Risse im Vinyl

11. April 2024. Willkommen in den Niederungen des deutschen Showbiz! Dort, wo Lüge, Täuschung und Auslöschung Schwarzer Biographien den Kommerz befeuern. Regisseurin und Choreographin Joana Tischkau widmet sich in ihrer neuesten Popkultur-Dekonstruktion der Biographie von Lori Glori, Stimme hinter Hits von DJ Bobo. Und die Sängerin steht selbst mit auf der Bühne.

Von Luca Koch

"Last Night a Dj Took My Life" von Joana Tischkau am Schauspielhaus Zürich © Zoé Aubry

11. April 2024. Eine riesige Schallplatte hängt in der Theater-Box des Schiffbaus Zürich. Das Vinyl weist Risse auf und kündigt die Leidensgeschichte der kommenden zwei Stunden an. Davor steht ein einsames Mikrofon in seinem Ständer. An die Theaterwand projiziert ein Disclaimer: Die Geschichte basiere auf wahren Events, die Handlung und die Charaktere seien fiktiv, Gemeinsamkeiten mit realen Personen zufällig.

Tatsächlich folgt das Stück "Last Night a DJ Took My Life" der Regisseurin und Choreografin Joana Tischkau einer wahren Lebensgeschichte und fiktionalisiert sie, aber die Realität bleibt unverkennbar.

Das Leben der Sängerin Lori Ham alias Lori Glori

Im Mittelpunkt steht die US-amerikanische Sängerin Lori Ham. Unter ihrem Künstlerinnennamen Lori Glori prägte sie die Musik einer ganzen Generation. Sie wuchs mit Gospel in Oceanside/Kalifornien auf, und schon von klein auf war Lori klar, dass sie auf der Bühne stehen werde. Von ihrer ersten Band "Ham Sisters" zu ihrer Zusammenarbeit mit Bill Summers & Summers Heat in den USA bis zu ihrer Zeit als Background- und Lead-Sängerin von Eurodance-Produktionen in Deutschland führt der Weg.

Lori Glori erklimmt in verschiedenen Projekten die Charts, doch die hinterlistige Musikindustrie wird ihr zum Verhängnis. Für den Schweizer Produzenten DJ Bobo singt sie die Melodien zu seinen größten Hits im Studio ein: "Let the Dream Come", "There's a Party", "Shadow of the Night", "Pray" und "Respect Yourself". Trotz des Millionenerfolgs der Songs wird Lori Glori nie daran beteiligt, selbst ihre namentliche Nennung muss sie sich erkämpfen.

LastNight7 1200 Zoe Aubry uAus dem Background herausgetreten: Lori Glori singt und spielt ihre Geschichte © Zoé Aubry

Ihr tragisches Schicksal ist kein Einzelfall. Lori Glori steht stellvertretend für viele Schwarze Musiker*innen, die im Aufblühen der Eurodance-Bewegung der 1990er Jahre ausgebeutet wurden. Lori Gloris Geschichte gibt nicht nur die Handlung des Stücks vor, die Künstlerin spielt in "Last Night a DJ Took My Life" am Schauspielhaus Zürich sich selbst.

Braids aus Perlen der Meerjungfrau

So wie Arielle, der Meerjungfrau, ihre Stimme gestohlen wurde im Versprechen dafür, neues Terrain erkunden zu können, geschah es auch Lori Glori. "Last Night a DJ Took My Life" bedient sich beim Märchen von Hans Christian Andersen. Es spielt ebenfalls unter Wasser. Die Charaktere auf der Bühne glänzen mit Haaren aus Perlen und extravaganten Kostümen (von Nadine Bakota), die an Korallen und Quallen erinnern. Ein Mix zwischen Fantasy und Techno-Kultur.

Alle sieben Akteure kommen ohne Eigennamen aus, sie werden nur als: The Voice, the DJ, the Producer, the Dancer, the Dream, the Fan und the Moral vorgestellt. Sie spielen humorvoll und bestechend ehrlich zugleich, treiben Klischees des Musikbusiness auf die Spitze, ohne die Kritik im Lächerlichen versanden zu lassen. Lori Glori ist als "the Voice" dem ganzen Cast gesanglich meilenweit voraus, dafür schauspielerisch etwas eintönig. Die große, rissige Schallplatte zerspringt im Verlauf des Stücks in Teile und wird mal zur Bühne, mal zum übergroßen Fernseher, auf dem verfremdete "Tageschau"-Beiträge der 1990er Jahre gezeigt werden. Mitunter ist sie auch Talkshow-Set (Bühnenbild: Carlo Siegfried).

"You can not love the culture, but not love the people"

Regisseurin Joana Tischkau untersucht in ihren Arbeiten regelmäßig Formen von kultureller Aneignung und Autor*innenschaft. Auch in "Last Night a DJ Took My Life" sind die rassistischen Praktiken der Eurodance-Bewegung in jede Szene eingewoben. Manchmal verkleidet, manchmal auch explizit wie in einem "Tageschau"-Beitrag aus dem Jahr 1991: Raver*innen tanzen auf der "Love Parade" in Berlin ausgelassen unter dem Motto "My House is Your House and Your House is Mine" zu Techno, der aus dem mehrheitlich Schwarzen Detroit stammt. Während Neonazis keine 200 Kilometer weiter südlich ein Wohnheim mit Vertragsarbeiter*innen und Flüchtlingen mit Steinen und Molotow-Cocktails angreifen.

LastNight6 1200 Zoe Aubry uDie Crew im Meerjungfrauen-Look: Sophie Yukiko, Vincent Basse, Emeka* Ene, Lori Glori, Yèinou Avignon, Sasha Melroch und Lukas Vögler in Kostümen von Nadine Bakota © Zoé Aubry

Im Talkshow-Format müssen der Schweizer DJ und der deutsche Producer Rede und Antwort stehen, wie sie sich afro-amerikanische Kultur einverleiben, ohne Respekt zu zollen. "Ich sehe keine Hautfarbe", sagen sie und verstehen darunter: "Alle dürfen alles." Die Erwiderung: "You can not love the culture, but not love the people." (dt. "Man kann nicht die Kultur lieben, ohne ihre Menschen zu lieben.")

Lori Gloris Stimme erklingt in Musikvideos und auf der Bühne und wird von der weißen Geliebten des DJs gelipsynct. Die Fans lieben alles, ohne es zu hinterfragen. Sie werden belogen.

Auch, wenn der Diskurs der Aneignung in einer Szene ziemlich geballt geführt wird, wirkt er in keiner Form didaktisch. Der DJ wird übertrieben als böser Clown-Vampir-Pirat dargestellt, was ihm leider etwas Boshaftigkeit nimmt. Seine Machenschaften kleidet er in den Deckmantel der Mittelmäßigkeit und eines vor sich her getragenen Arbeitseifers. Er ist ein Bürger wie du und ich.

Das Zerborstene fügt sich zusammen

Lori Glori als the Voice hört bis zum Schluss des Stücks nicht auf, für sich und ihre Rechte einzustehen. Sie fordert eine Beteiligung an den Songs ein, die sie gesungen hat. Der DJ erhofft sich vergeblich Vergebung. Die Premiere wird mit einer Standing Ovation beklatscht, und als Zugabe singt Lori Glori ihre neueste Single: "Count Your Blessings". Wir sind im Jetzt angekommen, die zerborstene Schallplatte von damals ist ihre Bühne von heute. Eine Produktion, die lachend und nachdenklich stimmt und eine bemerkenswerte Musikerin porträtiert.

 

Last Night a Dj Took My Life
von Joana Tischkau
Inszenierung, Choreografie: Joana Tischkau, Bühnenbild: Carlo Siegfried, Kostümbild: Nadine Bakota, Sound Design & Komposition: Frieder Blume, Songwriting & Script: Fatima Moumouni / Fehler Kuti / Joana Tischkau / Ensemble, Video: Sondi, Licht: Markus Keusch, Outside Eye: Elisabeth Hampe, Dramaturgie: Laura Paetau, Audience Development: Laura Rivas Kaufmann, Touring & International Relations: Sonja Hildebrandt, Künstlerische Vermittlung T&S: Manuela Runge.
Mit: Yèinou Avognon, Vincent Basse, Emeka* Ene, Lori Glori, Sasha Melroch, Lukas Vögler, Sophie Yukiko.
Premiere am 10. April 2024
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

Tischkau habe ein starkes und kluges Formbewusstsein, sagt Matthias Dell im Deutschlandfunk Kultur (10.4.2024).  Der Abend buchstabiere Popkultur und Popmusik durch, operiere auch diskursive Sätze in die sinnbefreiten Eurodance-Nummern rein: "Das ist schon genial." Er sei auf engem Raum sehr komplex, super geschrieben. Und Lori Glori und das Ensemble sängen wunderbar.

Der Fall Lori Glori werde "als Lehrstück dafür gezeigt, wie sich mittelmässige europäische Musiker und Produzenten immer wieder an afroamerikanischer Kunst vergreifen und dabei nicht nur Urheberrechte verletzten, sondern auch die Würde der Künstlerinnen und Künstler", so Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (12.4.2024). Eindrücklicher aber als die Moral von der Geschichte seien "die bunten Klamotten, die Persiflage von Ravern und Produzenten. Und last, but not least die beherzte Stimme von Lori Glori."

"Alles in allem könnte die Chose durchaus zwischen pädagogischem Anspruch und priesterlicher Attitüde versacken", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (12.4.2024). "Dass sie es nicht tut, liegt an den teilweise grandios durchgespielten Stationen dieses Dramas und auch am elektronisch-synthetischen Drive, der sogar Techno- und House-Hasser mitreisst. Vor allem aber an der Wahnsinnspräsenz von Lori Glori."

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