Die Stille nach dem Klick

von Vera Urweider

Zürich, 16. November 2018. Es ist diese Stille im Saal. Eine ungewohnte Stille für eine Theaterinszenierung, die einem plötzlich auffällt. Denn Timofej Kuljabin nimmt den Schauspielern die Sprache weg. Zumindest fast. Der Russische Regisseur ist bekannt dafür, alte Theaterklassiker ganz neu umzusetzen – seine "Drei Schwestern" ließ er in russischer Gebärdensprache spielen. In Zürich kommunizieren die Menschen in "Nora oder Ein Puppenhaus" beinahe stumm und schriftlich per WhatsApp und Facebook. Ob das funktioniert?

Nora1 560 ToniSuter TTFotografie uZwischen Chat und Leben: die Zürcher "Nora" © Toni Suter / T+T-Fotografie

Obwohl Henrik Ibsens Dialoge auf SMS-Nachrichtenlänge gekürzt wurden und die philosophische Komponente in der Rolle von Doktor Rank komplett gestrichen wurde, kann man der Geschichte durchaus folgen: Nora, sicher und vermeintlich glücklich mit erfolgreichem Mann, Kindern und Kindermädchen, ihre Schummelei von früher, die Unterschriftsfälschung, die ihr durch eine Erpressung zum Verhängnis wird, ihr Aufwachen aus dem Puppenschlaf und schließlich ihre Wandlung und das Verlassen von Mann und Kindern. Damals, 1879 ein Tabubruch und anfänglich gar unaufführbar, heute, fast 150 Jahre später, etwas erschreckend Alltägliches, so wie Vieles in Kuljabins Inszenierung.

Nora oder Die Plastikbox

Folgen kann man der Geschichte also. Doch ist es anstrengend. Denn man muss die Dialoge selber lesen. Die Bühne von Oleg Golovko besteht aus zwei Teilen, unten und oben. Unten, da spielen die Darsteller ausgestellt hinter einer Plastikwand, meist mehrere Szenen gleichzeitig. Man blickt so in den Alltag der Figuren, schaut ihnen zu, wie sie im Café sitzen, die Maniküre machen lassen oder sich in einer Umkleide umziehen. Sie interagieren kaum miteinander. Sie spielen ihre Szenen autark. Wenn sie mal miteinander sprechen, dann meistens so leise, dass man es nicht versteht. Es wird so noch mehr zur Nebensache. Eines haben sie gemeinsam: das Handy. Egal ob sie auf ihre Kinder warten, ob sie im Fitnessstudio oder in der Tanzstunde sind oder ob sie sich gerade einer Bartrasur unterziehen, die Hände und die Augen konzentrieren sich ununterbrochen auf den elektronischen Begleiter. Und dieser ist auch die Verbindung zu "oben".

In Echtzeit wird das Getextete der Figuren auf die Betonwand oberhalb der Plastikwand projiziert, der Zuschauer so zum Zuleser. Und dieser muss sich fortan unglaublich konzentrieren, weil sich manchmal vier Personen / Handys gleichzeitig schreiben. Ob Liebeserklärung oder Drohung, alles wird in dieser digitalen Inszenierung per WhatsApp mitgeteilt. Manchmal wird noch eine Person auf Facebook gesucht und das neue Bild im neuen Outfit für den neuen Job noch in der Umkleide auf Instagram hochgeladen. Willkommen im 21. Jahrhundert!

Handy oder Die Voyeurismus-Falle

Das Theater könne es sich nicht leisten, nicht auf das Leben zu reagieren, sagt Kuljabin im Programmheft-Interview. Theater soll aktuell sein. Theater ist aktuell. Gerade ein Stück wie "Nora", das zeitlos elementare Werte und Themen wie Liebe, Vertrauen, Freundschaft, Familie, Karriere, Selbstverwirklichung und – seit der #metoo-Debatte noch aktueller im Diskurs – Emanzipation und die Rolle der Frau thematisiert. So ein Stück ist für den 30-jährigen mit seiner nimmermüden Suche nach neuen Zugängen und Erzählformen klassischer Stoffe ein gefundenes Fressen. Die Sozialen Netzwerke für ihn so normal wie die Nahrungsaufnahme. Ein ständiger Begleiter im Alltag. Oder eher: die Hauptfigur.

Nora3 560 ToniSuter TTFotografie uMal ohne Smartphones: Christian Baumbach als Krogstad, Isabelle Menke als Frau Linde
© Toni Suter / T+T Fotografie

So ergeht es einem zumindest als Gast dieser Inszenierung. Man ist so beschäftigt mit Lesen und Glotzen, was sich die Figuren mitteilen oder im Netz suchen oder posten, dass man manchmal gar nicht mehr mitbekommt, was die Figuren spielen. Immer wieder ertappt man sich, die Schauspieler auszublenden und nur auf die Displays zu starren. Werden dann zweimal echte handgeschriebene Briefe auf der Bühne als Requisite gezeigt, nervt man sich schon fast, dass man dies nun nicht lesen kann. Sie werden nicht projiziert und schon ist man irritiert. Wir sind also mittendrin in der Voyeurismus-Falle.

Denn man will ja wissen, wie es weitergeht. So wie man im echten Leben die Pinwand runterscrollt und schaut, was es denn Neues gibt. Ah, noch schnell der Mitbewohnerin mitteilen, dass man Brot gekauft hat und äh sorry, komme zehn Minuten später. Was? Echt? Er hat Schluss gemacht? Einfach so? Cool, gratuliere zum neuen Job/Kind/Auto (bitte auswählen). I like.

Kuljabin sieht seine Inszenierung nicht unbedingt als Kritik an unsere moderne Gesellschaft, wie er sagt. Will bloß zeigen, wie es halt ist und diese aktuelle Kommunikationsform ins Theater rücken. Dies ist ihm durchaus gelungen. Hinterlässt aber trotzdem irgendwie einen faden Beigeschmack. Denn selbst beim Applaus weiß man schließlich gar nicht so genau, wem man jetzt applaudiert. Dem Handy? Oder doch den Schauspielern?

 

Nora oder Ein Puppenhaus
nach Henrik Ibsen
Regie: Timofej Kuljabin, Bühne und Kostüme: Oleg Golovko, Licht: Frank Bittermann, Dramaturgie: Roman Dolzhanskiv und Amely Joana Haag, Dolmetschen: Anjelika Oberholzer-Smirnova, Choreographie: Ilona Kannewurf, Theaterpädagogik: Anne Britting.
Mit: Fritz Fenne, Lisa-Katrina Mayer, Isabelle Menke, Christian Baumbach, Ilona Kannewurf, Giorgina Hämmerli, Anja Rüegg, Nico-Alexander Wilhelm, Philipp Lüscher, Jessica Elsasser, Walter Schuchter. Kinder: Noah Zihlmann, Luka Kunovic, Mia Brunet, Kassandra Blum, Alexia Finocchiaro, Julia Taylor.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
Premiere am 16. November 2018

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Unter der Maske der Kurzmitteilungen wächst die Masse des Ungesagten, Unverarbeiteten, niemals Ausgesprochenen bedrohlich an", berichtet Cornelie Ueding im Deutschlandfunk (17.11.2018). "Timofej Kuljabin hat das Drama nicht nur oberflächlich aktualisiert. Er hat vielmehr die ursprünglich angelegte Härte und Klarheit neu erfahrbar gemacht – und dies paradoxerweise gerade durch die Transformation in unsere abbreviaturhafte Kommunikationswelt."

 "Kuljabin und das Team schreddern den 140 Jahre alten Beitrag Ibsens zur Frauenfrage seiner Zeit zu digital vermittelbaren Shortcuts", findet hingegen Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (19.11.2018). Was bei Ibsen ein psychologischer Dialog, eine komplexe Rolle, eine fein austarierte dramaturgische Binnenspannung und eine zwingende Logik zum Untergang sei, werde hier geplättet, verkürzt und ohne Timing gegeben. Die Schauspieler seien nur "Relikte und pure Anhängsel der schieren Kommunikationsmaschine".

Diese Handy-"Nora" sei "im Grunde ein schlichtes, munter dahinplätscherndes Erzähltheater", so wiederum Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (19.11.2018). "Die Story kennt man, den Smartphone-Sprech auch, und die Soap-Opera-Clips zielen auf die vielen bereits angemeldeten Schulklassen." Kuljabin treibe es mit dem Herunterdimmen intellektueller Ansprüche fast zu weit. Dass er mit anderen Inszenierungen Furore machte: "Nach dieser hübsch-harmlosen 'Nora' unter Glas glaubt mans kaum."

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