What if they went to Moscow - Christiane Jatahy lässt Tschechows Drei Schwestern ins Aquarium abstürzen beim Zürcher Theater Spektakel 2014
"Mein Fest war fürchterlich"
von Charles Linsmayer
Zürich, 25. August 2014. Mit ihrem schonungslosen und freien Umgang mit Dramenklassikern ist die Brasilianerin Christiane Jatahy beim Zürcher Theaterspektakel keine Unbekannte. 2013 zeigte sie mit ihrer Companhia Vértice de Teatro aus Rio de Janeiro hier eine eigenwillig exzessive Adaption von Strindbergs "Fräulein Julie" und löste am Ende stürmischen Beifall aus, als ihre blutjunge Julie, die sich in einer gefilmten Swimmingpool-Szene das Leben nimmt, aus dem nahen Zürichsee noch einmal klitschnass auf die Bühne rannte.
Christiane Jatahys Adaption von Tschechows "Drei Schwestern", die dieses Jahr auf der Zürcher Landiwiese unter dem Titel "What if they went to Moscow" Station macht, bringt Theater und Film erneut miteinander in Beziehung – allerdings so, dass das Resultat des permanenten gegenseitigen Filmens nicht auf der Bühne selbst, sondern nur in einem anderen Saal und von einem anderen Publikum mitverfolgt werden kann.
Das Bad im Aquarium
Der Swimmingpool ist aber wieder da, und zwar nicht mehr nur im Film, sondern ganz real in Form eines großen Aquariums, in das die drei Schwestern mal in Kleidern, mal nackt eintauchen und das zugleich das zentrale Symbol dieser lateinamerikanischen Tschechow-Deutung ist. Es sei ihnen, wie wenn sie auf einem Sprungbrett vor einem Schwimmbad ständen, geben die drei Frauen eingangs bekannt, und sie befänden sich gleichzeitig in einem realen und in einem virtuellen Raum, der durch eine dünne Linie, die Gegenwart, voneinander getrennt werde und von der aus sie den Sprung in eine andere, bessere Zukunft wagen würden.
In den verschiebbaren Kulissen eines bürgerlichen Interieurs feiern die drei Schwestern ein Jahr nach Vaters Tod Irinas zwanzigsten Geburtstag, und die Party, die aus diesem Grund steigt, ist, abwechselnd zwischen euphorischem Gekicher und mühsam überbrückter Langeweile, das hauptsächliche Geschehen der achtzig Minuten dauernden Performance. Pop- und Rockmusik aller Art erklingt, gelegentlich machen auch die drei Protagonistinnen Gesangsversuche, aber eigentlich kommt man nie ganz vom Eindruck los, hier werde nach einem nicht ganz fertig geschriebenen Drehbuch improvisiert und chargiert, was das Zeug hält. Wobei das Portugiesische immer wieder mit spontan eingeworfenen englischen Brocken unterlaufen und das so direkt angesprochene Publikum mit mäßigem Erfolg zum Mitessen, Mittrinken und Mittanzen animiert wird.
Uneingelöste Versprechen
Isabel Teixeira, Julia Bernat und Stella Rabello sind liebenswürdige Schauspielerinnen ohne Berührungsängste, aber was den drei Frauen und den teils als Kameraleute, teils als Partner und Liebhaber agierenden jungen Männern (Paulo Camacho, Rafa Rocha, Felipe Norkus und Thiago Katona) abverlangt wird, löst am Ende keines der gegebenen Versprechen ein. Weder wird gezeigt, was geschehen würde, wenn die drei Schwestern "am Ziel ihrer Träume angelangt" wären, wie das Programmheft verspricht, noch wird nachvollziehbar, wie der Sprung in eine bessere Zukunft aussehen könnte, von dem am Anfang des Abends gesprochen wird. Was man aus der Aufführung mitnehmen kann, ist das diffuse, mal schräge, mal bemitleidenswerte, aber nie ganz unsympathische Bild einer desorientierten, sich vor lauter Kameras und Selfies irgendwie selbst abhanden gekommenen Generation.
Irina, die Jüngste, will mit dem Rucksack auf eine Reise gehen, für die sie nur den Hinflug bucht – vielleicht nach Moskau, "die Stadt von Lenin und Tolstoj"? Dann wieder will sie 150 Jahre alt werden und auf diese Geburtstagsfeier zurückblicken. Bald schlägt sie vor, man solle handeln, um eine bessere Zukunft zu erreichen, und schließlich will sie aufhören, sich zu verändern, weiß aber nicht wie. Olga möchte nicht werden wie ihre Mutter. Maria verkündet, es sei langweilig, in dieser Welt zu leben, wie schon Gogol gesagt habe.
Nackt und frustriert
Als Irina in einen ekstatischen Hardrock ausbricht, verlassen erste Zuschauer den Saal und verpassen damit jene allmähliche Steigerung zur völligen Nacktheit hin, die die Inszenierung äußerlich einer anderen Produktion des diesjährigen Spektakels zur Seite stellt: Olivier Dubois' "Tragédie", die von lauter nackten Menschen getanzt wurde. Maria gibt sich auf einer eigens hergeschafften Matratze nackt einem ebenso nackten Partner hin, wobei das Paar bemüht ist, seine diversen Stellungen wie in einem Pornofilm abwechselnd mit der Kamera festzuhalten.
Irina, die schließlich nackt ins Aquarium steigt, macht ihrer Frustration auf vielerlei Weise Luft. "Mein Fest war fürchterlich", verkündet sie, "das Leben geht und kommt nicht wieder, ich frage mich, warum ich mich noch nicht umgebracht habe." Nachdem die drei Schwestern sich kurz mal zerstritten und dann wieder versöhnt haben, steigt Olga in einem wallenden Rock ihrerseits ins Aquarium und schaut das Publikum aus dem Wasser von einer riesigen Leinwand herab fragend und mit großen traurigen Augen an. "Ich will nicht mehr", klagt Irina und ruft mit weinerlicher Stimme in den Saal: "Geht nach Hause!"
Wenn die drei Schauspielerinnen auf ihre temperamentvolle Weise Gefühle um Ausdruck bringen, gibt es ab und zu packende Momente in dieser reichlich dilettantisch anmutenden Inszenierung. Dass sie sich in ihrer durch nichts gemilderten Oberflächlichkeit als eine Art Fortsetzung von Tschechows "Drei Schwestern" versteht, erscheint allerdings fast schon als eine Zumutung.
E se elas fossem para Moscou? / What if they went to Moscow
von Christiane Jatahy
nach "Drei Schwestern" von Anton Tschechow
Text und Inszenierung: Christiane Jatahy, Video: Paulo Camacho, Bühnenbild: Marcelo Lipiani, Kostüme: Aantonio Medeiros, Tatiana Rodrigues, Musik: Domenico Lancelotti.
Mit: Isabel Teixeira, Julia Bernat , Stella Rabello, Paulo Camacho, Rafa Rocha, Felipe Norkus, Thiago Katona.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theaterspektakle.ch
www.christianejatahy.com.br
Die Strindberg-Adaption Julia von Christiane Jatahy besprach nachtkritik.de im Oktober 2013.
Moskau bleibe trotz des Titels ein Wunschtraum; "die drei Schwestern stecken in der Party fest", so Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (25.08.2014). Das Mitmachtheater scheitere nicht nur an der Zurückhaltung des Zürcher Publikums. "Das begleitende Gerede von Zukunft und Vergangenheit entspricht dem intellektuellen Niveau der Migros-Plakatkampagne ('Gestern war heute morgen')." Dass "dieser gesammelte Quark" per Direktübertragung einem parellelen Publikum "geschnitten und gemixt serviert" wird, zeige für Jatahy ein "Dilemma", möglicherweise sogar ein "utopisches": "Wir können nicht gleichzeitig da und dort sein. Keine Angst, das möchten wir auch gar nicht."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
neueste kommentare >