Theaterkonzeptwettstreit", der ja auch ganz konkret in Zürich um die Intendanz von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg geschwelt habe, ist für Christian Gampert im DLF Kultur (22.12.23) die zentrale Ebene in Christopher Rüpings Regie-Zugriff. "Es sind sehr viele Fragen, die hier aufgerissen werden", berichtet der Kritiker und konstatiert eine "auch atmosphärisch über drei Stunden trotz mancher Albernheiten" überzeugende und "schöne Inszenierung".
"Rüping hat das Drama von 1895 zu seinen Ursprüngen zurückgeführt", berichtet Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (23.12.23) und ruft begeistert aus: "Und wie!" Der Regisseur nehme "das Theaterschaffen ebenso aufs Korn wie die Menschen draußen, die in ihren gut ausstaffierten Leben vor sich hintrotten", und wir sähen "faziniert" dabei zu. "Diese 'Möwe' ist ein Festival der empathischen Karikaturen", findet die Kritikerin. "Rüpings Ensemble macht die Figuren weder völlig lächerlich noch formt es sie zum Trigger rührseliger Zuschauertränen."
"Tschechows Stil hat sich ergeben, indem er das Tragische durch Komik einfärbte. In Rüpings Inszenierung aber zeigt sich, dass unser Sinn für Tragik verkrustet oder verkümmert ist", schreibt Ueli Bernays von der Neuen Zürcher Zeitung (23.12.2023). Und weiter: "Ohne den katastrophalen Fluchtpunkt verliert ‘Die Möwe‘ allerdings Spannung und Stringenz. Tragik staut sich auf in einem Prozess. Rüping aber setzt ganz auf die Komik, die aus jedem Moment springt und sich nicht selten zur Posse bläht."
Treffsicher und in vielen Momenten spannend findet Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (26.12.2023) das "Spiel des Spielens", in dem man "auf mäandernde, mitunter nervige, oft aufregende, manchmal blöde, vielfach lustige Art erfährt, was Theater ist". Man brauche für diese "Möwe" Geduld, werde aber immer wieder aufs Neue belohnt. Rüping sei ein Zauberer des Augenblicks – was auf der Bühne passiere, wirke oft "wie aus dem Geist des Spontanen heraus entstanden". Ausgehend von dieser Konstellation bauten vor allem zwei Spieler:innen ihre Figuren mit großer Konsistenz aus: Benjamin Lillie übersteigere den Konstantin "mit riesiger Emphase, durchaus ironisch, oft sehr lustig, laut". Maja Beckmann sei "die Königin des Abends": Mit „irrlichternder Grandezza“ dringe sie vom suchenden Aneignen von Text und Rolle durch zur "vollkommenen Gestaltung der Figur". "Dann ist diese Arkadina ungehalten, unerträglich, maßlos egozentrisch, …dann ist sie aber auch lebensweise, gelassen, bei allem G'spinnerten ungeheuer sympathisch."
"Gerade weil an diesem Abend sonst so viel nachgeäfft, angedeutet, unterspielt wird, wirken die wenigen ernsten Szenen umso schlagkräftiger", schreibt Simon Strauß in der FAZ (26.12.2023). Es seien "seltsam leidenschaftslose Individuen, die sich da auf dem Gut der kranken Tante Sorina versammelt haben". Für "Pointen" opferten sie "nicht nur seine eigene Großmutter, sondern gleich das ganze Motiv der unerwiderten Liebe". Jugend bedeute hier "in erster Linie: jedem Schmerz aus dem Weg gehen". Aber Christopher Rüping habe "die Gabe, die von ihm selbst inszenierte Gleichgültigkeit im entscheidenden Moment einzufangen und der Sache doch noch Bedeutung zu verleihen", so Strauß.
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Das Personal auf der Bühne interessiert sich weder für die Befindlichkeiten von Tolstoi, noch für diejenigen seines Möwe-Personals und schon gar nicht für diejenigen des Publikums.
Es interessiert sich ausschliesslich für seine
eigenen Befindlichkeiten. Dies aber ausdauernd
über 3h lang.
Uns, also dem Publikum im Saal, vermögen die phänotypischen Befindlichkeiten des Millenium-Personals auf der Bühne auch nicht zu interessieren. Beim besten Willen nicht.
Ergo: Schluss mit dem Theater.
Tolstoi? Ernsthaft?
Und wahrscheinlich meinen Sie "Millennials"
Ergo: Ab ins Theater!
Was für ein grandioser Kommentar.
Danke, dass Sie damit erneut bewiesen haben, warum man den Kommentarbereich auf dieser (wie auf eigentlich allen anderen Seiten im Internet) meiden, beziehungsweise deaktivieren sollte. Die Person, die mit Ihnen Tequila trank, hatte bestimmt den Abend ihres Lebens. Wie schön für Sie, dass Sie so viel wissen über Hughes und Willams. Das hat der "übrigens:sehr attraktiven" Frau sicherlich enorm imponiert.
Weiter so!
PS: Vielleicht wäre es sinnvol für Sie einmal das Wort "whack" zu googeln.
Hallo !
Ich habe mich das nicht getraut , weil ich andererseits dachte , dann werde ich von den Leuten gescholten , die Theater als einen Ort der Begegnung empfinden und - egal was läuft - mit Menschen ins Gespräch kommen wollen . Und das hat ja offenbar gut funktioniert. Aber danke für Ihren Kommentar. # Madame Birkin : Nehmen Sie es mir nicht übel , aber Sie sind da wirklich ein ziemliches Stück zu weit weg von der Kommentar - Ebene gekommen. Aber schön, dass sie sich so gut verstanden haben . Und in gewisser Weise haben Sie es spannend gemacht ,was aus dieser Begegnung nach den Tequilas geworden ist . Manche treffen ja auch ihren zukünftigen Ehe -Partner im Theater . Wenn es dafür gut ist , hat es schon seinen Zweck erfüllt.
Und, Sie haben recht: wir wollen von Herr/Dame Birkin wissen: wie ist der Status jetzt? Auf VOX bei den First Dates erfahren wir es ja auch, da gab es sogar drei Paare (Weihnachtswoche bei Das perfekte Dinner), die jetzt eine Familie sind.
Ich befürchte bei Ihrem Bildungsumgebung ist VOX eine Unbekannte … Eine Frage: Handelt es sich bei der Bar um die im Foyer? Haben die solange auf? Aber romantisch ist das Foyer eher nicht. Vielleicht geben sie ein Tipp, wo sie die Dame näher kennen durften (und sie Sie). Ich meine die Bar. Wenn wieder die letzte Bahn …
#2: Schluss mit dem Theater? Seien Sie nicht so kaltherzig wie Arkadina. Eher: Bitte ein Theater, das nicht langweilt …
Dass Kommentar #4 "Nach dem dritten Tequila" mit Häme übergossen würde, ist ein Missverständnis.
Vielmehr ist dieser Kommentar #4 ein Werk der Fiktion, das sich aber nicht allen Nutzer:innen dieses Forums als solches zu erkennen gibt.
Fangen wir beim Einfachsten an: Im Foyer des Zürcher Pfauen gibt es keine Bar, die so lang geöffnet hat, dass man dort nach einer Vorstellung noch ein Getränk, geschweige mehrere und schon gar keine Cocktails trinken und derweil vom "Hölzchen aufs Stöckchen" kommen könnte. (Kann man übrigens beim Besucherservice des Schauspielhauses leicht erfragen.)
Verschiedene andere Details verweisen auf die Unmöglichkeit der ganzen Begebenheit. Wahrscheinlich will der Autor auf verschlungenem Weg zum Ausdruck bringen, dass er hier eine Begegnung phantasiert, wie sie heute im Theater, oder wenigstens im Zürcher Schauspielhaus EBEN GERADE NICHT möglich ist.
(Andere Ideen, wie die sexistische Phantasie vom gebildeten älteren Herrn, der die "attraktive" jüngere Frau in seinen Bann schlägt, sind vielleicht als Provokation gemeint.)
Da das Ganze aber für den größten Teil der Nutzer:innen als Phantasie gar nicht erkennbar ist, fällt die Geschichte meines Erachtens in den Bereich der falschen Tatsachenbehauptungen und könnte von den Betreuer:innen dieses Forums auch gesperrt werden.
Die ironische Grundhaltung des Kommentars #4, die sich aus dem Spiel mit Mehrwissen und Insiderwissen ergibt, empfinde ich selbst viel mehr als hämisch als die Antworten darauf.
---
Lieber Alter Zürcher, liebe Kommentator:innen,
haben Sie vielen Dank für die Klarstellung. Charon Birkin hat also wahrscheinlich woanders Tequila getrunken. Wir lassen "Kommentar 4" dessen ungeachtet nun an dieser Stelle stehen, da er ja ohnehin nicht im engeren Sinne kommentiert, worum es in diesem Thread geht oder besserenfalls gehen könnte: die in der Nachtkritik besprochene Inszenierung.
Um diese "Kommentarspalte des Grauens" zurück ins Licht zu führen, empfehlen wir dementsprechend, die Diskussion wieder näher am eigentlichen Thema zu führen.
Prost und herzliche Grüße aus der Redaktion, miwo