La cérémonie − 400asa brachte chinesische Freunde mit auf die Landiwiese
Press play oder das China in deinem Kopf
von Kaa Linder
Zürich, 1. September 2010. Jeden Sommer wird die Landiwiese am Zürichsee zum Festivalgelände: mit Zelten, Theaterbauten, Bars und Kinderkarussell. Während zwei Wochen trifft Hochkultur auf Strassenkunst, was den einen ein Volksfest, ist den anderen ein Fenster, das den Blick auf zeitgenössische Tanz- und Theaterproduktionen aus aller Welt (inklusive Inland) freigibt.
Das seit 31 Jahren etablierte Festivalgelände eignet sich nun die freie Schweizer Theatergruppe 400asa in ihrer neuen Produktion als Bühne an. "La cérémonie" ist der dritte und letzte Teil eines Austauschprojekts von 400asa mit dem Peng Hao Theater aus Peking und bezieht sich auf den gleichnamigen Film von Claude Chabrol, dessen dramatischer Höhepunkt der Amoklauf eines Dienstmädchens in einem bürgerlichen Haushalt ist.
Gehen Sie zurück auf Los
Der Abend beginnt an einer unscheinbaren Ecke der Landiwiese, wo Kasperli aus einem Marronihäuschen trällert und das Personal des Stücks vorstellt. Die Puppenfamilie vom schicken Zürichberg besteht aus Philippe de Pape, einem "Kulturaustäuschler", seiner schwerreichen Frau Catherine, Tochter und Sohn. Die Familie hat soeben eine Analphabetin als Hausmädchen verpflichtet.
Während der Prolog seinen Lauf nimmt, wird das Publikum gruppenweise beiseite genommen. Jedem Zuschauer werden Walkman und Kopfhörer ausgehändigt. Press play: der Abend beginnt ein zweites Mal. In meinem Fall mit der Stimme von Philippe de Pape, der sich als Kurator des schweizerisch-chinesischen Austauschprojekts vorstellt. Er führt mich über das Gelände an Schauplätze, die wie historische Tatorte aussehen. Unter einer ausladenden Kastanie, im düsteren Backstage-Bereich oder angesichts eines Kantinentischs wird mein Blick zunehmend voyeuristisch. Der Rundgang endet am See. In einem Boot werden wir ans andere Ende der Wiese, zu einer hell erleuchteten Baracke (Bühne: Philipp Stengele) gefahren. Press stop: der Abend beginnt ein drittes Mal.
Am Ende ein Massaker
Das Personal mit Schusswunden am Kopf, welches bereit steht, um gemeinsam mit dem Publikum den gelungenen Abschluss des Austauschprojekts zu feiern, gleicht verdächtig den Kasperlipuppen aus dem Prolog. Die hängen erschossen über einem Fenstersims. Der Show-Down hat längst stattgefunden. Das Publikum bekommt Wein und Häppchen gereicht. Der leibhaftige Philippe de Pape (Julian M. Grünthal) dankt in englisch überschwänglich den Sponsoren, ein chinesischer Kung-Fu Meister zelebriert Kampfsport. Der Hausmädchenchor tritt auf, es folgt eine traditionelle Trainingslektion von Absolventen der Pekingoper. Doch irgendwie läuft alles schief, und vor aller Augen wird die vorbereitete Schlusspräsentation zum Selbstläufer. Das Ende ist ein Massaker, Filmmotiv und Bühnenhandlung treffen aufeinander. Nichts als Tote und niemand, der den Applaus entgegen nimmt.
Mit "La cérémonie" will Regisseur Samuel Schwarz bürgerliche Zeremonien hinterfragen und revolutionäre Traditionen aufleben lassen. Die Affinität von 400asa für gewaltsame Umwälzungen ist auch zehn Jahre nach ihrem ersten Auftritt am Zürcher Theater Spektakel immer noch groß, wenn auch nicht neu. Neu ist es auch nicht, sich dem Theater mit den Mitteln des Theaters zu widersetzen und die Erwartungshaltung des Zuschauers zu unterwandern.
Kalte Leichen und Zitate
"La cérémonie" ist als open-air-Geisterbahn auf der Landiwiese installiert. Und obwohl dieser Ort vor allem Behaglichkeit ausstrahlt, schafft es der kleine Rundgang tatsächlich streckenweise metaphysisches Gruseln zu erzeugen. Blick und Gang des Zuschauers werden manipuliert. Er hat dabei reichlich Zeit, über den Begriff des Fremden nachzudenken und dieses Nachdenken als Privileg zu empfinden. So ist China, lange bevor es zum interkulturellen Austauschziel wird, eine Gegend im eigenen Kopf.
Auch die kurze Bootsfahrt mag als sinnliche Haltungsübung für reflexionswillige Zuschauer beabsichtigt sein oder sogar erlebt werden. Schliesslich zieht man hier den Kopf nicht bloß als leere Geste ein, wenn das Boot eine sehr niedrige Brücke passiert. Doch im letzten Teil des Abends verpufft das alles. Dem Theater ganz abschwören, es in letzter Konsequenz überflüssig machen, mag Samuel Schwarz offensichtlich doch nicht. Sonst hätte der Regisseur das Publikum auf offenem Zürichsee über Bord werfen und an Land schwimmen lassen.
Stattdessen führt er uns in einen Raum voller kalter Leichen und Zitate. Opernhauskrawall und Jugendunruhen, Kollektiv und Brecht, das war einmal. Nichts spielt mehr eine Rolle. Auch nicht die beiden aus China stammenden Beteiligten (Man Cao, Liu Xin), die sich unauffällig in traditionelle Kostüme kleiden; wundervoll bestickte Seidengewänder. Die beiden scheinen sich köstlich zu amüsieren und mit den Prinzipien von 400asa auf der ganzen Linie einig zu gehen. So bleibt der Spaß, wenn es denn einer ist, ein privater und 400asa unter sich.
La cérémonie
Von Man Cao, Liu Xin, 400asa
Regie: Samuel Schwarz, Ko-Regie: Julian M. Grünthal und Wanda Wylowa, Dramaturgie: Simone von Büren und Jana Burbach, Text Audiorundgangund Zeremonie: Ensemble, Text Kasperlitheater und Hausmädchenchor: Sabine Wang, Musik und Ton: Michael Sauter und Mischa Eberli, Raum: Philipp Stengele, Kostüme und Puppen: Esther Schmid, Coaching Pekingoper: Man Cao, Liu Xin.
Mit: Man Cao, Liu Xin, Julian M. Grünthal und den Studierenden des Masterstudienganges Theater der Hochschule der Künste Bern: Regine Fritschi, Newa Grawit, Jana Burbach, Carolin Jakoby, Mirjam Kleber, Gina Gurtner.
Mitwirkende Audiorundgang: Ruth Huber, Anna Messmer, Lisa Rammstein, Marc Locatelli, Lena Gubler, Dunja Tonnemacher, Till Burkart.
www.theaterspektakel.ch
Mehr zum diesjährigen Zürcher Theater Spektakel: Geld und Gott von Mass & Fieber. Über die Arbeit von 400asa berichtete nachtkritik zuletzt im Oktober 2009 anlässlich der Uraufführung von Jenatsch im Theater Chur.
Brecht stehe 400asa und den furios agierenden Studierenden der Hochschule der Künste Bern Pate, "wenn sie die Absurditäten der Kultur-'Schnelldurchläufe' pointiert vorführen und so manche peinliche Lächerlichkeit und freundliche Arroganz entlarven", schreibt Bettina Spoerri in der Neuen Zürcher Zeitung (3.9.2010). Die satirischen Spitzen seien die Glanzmomente des zweieinhalbstündigen Abends, der den Besuchern einiges an Kälteresistenz und Stehausdauer abverlangt. "So richtig zusammenwachsen mögen die einzelnen Teile, die vielen klugen Einfälle und Gags aber nicht". Der dramaturgische Bogen, der alles zusammenhalten soll, werde arg strapaziert. "Da wurde, man spürt es, mit viel Elan entworfen und lustvoll improvisiert - doch um die kritische Schärfe zu entwickeln, welche die Idee bereithält, hätte das Ensemble wohl noch etwas mehr Zeit gebraucht."
"Die Gruppe um Regisseur Samuel Schwarz stellt alles infrage, vom eigenen China-Aufenthalt bis zum Theater Spektakel (letzte Bastion bürgerlicher Sinnlichkeit sei
das Fressen)", so Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (3.9.2010). "Die eigene Rolle als Bürgerschreck, die Opernhauskrawalle, die Kulturrevolution: alles eins, alles nichts." Und doch sei das eine Menge, "zweieinhalb kurze Stunden produktive, putzmuntere Postdramatik, zum Fühlen und zum Denken."
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