Podcast - Über die Juryabschlussdiskussion bei den Mülheimer Theatertagen 2016
Golden Goal
29. Mai 2016. Die Mülheimer Theatertage haben den Ruf, das wichtigste Dramatiker-Festival deutscher Sprache zu sein – sicher auch, weil das Preisgeld des Mülheimer Dramatikerpreises stattliche 15.000 Euro beträgt. Eine Besonderheit der Theatertage ist die doppelte Jury – eine Auswahljury aus Theaterkritiker*innen lädt die sieben Texte in ihren (meist Uraufführungs-)Inszenierungen ein, eine Preisjury, in der auch Theaterpraktiker*innen sitzen, diskutiert am Ende ihre Entscheidung für den Sieger oder die Siegerin öffentlich und begründet ihre Entscheidung.
Kritik an der Vergabe des Mülheimer Dramatikerpreises gab's öfter, etwa als 2007 die Dokutheater-Macher Rimini Protokoll ausgezeichnet wurden oder Elfriede Jelinek zwischen 2002 und 2011 ein Preis-Abonnement zu besitzen schien. Nach der öffentlichen Jurydiskussion 2016, die nachtkritik.de als Livestream übertrug, hagelte es nun im Kommentarthread zur Preisträgermeldung Kritik an der Abschlussveranstaltung. Im Gespräch mit Georg Kasch erklärt nachtkritik.de-Redakteur Christian Rakow, der 2014 selbst Mitglied der Preisjury war und die diesjährige Jurydiskussion für nachtkritik.de auf Twitter begleitete, was seiner Meinung nach schief gelaufen ist – und was das mit dem Golden Goal im Fußball zu tun hat.
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ich verfolge das Mülheimer Festival seit gut zehn Jahren – und die Festivalphilosophie war für mich stets eine ganz andere, als Sie sie nun beschreiben. Ich habe die Nachgespräche beim Stücke-Festival und auch die Jurydebatte nur deshalb immer meinen Theaterfreunden aus der Umgebung empfohlen, weil ich sie stets ein "konstruktives Streiten" über Stücke und Inszenierungen war, da konnte man viel mitnehmen. Und so wurde es auch das Festival damals nie müde zu betonen. Und die Presse lobpreiste bis vor ein paar Jahren noch die absolut ungewöhnlichen Diskussionen, die so fundiert, kritisch, analytisch und zugewandt waren und die in der Schlussdebatte auf kritische und offene Weise zu einem absolut fairen Ergebnis führten – da konnte das Theatertreffen nur neidisch werden. Als Sie 2014 in der Jury waren (ich erinnere mich, diese Debatte habe ich im Live-Stream verfolgt), erlebten wir die bis dato unerfreulichste Schlussdiskussion, weil der damalige Moderator Raabke überfordert und unvorbereitet war. Von diesem Jahr aus eine Festivalphilosophie der Konzilianz abzuleiten, wäre meiner Erfahrung nach falsch. Dass Herr Raabke nach diesem Desaster nicht mehr nach Mülheim geholt wurde, spricht Bände. Die Festivalphilosophie ist in der Zeit vor 2014 zu suchen, noch unter alter Moderation (Jörder) und alter Leitung (Balzer). Ich dachte im Raabke-Jahr, das sei ein einmaliger Ausrutscher, aus der man in Mülheim gelernt habe, aber das Gegenteil scheint nun der Fall zu sein. Dass das Diskussionsniveau in Mülheim nun konstant schlecht bleibt, ist schlimm, wenn man weiß, was in Mülheim mal möglich war. Die alten Jury-Debatten kann man immer noch anschauen, da können Sie sich ein Bild machen: https://www1.muelheim-ruhr.de/kunst-kultur/theater/stuecke/livestreaming/122
Es wäre also gut und wichtig, in einer Kritik, wie Sie sie im Podcast versucht haben, dann auch konkret zu werden und (ganz mülheimerisch) offen und fair zu krisisieren – und nicht über Festivalphilosophien zu theoretisieren.
Wie versteht sich das Festival? Als ernsthafte Plattform und Bühne für neue Dramatik über die Aufführungen hinaus oder als weichgespülte, beliebige Veranstaltung, wie es viel zu viele gibt?
Eine kritische Auseinandersetzung mit den neuen Stücken und den eingeladenen künstlerischen Teams und eine profunde, transparente und damit für die Zuschauer nachvollziehbare Diskussion der Preisjury sind wichtige Voraussetzungen für den Erfolg der "Stücke" in Mülheim. Dabei spielt auch der Moderator und sein Selbstverständnis eine nicht unentscheidende Rolle.
Quo vadis Mülheim?
Auch würde ich - nicht nur Herrn Laages - zu bedenken geben, dass man am öffentlich geäußerten Unbehagen nicht verzweifeln sollte und dabei Twitter-Unbehagen und anders geäußertes Unbehagen unbedingt differenziert bewerten sollte. Möglichst bereits differenziert wahrnehmen sollte. Weil die TwitterFacebooketc. - Formatierungen mehr Unbehagen ungefiltert durchlassen, als den Twitterern und Facebookern aus dem Profi-Lager möglicherweise selbst bewusst ist und was sie im Nachgang dann auch durch fachlich begründetere Kommentare nicht mehr glaubwürdig korrigieren können. Eventuell.
Aber offensichtlich waren das nicht die abgesprochenen Voraussetzungen für die Jurydiskussion. Es galt wohl eine "Hausordnung", die dem Publikum bis heute verborgen blieb. Es nährt den Verdacht, dass die Jury lieber hinter verschlossenen Türen getagt hätte in der Form einer Konklave. Dann wäre zumindest der Beschädigungsgrad für das Festival deutlich geringer.
Ihre Antwort auf die vielen Einwände gegen Ihre Moderation zeigt schon eine erstaunliche Kritikresistenz. Sie müssen eigentlich nur die vorangegangenen Posts (hier und bei der Mülheim-Presseschau) lesen – da wurden doch alle Ihre jetzt nochmal wiederholten "Argumente" schon widerlegt. Niemand hat von Ihnen gefordert, Sie sollen sich wie ein Juror mit eigenen Beiträgen zu den Stücken in die Diskussion einmischen – wie kommen Sie überhaupt darauf? Aber mit diesem Selbstverständnis als Moderator (ich lasse die Juroren in jedem Fall machen, was sie wollen...) schaffen Sie den Job schlicht ab. Die Diskussion, die wir im Saal erlebt haben, wäre ganz ohne Moderation nicht schlechter gewesen.
Und nochmal zum "Fall Wille": Das Problem war nicht, dass er am Ende eine abweichende Meinung hatte und sich umentscheiden musste. Das Problem war, dass er bei den vorangegangenen Runden (drei Stücke rauswerfen) immer schon unter den Letzten war, die sich zu entscheiden hatten, und, viel wichtiger, dass er bei den Schluss-Plädoyers zunächst übersprungen wurde – er wäre nach Hubert Spiegel und Anne Lenk (soweit ich mich erinnern kann) an der Reihe gewesen, sagte dann aber, er wisse noch nicht so recht. Das ließen Sie durchgehen, sodass er als Letzter sein Plädoyer machen konnte! Erst dadurch kam die Situation zustande, dass es zwei zu zwei (Höll kontra Berg) stand und Wille sich zunächst für etwas Drittes (Melle) entschied - um sich dann plötzlich doch für Höll zu entscheiden. Im Moment der Diskussion, als Sie Wille die Möglichkeit gegeben haben, seine ganz eigene Reihenfolge zu diktieren, waren Sie sich offenbar über die Konsequenz überhaupt nicht bewusst. Uns Zuschauern im Saal aber war das vollkommen klar!