Robinson - Ein Reenactment aus der Kinderstube beim Zürcher Theater Spektakel
Was Dienstag uns mit der Grillzange lehrt
von Kaa Linder
Zürich, 16. August 2008. Die Hände in den Hosensäcken vergraben steht ein knappes Dutzend Mittdreißiger um ein Mikrofon, die Minen ernst, die Hemden ungebügelt. Auf Kommando des Chorleiters gibt die Truppe tiefstes, befremdliches Brummen von sich. Doch entpuppen sich diese Pseudowilden schon bald als einheimisches Urgestein, Berner Oberländer nämlich, die sich zum Ziel gesetzt haben, in knapp fünfundsiebzig Minuten die Heldenstory "Robinson", welche jeder kennt und kaum einer gelesen hat, neu zu erzählen.
Am Anfang war die Insel
Die Geschichte setzt, in breitestem Oberländer Dialekt, in der zweiten Schöpfungswoche ein, als der liebe Gott, müde seines Werks, sich niederließ und aus den Abdrücken seiner Knie zwei Becken entstanden, welche ein höllischer Regenguss sogleich auffüllte und in Thuner- und Brienzersee verwandelte. Dazwischen materialisierte sich aus einem göttlichen Popel die Touristenmetropole Interlaken als "Paradies ohne Apfel und Schlange", und zum krönenden Abschluss wurde eine Miniinsel erschaffen, Schauplatz der Szenerie, die heute (und das ist Fakt) als Grillplatz vermietet wird.
Abwart Angelo (Dominique Jann) klebt die Inselumrisse mit Gafferband auf den Boden und berichtet von seiner Tätigkeit als Grillguru, als ein sichtlich verzweifelter Robinson (Michael Wolf) auf fahrbarem Untersatz mit Habsburger Flagge das Ufer erreicht. Die Euphorie, die Utopie und die Vision sind dem laut rezitierenden Aristokraten abhanden gekommen. Stracks übernimmt er das Zepter, sprich die Regie, macht aus Angelo einen dienstbaren Dienstag, verlangt erst seine Unterwerfung, dann die große Jagd.
Doch im Zeitalter der Hyperzivilisation gibt's auch auf Inseln nichts zu jagen und eine Wurst zu jagen, ist dem besessenen Abenteurer doch zu doof. So schleppt Dienstag zwecks Unterhaltung des verirrten Gastes seine einheimischen Freunde auf die Insel. Es sind allesamt gescheiterte Existenzen aus den umliegenden Dörfern, die sich gegen Barzahlung verdingen, dem eitlen Snob zu seinem Spaß, zur Illusion eines Abenteuers zu verhelfen.
Spiel ohne Grenzen
Doch die Absicht steckt voller Tücken und die Truppe manövriert sich im Nu in eine handfeste Kulturkrise. Angefangen beim Streit über die Vorherrschaft von Schweizer Dialekten bis zum Streit über die Brauchbarkeit von Utopien, liegt sich das disparate Inselpersonal, welches als Schauspieltruppe auch immer mal wieder seinen Arbeitsprozess reflektiert, permanent in den Haaren.
Pfadfinderatmosphäre, Dekorations- und Selbstversuche täuschen nicht über die Tatsache hinweg, dass das Abenteuer per se nicht einmal als Metapher mehr funktioniert. Alles gehabt, déjà-vu und passé. Selbst eine Revolution kriegt man nicht gebacken und so verlässt Robinson, der seine Rolle schon zu Beginn als "überstrapaziert" einschätzte, enttäuscht die Insel.
Kommt er nach Jahren nunmehr als Regisseur zurück, gibt's ein großes Hallo, ein Happy-End à la "Hair" und die unter befriedigendem Nachweis erbrachte Einsicht, dass auch das Recycling von Abenteuern ein wenig abenteuerlich sein kann.
Bonjour Kreatur
Regisseur Matto Kämpf bringt diesen sehr freien "Robinson" aus den Federn des Autorenkleeblatts Debatin, Kämpf, Lenz und Urweider als heiteres Vexierbild auf die Bühne, und serviert statt Moral und Message eine Menge Spaß an der simplen Verwandlung. Das eingespielte Textteam bietet nach "Billy dr Bueb" (2005) und "Vreni" (2006) auch diesmal köstlichen Kalauer und vergnüglichen Mundartwitz.
Die Ausstattung von Franziska Geiser unterstreicht mit detailverliebten Kreaturen und Palmen aus Papier und Pappe die hohe Affinität der Produktion zur Ästhetik des Bastelns – zum Universum des Kinderzimmers also, in dem bekanntlich die allergrößten Abenteuer generiert werden. So jagt diese urban angehauchte Heldenversion zwar beherzt das theatralische Beutetier, wirklich gefährlich wird sie allerdings nie.
Robinson
von Andreas Debatin, Matto Kämpf, Pedro Lenz und Raphael Urweider
Regie: Matto Kämpf, Bühne und Kostüme: Franziska Geiser, Musik: Patrick Abt, Mago Flück, Olifr Maurmann, Licht: Michael Omlin.
Mit: Vanessa Brandestini, Andreas Debatin, Gerhard Goebel, Dominique Jann, Anna-Katharina Müller, Martin Schurr, Michael Wolf.
www.theaterspektakel.ch
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