40-Jahr-Feier gesammelter Widersprüche

von Felizitas Ammann

Zürich, 3. Oktober 2008. Das Zürcher Theater Neumarkt hat mit Rafael Sanchez und Barbara Weber eine Zweierintendanz erhalten. Entsprechend wird auch doppelt eröffnet: Beide Chefs steuern ein Stück bei, darin zu sehen ist je das halbe Ensemble (das aus zwei Österreichern, vier Deutschen und zwei Schweizern besteht) und ein paar Gäste. Die Ausstatterin Sara Giancane war sogar zweimal am Werk, und auch beim Perückenvorrat wird man an Grenzen gestossen sein. Nach dem 70er-Jahre-Inferno am ersten Abend steht am zweiten nämlich "Hair" an. Oder mit ganzem Namen: "Hair Story. Ein Stück mit Songs und unvermeidlichen Bezügen zum Musical von 1968."

"Es gibt immer was zu erben", das haben die Jungspunde (beide Jahrgang 1975) lakonisch als Motto über ihre erste Spielzeit gestellt. Um sich nun wieder einmal an den 68ern abzuarbeiten. Barbara Weber macht das so, wie sie das schon mit anderen großen Stoffen gemacht hat: assoziativ, überbordend, witzig. Bekannt wurde sie mit ihren unplugged-Stücken, in denen sie mit einfachsten Mitteln mediale Systeme und moderne Mythen wie Mutter Teresa, Star Wars, Michael Jackson oder die RAF befragte.

Selbstverwirklichung trifft Ausbeutung

Als Folie für ihre 68er-Bearbeitung wählt sie das Musical "Hair", das 1968 entstand, die 68er aber bereits zum Thema hat. Das nicht erst später vom bösen Markt vereinnahmt, sondern gleich als kommerzielles Musical konzipiert wurde. In dem Pop auf Protest trifft, sexuelle Revolution auf Kirchenmusik (der Komponist Galt MacDermot war eigentlich Kirchenmusiker), Selbstverwirklichung auf Ausbeutung. Da tun sich eine Menge Widersprüche auf – und in den letzten 40 Jahren sind noch ein paar dazu gekommen.

Die "Hair Story" öffnet den Radius schon in der ersten Szene gehörig, da nämlich rattern alle Schauspieler mal kurz herunter, wen sie alles verkörpern werden: nicht nur Janis Joplin oder Jimi Hendrix, auch Rudi Dutschke, Scarlett O’Hara, Charles Manson, einen Vertreter des Ku-Klux-Klan oder "eine Vietnamesin". Assoziativ vollgestopft ist auch der enge, niedrige Bühnenraum mit Showtreppe und Indianerzelt, Regenbogen und Amerikaflagge, marokkanischen Hockern und Holzkreuz. Eine Rumpelkammer der Geschichte.

Tanzen in Amerika, diskutieren in Deutschland

"Hair" entstand vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs. In der "Hair Story" bleibt er als Referenz anwesend. Zentral ist grundsätzlich das Thema der Unterdrückung. Während Rudi Dutschke (Thiemo Strutzenberger) mit seinem Interviewer (Sebastian Rudolph) über die Hierarchien innerhalb der Bewegung reflektiert, protestiert auf dem Set von "Hair" eine schwarze Sängerin (Jörg Koslowsky), dass die Hauptrollen nur mit Weissen besetzt werden.

Zwei wunderbare Szenen. Wie überhaupt die Gegenüberstellung von tanzenden Blumenkindern in Amerika und sauertöpfig-eitlen Debattierenden in Deutschland zwar etwas simpel, dabei aber sehr anschaulich daher kommt. Dazwischen wird eifrig und – auch wenn‘s um ein Musical geht – insgesamt ein bisschen viel gesungen. Ausser dem notorischen "Aquarius", das Stella Spinas leidenschaftlich röhrt, erklingt keine Musik aus der Vorlage. Dafür eignet man sich kurzerhand die Titelmelodie von "Fame" an, denn "I'm gonna live forever...", passt auch zum Massenprodukt "Hair", das von Beginn weg Kopien und Kopien der Kopien um die Welt schickte.

Zitate, Querverweise, Assoziationsfeld

Es sind solche Zitate und Querverweise, die Spass machen an der "Hair Story". Auch wenn manchmal arg schnell durch das Assoziationsfeld galoppiert wird, und man lieber etwas mehr über die Zusammenhänge erfahren hätte. Aber schon geht's weiter, zu Leni Riefenstahl (die junge Alicia Aumüller ist eine Entdeckung des Abends), welche den Hippie beobachtet wie eine aussterbende Rasse.

Dann zum meditativen Kiffen nach Indien, zum Herumlabern im Zigarettendunst wiedermal nach Deutschland, für die freie Liebe ins Indianerzelt und zur großen Revivalshow mit Darstellern aus allen Ländern. Die Tour de Force wird von den Schauspielern bestens bewältigt. Damit erweist sich auch die zweite Hälfte des Ensembles als vielseitig und spielfreudig; und macht Lust auf mehr.


Hair Story
Ein Stück mit Songs und unvermeidlichen Bezügen zum Musical von 1968.
Mit Texten von Barbara Weber, Martin Bieri, Mike Müller
Regie: Barbara Weber, Bühne/Kostüme: Sara Giancane, Musik: Michael Haves, Choreografie: Nat Huor, Dramaturgie: Martin Bieri. Mit: Alicia Aumüller, Stella Spinas, Jörg Koslowsky, Sebastian Rudolph, Thiemo Strutzenberger.

www.theaterneumarkt.ch

Mehr lesen über Barbara Weber: im Juni 2008 inszenierte sie bei den Wiener Festwochen Die Lears nach Shakespeares "King Lear". Am Maxim Gorki Theater modernisierte sie im November 2007 Lessings Bürgerdrama Miss Sara Sampson. Und davor entstand an den Münchner Kammerspielen ein neuer Abend ihrer unplugged-Reihe, nämlich Tanger unplugged.

 

Kritikenrundschau

Überraschung: Sibylle Berg war auf Geheiss der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (5.10.2008) bei der Neueröffnung des Theater Neumarkt. Und vermutlich wird man sie dort jetzt öfter sehen. Denn nicht nur einen "wunderbaren Anarcho-Abend" sah Berg, auch das "Programm der nächsten beiden Monate liest sich wie etwas, das man sich in einem warmen Traum ausgedacht haben könnte". Kein Detail sei übersehen worden, von der "Gestaltung der Website über die Zeitung bis zum Programmheft." Eine Realisierung dessen, "was Antonio Negri mit seiner Theorie der kleinen Mikrorevolutionen meint. Die Seele nicht verkaufen, erst mal das Beste tun, was man kann, und damit den Menschen eine Alternative geben, zum ausgemachten Blödsinn unserer Zeit." Aber auch für "Hair-Story" hat Berg nur Lob. Barbara Weber entwickelt hier ihrer Ansicht nach mit "großem Schwung" eine Musik- und Textcollage, "die von 'Hair' über Dutschke, Andy Warhol und Indien fast alles streift, was in der Generation der 68er Wert hatte." Mit "Grandezza, die an das Originalstück heranreicht", tanze das Ensemble durch ein Bühnenbild, "das wirkt, als hätte Jonathan Meese mal so richtig gute Laune gehabt und Hitler vergessen".

Durch die Inszenierung von Barbara Weber sieht Peter Müller im Zürcher Tages-Anzeiger (website vom 6.10.2008) den Start der neuen Neumarkt-Leitung "gerettet". Wo Rafael Sanchez fad geblieben sei mit seiner Lars von Trier-Inszenierung, lasse Weber "Assoziationen, Witz und Fantasie wuchern". Außerdem sehe es danach aus, als habe das Neumarkt-Theater ein "tolles neues Ensemble", das auch "schwächere Inszenierungen ansehnlich" mache. "Und den gelungenen Glanz" gebe. Der Abend sei keine "platte Parodie auf die ollen 68er und ihr Leitmusical 'Hair' ". Schon als Intro brause die Johannes-Passion auf und "Notuf und Leidensgeschichte" des Vietnamkriegs etwa durchzögen den Abend. Zugleich jedoch handele es sich um eine "so anregende wie vergnügliche Geschichtsstunde", dass "Lehrer mit ihren Klassen das Theater stürmen" sollten. Ausrufezeichen. Ein Märchen werde erzählt, aber auch von seinen dunklen Seiten die da heißen Marktgängigkeit, Drogen und falsche Heilslehren. 

Ein Einstand für Barbara Weber, schreibt Charles Linsmayer in der Berner Zeitung Der Bund (6.10.2008), "den man in seiner Leichtigkeit, Präzision und theatralischen Lebendigkeit so schnell nicht mehr vergessen wird". Natürlich mache sich die ganze Veranstaltung "lustig über die im Musical 'Hair' verkörperte … Aufbruchbewegung, und dennoch leuchteten aus der ironischen Verballhornung noch immer die Leidenschaft und die Radikalität heraus, die damals entwickelt wurden. Vor allem entfalteten die Songs noch immer "so viel Drive und Musikalität", dass selbst ihre "ironische Blossstellung und Verfremdung" zu "hinreissenden Musical-Nummern" werde. Was "nur funktionieren kann, weil sich da … schauspielernde und singende Protagonisten präsentieren, die das Leichtgewichtige und scheinbar Zufällige absolut professionell und mit einer Verve und einem Schwung zu realisieren wissen", der das Publikum absolut begeistert habe.

Die Collage aus Songs und Texten, schreibt Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (15.10.2008) verzichte darauf das Musical nachzuerzählen. Der Akzent liege auf der Frage, "wie multinational die 68er wirklich waren und wie aus der gospelschwangeren Sause innerhalb kurzer Zeit ein Marketing-Hit werden konnte". Stark sei der Abend, wenn Einzelschicksalen beleuchtet würden, wenn Weber und ihr Ensemble etwa "den Ambivalenzen der Ideologie" von freier Liebe nachspürten, "in der die Schüchternen und Verklemmten wie immer schlechte Karten" hatten. Es sei die Schwäche des Abends, dass Weber und ihre Spieler "zu beliebig Material sampeln und alles Mögliche und Unmögliche nebeneinander stellen".

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