Schauspielhaus Zürich - Was Nicolas Stemann + Benjamin von Blomberg geleistet haben
Sie müssen sich nichts vorwerfen
22. Februar 2023. Apiyo Amolo und Thomas Schmidt waren in den letzten Jahren beratend am Schauspielhaus Zürich tätig. Sie finden, dass Nicolas Stemann, Benjamin von Blomberg und ihr Team sich um die Entwicklung eines neuen Stadttheaters verdient gemacht haben: mit beispielhaften Veränderungen, die Vorbildwirkung haben sollten.
Ein Gastbeitrag von Apiyo Amolo und Thomas Schmidt
22. Februar 2023. Warum jetzt schon wieder? Warum diese kulturpolitische Rückwärtsrolle in Zürich? Alles erinnert an den Eklat, als vor 20 Jahren der auf dem Theatertreffen 1997 als "Theaterregisseur des Jahrzehnts" ausgezeichnete Christoph Marthaler aus dem Amt des Intendanten gejagt und die Stadt Zürich von einem Kulturkampf zerrissen wurde. Wir sind sprachlos, dass sich dieser Vorgang wiederholt, dass die Stadt Zürich und ihre kulturpolitisch Verantwortlichen erneut zwei mutige und innovative Intendanten aus dem Amt drücken und damit das Projekt Schauspielhaus Zürich bereits nach fünf Jahren Intendanz beenden.
Das Ende der Intendanz Stemann/von Blomberg bedeutet natürlich mehr und geht weit über das hinaus, was ein turnusmäßiger Wechsel mit sich bringt. Im Grunde genommen hat die Stadt Zürich der Idee eines Stadttheaters der Zukunft und den Teilen der Belegschaft gekündigt, die sich auf dieses Projekt eingelassen und in den letzten Jahren hart dafür gearbeitet haben. Das schlägt Wunden, und ein fragiler Theatermechanismus heilt nur langsam, ehe er wieder die Qualität erzielen kann, die es für künstlerische Spitzenleistungen braucht.
Es tut uns leid, dass nicht die große Chance gesehen wurde, den ein künstlerischer Neuaufbruch mit sich bringt, der mit einer strukturellen Reform verbunden ist. Es kann in diesem Moment kein Trost sein, dass jedes Theater, das Neues wagt und damit neue Pfeiler einschlägt, die Grenzen ein Stück in Richtung Zukunft verschiebt. Und, soviel vorweg, die Kolleg*innen am Schauspielhaus Zürich haben diese Grenze deutlich verschoben und damit neue Maßstäbe gesetzt, beim Suchen und Finden der Stadtgesellschaft und ihrer Communities, und in der Reflektion neuer Wege mit Publikum und Programm in den sich verändernden Strukturen des Theaters.
Die Leistungen der beiden Intendanten weisen nach außen und innen. Ihnen und ihrem Team ist es gelungen, das Haus zu öffnen, neue, diverse Publikumsgruppen zu gewinnen und ihnen eigene Räume zu geben. Menschen konnten plötzlich partizipieren, die bislang keinen Zugang zur bürgerlichen Institution Theater hatten. Man muss hierbei die Besonderheiten der Vielvölkerstadt Zürich berücksichtigen: über 32 Prozent der Zürcher Bevölkerung sind internationaler Herkunft und nicht eingebürgert, sie entstammen rund 170 verschiedene Nationalitäten. Über 20 Prozent der Zürcher*innen geben Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch nicht als Hauptsprache an. Zudem verfügt die Stadt Zürich über eine große und aktive LGBTQIA+-Szene.
Breites Angebot für alle
Damit die Besucher*innen möglichst viele unterschiedliche Inszenierungen und Kunstformen am Schauspielhaus entdecken und sich auch immer wieder von einem Theaterabend überraschen lassen können, hat die Zürcher Dramaturgie ein breites Angebot gestrickt, das allen Bevölkerungsgruppen den Zugang ermöglicht. Es wurden verschiedene Formate am Haus eingeführt, die zum Ziel haben, bislang marginalisierte Zuschauer*innengruppen aktiv anzusprechen und einzuschließen. Neben den Bühnenstücken (vor allem Uraufführungen), die sich auch inhaltlich mit Diversitätsfragen auseinandersetzen, gibt es die Reihe enterspaces, die von Miriam Ibrahim und Brandy Butler kuratiert wird.
Es gibt Vorträge, Workshops, Talks, und Zuschauer*innen-Gruppen haben das Wort und sind bestrebt, Safer Spaces für bislang marginalisierte Gruppen einzurichten. Dabei wollen die BIPoC*-Gruppen nicht unter sich bleiben, sie haben inklusive Meet & Greet Veranstaltungen entwickelt, die sich zwar an alle richten, aber die auch klar als ein Zeichen der Repräsentation von BIPoCs in verschiedenen Kunstformen gesetzt werden. Hinzu kommen Reihen, in denen Autor*innen, wie Sharon Dodua Otoo und Hengameh Yaghoobifarah gelesen haben und auf eine reichhaltige und exquisite diverse Literatur verweisen, die im Schauspielhaus Zürich für alle Zürcher zugänglich gemacht wird.
Dass die Reihen in den Zuschauersälen diverser werden und man von einer inklusiven Theaterpraxis sprechen kann, machen erste kleinere Umfragen am Haus und regelmäßige Saalbeobachtungen deutlich. Sie werden von Aufnahmen schwenkender Kameras bestätigt, mit denen jüngere Diskussions-Abende mit einem diversen Publikum zum Beispiel im Schweizer Fernsehen und auf 3Sat-Kulturzeit ausgestrahlt worden sind. Wenn man die Kritiker*innen des vermeintlich viel zu "woken" Zürcher Schauspielhauses jedoch in den Medien hört, könnte man fast vermuten, dass bald keine Premierenplätze mehr für weiße Besucher*innen frei sein werden. Das ist natürlich Unfug.
Es sind immer nur kleine Gruppen, die am lautesten Krach schlagen und auf sich aufmerksam machen. Und so wundert es nicht, dass das, was von einigen Medien als cultural clash verkauft wird, vielleicht doch eher das Resultat konservativer Kulturpolitik sein könnte, die nach den Hebeln der Macht schielt und erste Restaurierungsmaßnahmen in Auftrag gegeben haben könnten. Aber ein Narr ist, wer hier zu viel spekuliert.
Auf struktureller Seite hat sich das Schauspielhaus mindestens ebenso stark verändert wie auf der programmatischen: Aus einem hierarchischen Haus wurde ein neues, flacheres Organisationsmodell mit Doppelspitze und einem Team aus acht Hausregisseur*innen entwickelt. Uns war klar, dass das nur der Anfang sein kann. Es muss weitergehen, mit einer noch größeren und breiteren ersten Leitungsebene und noch flacheren Hierarchien und kürzeren Informationswegen. Aber es war ein guter Anfang.
Ein struktureller Coup war, dass die beiden Intendanten nicht nur mit einem divers zusammengesetzten Ensemble, sondern auch mit einem diversen Team aus Hausregisseur*innen zusammenarbeiten. Auch die Neubesetzung von Stellen in der Administration hat zu einer größeren Diversität geführt. Eine hochqualifizierte und engagierte Diversitätsbeauftragte, Yuvviki Dioh, die wir im Kompass-Team kennengelernt haben, wacht über diese Prozesse. Sie ist kürzlich erst als Züricherin des Jahres 2022 vom Stadtmagazin Tsüri.ch gekürt worden.
Yuvviki Dioh ist Teil der Leitungsrunde und kann unabhängig von Hierachiestufen ihr Plazet aussprechen, ob es um Neubesetzungen, um interne Konflikte, die Arbeit der Dramaturgie und der Hausregisseur*innen oder öffentlichkeitswirksame Gespräche geht, wie kürzlich mit dem Zürcher Schauspieler Sebastian Rudolph, mit dem sie sich zu einem öffentlichen Streit-Gespräch getroffen hatte. Sie wird – anders als an deutschen Häusern – aus dem Personalbudget des Hauses bezahlt, was auch in der Bundesrepublik ein Standard werden müsste, für die Zeit, wenn sich die Kulturstiftung des Bundes eines Tages aus der 360°-Finanzierung zurückgezogen haben wird.
Die drei Pfeiler einer guten Personalpolitik
Zudem hat das Team um Stemann und von Blomberg ein Personal-Entwicklungs-Konzept, ein Reglement zum Schutz der persönlichen Integrität und einen Code of Conduct (Verhaltenskodex) entwickelt, die wir als die drei wesentlichen Pfeiler einer guten Personalpolitik, eines guten Miteinanders und guter Arbeitsbedingungen betrachten, die jedes Theater haben sollte.
"Das Schauspielhaus Zürich schützt die Persönlichkeit und Würde aller Mitarbeitenden (Festangestellte, Temporäre und Gäste (Mitwirkende im Auftrag)). Diese haben Anspruch auf Schutz der physischen und psychischen Unversehrtheit am Arbeitsplatz“, steht in der Präambel des Reglements, das zugleich auch als Konzept für modernes Konfliktmanagement dient. Es kann als Leitmotiv der Personalpolitik betrachtet werden.
Die Führungskräfte und Mitarbeiter*innen werden regelmäßig geschult und die Personalpolitik wird familienfreundlich gestaltet. Neue Mitarbeiter*innen, die an das Haus kommen, durchlaufen einen Willkommensprozess (Onboarding), ein betriebliches Gesundheitsmanagement wurde eingerichtet, alle Stellen haben Funktionsbeschreibungen und Verantwortungsbereiche werden klar festgehalten. Es gibt zu allen Produktionen Nachbesprechungen, Arbeits- und Probenprozesse werden nachbereitet. In regelmäßigen Klausuren und in Arbeitsgruppen werden diese Prozesse weiterentwickelt. Und zu all dem ist es gelungen, ein dichtes und künstlerisch anspruchsvolles Programm anzubieten.
Die Trias wird ergänzt durch eigens entwickelte Werkzeuge: Es gibt die Teamzeit, das heißt allen Mitarbeiter*innen werden drei Arbeitsstunden je Monat zur eigenen Verwendung geschenkt, die jede und jeder für sich – ob in Gruppen oder allein, ob für eigene oder kollektive Projekte nutzen darf. Das sind immerhin vier volle Arbeitstage pro Person im Jahr, knapp 1400 Arbeitstage für die gesamte Belegschaft. Aus dieser Teamzeit sind eine hauseigene Bibliothek und ein Theater-Garten entstanden, zudem gibt es viele kleinere und größere selbstgewählte Projekte und Lerngruppen, in denen sich die Mitarbeiter*innen in selbstorganisierten Workshops und eigener Regie fortbilden.
Es gibt auch Kritik: Nicht alle im Theater waren gleichermaßen von Anfang an hellauf begeistert über die schnellen Veränderungen, aber das wurde nicht weggedrückt, sondern diskutiert. Und natürlich wurden auch kleine und größere Fehler gemacht, Fehler, die in anderen Städten weitaus weniger diskutiert und auf die Folgen der Pandemie geschoben worden sind. Zuschauer*innen aus wichtigen bürgerlichen Gruppen der Zürcher Gesellschaft gingen verloren, was Benjamin von Blomberg vor laufenden Kameras ohne Umschweife zugegeben hat.
Die neue Zürcher Dramaturgie hatte Auswirkungen auf das Programm und unternahm den Versuch, den männlichen geprägten weißen Kanon zu durchbrechen und zu erweitern. Das war für viele gewöhnungsbedürftig. Die beiden Intendanten haben genau diesen Punkt mit den aufgebrachten Teilen der Zuschauer*innen intensiv diskutiert – dazu gehört Courage. Wenn allerdings die Kritik an den Intendanten zur Generalabrechnung wird und kurz danach gleich das Aus kommt, können die beiden nun nicht mehr beweisen, dass es ihnen hätte gelingen können und womöglich gelungen wäre, die verloren geglaubten Zuschauer*innen wieder zurückzugewinnen.
Das erinnert an eine Zeit der Zensur, an ein Berlin um 1900, in einer Zeit, in der Otto Brahm und später Max Reinhardt den Berliner Zuschauer*innen mit den Naturalisten und Realisten ein völlig neues Programm vorgestellt haben, das anfangs in Arbeiter-Theatervereinen gezeigt werden musste, weil es die bisherige Sicht auf das Programm und das Bild des Theaters völlig zu sprengen schien und die Zensur des preußischen Standes nicht überstand. In zwanzig Jahren wird der Schritt, die Intendanz am Schauspielhaus Zürich nicht verlängert zu haben, auch in bürgerlichen Kreisen sicher ganz anders bewertet werden als heute.
Das Theater kann nur bestehen, wenn es sich rasch weiterentwickelt. Wie sagt Albert Einstein so schön: "Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu belassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert." Da müssen wir schmunzeln, denn den opportunistischen Satz "Die Veränderungen werden schon von allein kommen“ haben wir beide des Öfteren in ganz unterschiedlichen Kontexten gehört. Theater machen heißt eben doch, immer wieder neue Risiken einzugehen.
Die Zürcher Kulturverantwortlichen hätten diese Entwicklungen antizipieren müssen, sie kannten die Lebensläufe und die künstlerische Arbeit der beiden Intendanten und hatten sich mit diesem Team bewusst für ein offenes, diverses und inklusives Theater entschieden, das gewiss mehr als fünf Jahre Zeit brauchte, um Früchte zu tragen und sich zu etablieren – Zeit, die Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg nicht mehr bekommen haben. Warum nun dieses abrupte Ende ohne Klarheit?
Wir bedauern, dass sich alles so schnell wieder dem Ende zuneigt, weil wir aus den Gesprächen mit den beiden und aus der Zusammenarbeit mit den Kolleg*innen des Hauses eine große Hoffnung geschöpft hatten, dass sich mit dem Schauspielhaus Zürich ein längerfristiges Modell eines Theaters der Zukunft etablieren könnte. Endlich haben wir ein belastbares Theatermodell – und es ist bereits im kommenden Jahr zum Sterben verurteilt?
Einblicke in einen Reformprozess
Warum wir diese Binnensicht haben und dennoch von außen berichten können, warum wir uns hier so öffentlich bekennen und einsetzen, hat verschiedene Gründe, verwurzelt in dem Umstand, dass wir das Haus im Gast- und Beobachterstatus gut kennenlernen durften. Wir beide wurden vor etwas mehr als einem Jahr gebeten, die Kolleg*innen des Hauses bei der Entwicklung eines Code of Conduct von außen zu begleiten, zu beobachten und die hierfür nötigen Prozesse zu moderieren. Thomas wurde angefragt, weil er zuvor den beinahe zwei Jahre laufenden Prozess der Entwicklung des Code of Conduct von FAIRSPEC, einer Organisation für Faire Zusammenarbeit und Arbeitsbedingungen der Schweizer Freien Szene, studiert und begleitet hatte. Apiyo wiederum ist in der Zürcher diversen Stadtgesellschaft als Aktivistin, Politikerin und Künstlerin tätig und war deshalb prädestiniert, den Prozess aus der Sicht der Communities zu moderieren. Unsere heutige Begeisterung ist allerdings erst später gekommen. Anfangs war vor allem unser kritisches Auge gefragt. Wir wollten als unabhängige Betrachter*innen genau prüfen, ob alles Gold ist, was glänzt – oder nur eine Sammlung schicker woker Begriffe und Instrumente. Wir nahmen uns vor, besonders kritisch zu sein, wurden aber durch die vollzogenen Reformen, die entstehenden Konzepte, die Offenheit der Mitarbeiter*innen, die Selbstkritik, das Engagement der Kolleg*innen und den Prozess der Entstehung des Kodex eines Besseren belehrt.
Die einschlägigen Wirtschaftslexika bezeichnen einen Kodex als eine Zusammenstellung von freiwilligen Normen und Regeln, die den Mitarbeiter*innen empfohlen werden, um gemeinsam bestimmte machtkritische Personalkonzepte, um Diversität, Inklusion und ein Klima des freundlichen und kooperativen Miteinanders durchzusetzen statt der bislang oft noch herrschenden Prinzipien der Hierarchie und der Angst. Psycholog*innen und Anthropolog*innen haben erkannt, dass die Motivation und die Arbeitsleistungen bei guten und gesunden Arbeitsbedingungen steigen. Daher ist es eher verwunderlich, dass diese Konzepte nicht längst schon inhaltlich breiter gefasst als bislang, für alle Theater verbindlich werden.
Wir haben in dieser Zeit eng mit den Kolleg*innen zusammengearbeitet, die aus den zehn großen Kollektiven des Theaters (Ensemble, Regisseur*innen, Dramaturgie, Administration, Werkstätten, Technik, Personalabteilung, Diversitätsbeauftragte, KBB und Besucherdienste/Kasse) entsandt worden waren, um überhaupt erst einmal zu verhandeln, ob ein Kodex nötig ist und wie man dessen Entwicklung konzeptionell anlegt. Wir erinnern uns an die nachmittäglichen Diskussionsrunden noch immer mit einer großen Intensität, weil viele Bereiche, die in diesem Kodex ausgearbeitet wurden, weit über das hinausgehen, was an Kodizes im Theater heute üblich ist.
Die deutschen Kolleg*innen kennen bereits den Kodex des Deutschen Bühnenvereins, den dieser verabschiedet und breit beworben hat, vor allem als Antwort auf die entfachte Diskussion über Macht und Machtmissbrauch in der Theaterlandschaft. Der etwas verkürzte deutsche Kodex bezieht sich vor allem auf den sexuellen Missbrauch, der in den letzten Jahren zu Beschwerden, Konflikten, Krisen und gekündigten Intendanten geführt hat.
Der Zürcher Kodex hingegen, den das Entwicklungsteam Kompass genannt hat, setzt Maßstäbe, weil die Intendanten zwar den Impuls gegeben, sich aber nicht mehr aktiv in den Prozess der Entwicklung eingemischt haben. Allein dieser Prozess war Ausdruck von echter Partizipation und geteilter Macht, wie wir es bis dahin im Theater nur in den seltensten Fällen erlebt haben. Beide haben losgelassen und ihren Mitarbeiter*innen völlig vertraut.
Radarsystem für Arbeitsbedingungen
Am Kodex des deutschen Bühnenvereins hingegen war keine einzige Spieler*in, keine einzige Mitarbeiter*in beteiligt, so, wie im Bühnenverein noch immer die Stimmen der Ensembles bei den Tagungen und in den Gremien fehlen, um eine echte Repräsentanz der Theater und ihrer Mitarbeiter*innen zu entwickeln. Über die Zukunft der Theater zu verhandeln, ohne dass diejenigen vertreten sind, die als wichtigste Stakeholder zuerst gehört werden müssten, wird hoffentlich bald der Vergangenheit angehören.
Im Gespräch mit den Kolleg*innen in Zürich tauchte immer wieder die Metapher eines Schiffes auf, das man mit einem Kompass auf dem richtigen Kurs halten muss. Der Begriff des Kompasses war für uns deshalb auch ein Leitmotiv, uns mit den wichtigsten und nicht verhandelbaren Wertgruppen zu beschäftigen, die die Arbeit am Theater leiten sollten. Diese Wertgruppen bildeten gemeinsam das Radar-System für gerechte, inklusive, diverse Arbeitsbedingungen und ein solidarisches Miteinander aller Mitarbeiter*innen. Jeder dieser Werte war für sich gesprochen etwas selbstverständliches, aber gemeinsam und im Kompass vereint, bildeten sie den bis dahin höchsten Standard an Arbeitsbedingungen im Theater ab.
Die Mitarbeiter*innen haben den Kompass wie ein hochwertiges Präzisions-Instrument zusammengebaut. Ihnen dabei zuzusehen war beeindruckend und zeugte bereits von der Sensibilität für die Themen eines Theaters der Zukunft.
Der Prozess selbst war auch deshalb komplex und langwierig, weil die Vertreter*innen im Kompass-Team den Arbeitsstand immer wieder in ihre Abteilungen zurückspeisten. Das, was an Bemerkungen, Anregungen und Wünschen kam, brachten sie in die nächste Sitzung mit ein. Wie Bienen, die mit Pollen bepackt in den Bienenstock zurückfliegen.
Die Menschen die im Schauspielhaus Zürich zusammenarbeiten, stehen im Mittelpunkt dieses Kodex, das ist der zentrale Baustein. Der Kompass besteht aus zwei Teilen, er verweist im ersten Teil auf fünf große Wertegruppen und im zweiten Teil auf eine Toolbox, in der sich die Instrumente befinden, die nötig sind, um die Werte zu leben und das innere Klima und das soziale Gleichgewicht im Theater so aufrechtzuerhalten, dass keine Schieflagen und Asymmetrien entstehen.
Wertegruppen von Diversität, Inklusion, Gleichstellung und Zugehörigkeit (Gruppe 1) bis Wertschätzung, Respekt und Freude (5) beschreiben einen Theaterbetrieb, in dem
- die künstlerische Arbeit,
- die Begegnung und der Austausch mit dem Publikum und
- den Menschen und communities der Stadtgesellschaft
mit teamorientierter und wertschätzender Zusammenarbeit im Haus Hand in Hand gehen.
Natürlich gibt es verschiedene Wege, die Zukunft der Theater zu beschreiben und zu gestalten. Hierzu gehört – wie in Zürich gelebt – zumindest ein machtkritischer Ansatz, der das herkömmliche Intendanzmodell und die damit verbundenen Organisationsprinzipien in Frage stellt und verändert, in dem Macht und Entscheidungshoheit nicht nur geteilt, sondern in einem zweiten Schritt über partizipative Modelle zugänglich gemacht werden.
Theater ist Risiko
Zürich ist, soweit wir das beurteilen können, diesen Weg künstlerisch und konzeptionell sehr ernsthaft und vor allem immer sehr ehrlich gegangen und hat damit eine große Strahlkraft entwickelt. Das gefällt nicht zwingend Jedermann. Vielleicht kann man es so zusammenfassen, dass die Verantwortlichen der Stadt Zürich dafür immer noch nicht oder plötzlich nicht mehr bereit waren. Dafür gibt es einige Gründe, auch Fehler haben wir bereits aufgezählt. Fehler, jedoch werden überall gemacht – Theater und Risiko sind natürliche Zwillinge. Das Risiko, sich zu exponieren, seine Träume auf die Bühne zu bringen, die Welt verändern zu wollen – und zu seinen Träumen auch noch öffentlich zu stehen. Dazu gehört Mut. Sehr viel Mut.
Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg sind dieses Risiko gemeinsam mit ihren Mitarbeiter*innen eingegangen und müssen sich nichts vorwerfen, denn aus den Augen sehr vieler Menschen, wir eingeschlossen, entfaltet das Schauspielhaus Zürich gerade jetzt seine Strahlkraft, seine Wirksamkeit und seine große Legitimation. Die beiden sind nicht nur in der Lage, große Künstler*innen in ihren Reihen und auf ihren Bühnen zu versammeln, sondern auch einen Diskurs in einer Wahrhaftigkeit und Intensität mitzugestalten, wie es sehr wenige vor ihnen gewagt haben. Und sie sind das Risiko eingegangen, daran zu scheitern – oder gegen geschlossene Türen zu rennen, wie gerade geschehen.
Kunst ist Revolte
Deshalb sollte man nicht so sehr beachten, was in eher konservativen Blättern getönt wird. Die theaternahe Blase hat zudem leider die völlig unnötige und unwürdige Angewohnheit angenommen, aus Frust, Neid, Eifersucht oder Langeweile das schlechtzuschreiben, was anders, fremd, neu und mutig ist. Auch in den Kommentarspalten von nachtkritik.de, hinter dem geschlossenen Visier eines Pseudonyms, taucht immer mal wieder der fürchterliche Begriff woke oder wokeness auf, mit dem alle Versuche auf subtile Weise abgetan werden, die sich ernsthaft mit institutionen- und machtkritischen, diversen und postkolonialen Positionen am Zürcher Schauspielhausaus und in ihren Produktionen auseinandersetzen, und zwar sowohl künstlerisch als auch strukturell. Diese Versuche als woke zu bezeichnen zeugen von großer Arroganz. Wir können nicht mehr hinter diese Positionen zurückgehen, nicht in der Gesellschaft, in der wir heute leben, und schon gar nicht im Theater, wo wir die Aufgabe haben, die Gesellschaft abzubilden und zugleich auch vorauszuschauen und ihr vorauszugehen. Wie sagt Albert Camus? Kunst ist die Revolte gegen die unvollkommene Welt.
Dies soll noch kein Abgesang sein, alles andere als das, denn am Schauspielhaus Zürich wird noch ein Jahr lang eines der ganzheitlichsten Theaterprojekte vorangetrieben, das es in der deutschsprachigen Theaterlandschaft in den vergangenen zwanzig Jahren gegeben hat. Vielleicht ging das alles ein wenig zu schnell und unvorbereitet für diejenigen, die die alten Gewohnheiten nicht missen wollten. Das könnte man beim nächsten Mal vielleicht noch klüger einfädeln und mit noch mehr Vermittlungskraft begleiten können.
Dabei waren Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg immer selbstkritisch und reflektiert. In einem ersten ausführlichen Interview, dass Thomas vor zwei Jahren mit ihnen führen durfte, um Material für eine nächste Publikation zu sammeln, konnte er Zeuge davon werden. Die beiden haben sich nicht verschlossen, Partizipation ging für sie auch soweit, bereits in einem frühen Stadium selbstkritisch über das Erreichte und das noch Unerreichte zu resümieren. Auch deshalb möchten wir festhalten, wie es wirklich war, bevor es vergessen ist.
Jetzt geht in Zürich wieder die Suche nach einer neuen Intendant*in los. Was für ein immenser Kraftaufwand für alle Beteiligten und, vor allem, für die Mitarbeiter*innen am Haus. Vieles erinnert an den traurigen Absch(l)uss der Ära des großen Christoph Marthaler am Schauspielhaus Zürich. Theatergeschichte wiederholt sich nicht zum ersten Mal und vieles ist ewige Wiederkehr auch in unserem Kosmos.
Wir hoffen nun, dass die beiden mit ihren Künstler*innen und Kolleg*innen noch einen guten Abschluss haben werden und das Theater als das feiern können, was es sein soll: ein Kraftquell und ein Fest für die Menschen, das durchaus anstrengend und umwälzend sein darf. Denn von alleine wird sich nichts ändern. Toi, toi, toi für die Zukunft!
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Diese fehlende Solidarität aus der freien Szene kann man leider aktuell nur erklären mit der unglücklichen Tatsache, dass in Zürich aktuell bis Ende März 2023 alle Subventionen neu verteilt werden und alle Angst vor den Kulturverantwortlichen und Kommissionen/Jurys der Stadt haben. Nur: An wen kann man sich richten als Theaterleiter:innen/Theaterschaffende, wenn so explizit und gezielt gemobbt wird, mit Rückendeckung der rechtsbürgerlichen Presse? (wie hier der Fall). An die Stadt? Geht in dem Fall leider nicht. Denn von dort gehen ja die Kampagnen aus. Aber genau wegen dieser unmöglichen Situation sind solche Texte nun so wichtig und diese werden nun auch einen Turn-Around einleiten, wie auch schon im Fall Bührle im Kunsthaus. Erst, wenn die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung namentlich genannt werden (inkl Stadtpräsidentin) werden diese Verantwortlichen einschwenken und vielleicht auch diesem Modell weitere Jahre ermöglichen. Denn als Verhinderer:in von Diversität will (zum Glück) niemand dastehen.
Ein Schelm wer böses denkt, dass die AutorInnen gerade noch auf der payroll des Hauses vorkamen...
(Lieber Ulrich Heinse -
der Text ist eine dezidierte Innensicht und Positionierung von beiden, die an dem organisatorischen Prozess (Kodex etc.) des Schauspielhauses beteiligt waren. Dass beide beraten haben, daraus wird ja kein Hehl gemacht. Das als Anmerkung / die nachtkritik-Redaktion)
Hier ist eigentlich der wirklich dümmste Gedanke enthalten: "Es sind immer nur kleine Gruppen, die am lautesten Krach schlagen und auf sich aufmerksam machen. Und so wundert es nicht, dass das, was von einigen Medien als cultural clash verkauft wird, vielleicht doch eher das Resultat konservativer Kulturpolitik sein könnte, die nach den Hebeln der Macht schielt und erste Restaurierungsmaßnahmen in Auftrag gegeben haben könnten."- Ja eben!!!! Das vermeintliche Zielpublikum der beiden vermeintlch kongenialen Intendanten- innerhalb einer ziemlich kleinen Gruppe (nämlich, die der TheaterbesucherInnen!) eine noch kleineren (lautstarken!!!) Gruppe, ist es doch mindestens ebenso kritisch zu beäugen, odder??? Und tatsächlich ist es nicht so, dass ausschließlich eine koservative Kulturpolitik alles vermeintlich Schöne absäbelt, sondern in erster Linie einfache TheatergängerInnen, die die Sehnsucht nach Erzähl- und Schauspieltheater haben.
Es spricht nichts dagegen, einen solchen Prozess einmal zu beschreiben, wenn man ihn beispielhaft findet. Eine Intendanz zu beurteilen, ist aber was anderes. Und Leitungsverhalten zu analysieren oder zu bewerten ist wieder was anderes. Aber hier vermischt sich das alles aus Innensicht miteinander.
Drei kurze Fragen an die Verfasserin und den Verfasser: wie viele Aufführungen haben Sie beide jeweils im Schauspielhaus Zürich live vor Ort gesehen? Wie fanden Sie diese Aufführungen? Finden Sie Aufführungen sind ein wesentliches Kriterium bei der Beurteilung einer Intendanz?
Der Text ist nämlich nicht nur ehrlich und solidarisch (niemand hat behauptet, dass er unparteiisch ist), sondern auch theatertheoretisch extrem informativ. Hier wird ein ernstzunehmendes transformatives Stadttheater als Modell sehr detailliert beschrieben. Aufregende strukturelle Maßnahmen werden konkret benannt und somit für andere Institutionen übertrag- und anwendbar, natürlich in der Hoffnung, dass diese mehr Zeit bekommen, um tatsächlich auch die Früchte tragen zu können.
Danke Schauspielhaus Zürich, danke Apiyo Amolo und Thomas Schmidt!
"Theater und Risiko sind natürliche Zwillinge. Das Risiko, sich zu exponieren, seine Träume auf die Bühne zu bringen, die Welt verändern zu wollen – und zu seinen Träumen auch noch öffentlich zu stehen. Dazu gehört Mut. Sehr viel Mut." Dem kann ich nur zustimmen.
Ob es Mut ist, oder Lust auf Menschen und Kunst oder Idealismus oder einfach der Wunsch, etwas -in diesem Fall das Schauspielhaus Zürich in eine gute Richtung zu verändern, zu prägen, es bekommt jedenfalls meinen Respekt.
Da (große) Veränderungen Zeit benötigen und diese Zeit ihnen nicht gegeben wurde, werden sie hoffentlich weiterziehen und ihre Diversitätsideen an einem anderen Ort aussäen. Dazugelernt wurde sicher auf mehreren Seiten.
Die Zeit in München mit Matthias Lilienthal hat die Stadt jedenfalls bereichert und hinterlässt eine Lücke..
"Die schwierigen Erfahrungen von ehemaligen und aktuellen Mitarbeiter:innen mit dieser Intendanz wurden protokolliert und dem Verwaltungsrat bereits 2020 kommuniziert. Zu keinem Zeitpunkt gab es von dieser Intendanz das Bestreben Veränderungen in der Betriebsführung zu implementieren, welche sich durch eine ausserordentlich übergriffige Kontrolle oder schieres Chaos auszeichnete."
Das erzeugt ein etwas anderes Bild als das bisher gesehene: hatte die Intendanz Stemann/Blomberg nach innen noch ein anderes Gesicht? Eines das sich unterscheidet von dem medial von ihr aggressiv verbreiteten (auch unter Mithilfe von nachtkritk)?
Würde die Redaktion der Sache dieses Mitarbeiter:innenprotokolls einmal nachgehen?
Dennoch sind auch kritische Fragen zu stellen: Wieso hat die halbe Hausregie (Yans Ross, Leonie Böhm, Alexander Giesche) das Haus mittlerweile verlassen? (...) Wieso ist es in der Stadt kein Geheimniss, dass das Ensemble massiv zerstritten ist und es nicht gelungen ist die Tanzcompagnie mit dem Sprechensemble zusammenzubringen/versöhnen?
Wieso spricht das Ensemble nicht?
Grundsätzlich finde ich: sie haben viel versucht und hätten noch mehr Zeit gebraucht. (...)
Trotzdem: gerade als junger Mensch lieb ich deine Kunst, Schauspielhaus! Und ich bin sehr froh, lebe ich in dieser Zeit in Zürich und befinde ich mich selbst in meiner künstlerisch formativen Phase. Ich kann mir keine bessere Inspiration vorstellen. Danke dafür!
(Anm. Redaktion: Der Kommentar enthielt einige unüberprüfbare Behauptungen zur Lage der Gewerke und zu Leitungsgebahren, die gestrichen wurden.)
wir prüfen jeden Kommentar auf inhaltliche Korrektheit, bevor wir ihn veröffentlichen. Eine Verifizierung ist uns allerdings in vielen Fällen nicht möglich.
Wir bitten daher um Verständnis, dass wir Kommentare, die unüberprüfbare Tatsachenbehauptungen enthalten, nicht veröffentlichen, insbesondere dann nicht, wenn diese pseudonym gepostet werden.
Bei Nachfragen können Sie sich gerne an redaktion@nachtkritik.de wenden.
Herzliche Grüße
Die Redaktion
Dann kommt hier halt nur eine Meinung: Fragt die ehemaligen Mitarbeiter:innen, wie es wirklich war unter dieser Intendanz zu arbeiten. (...)
Den Kommentar 8 von Sophie kann ich genau so unterschreiben.
Mensch vergleiche das (via Geschäftsbericht) öffentlich zugängliche Mitarbeiterverzeichnis zu Beginn der Intendanz, mit dem aktuellen: Nicht nur bei der Hausregie, viele Personen sind schnell wieder gegangen.
@Schwarz: Doch die Herren haben Verantwortung, sie erhalten dafür einen Intendantenlohn.
Es zeugt schon von einem sehr tiefen Bewusstein für gesellschaftspolitische und kulturpolitische Prozesse, wenn durch solche anonymen Anschwärzungen die Kampagnen von Rechts legitimiert und gestärkt werden. Wer auch nur ein bisschen die Berichte vom Sommer 2022 mitbekommen hat, weiss, dass es Leute am SHZ gegeben hat, die gelitten haben unter den internen Debatten/Diskurse, u.a. heftige Debatten über unbewusste Privilegien, White Fragility etc etc., aber dass diese eben auch wichtig waren für viele Prozesse. Diese Diskussion wurde geführt und jeder und jede war eingeladen sich daran zu beteiligen.
Ich habe am SHZ mehrere Intendanzen erlebt, auch als Mitarbeiter und kann manches Lied singen von System-Macht, Intrigen, Sexismen, Herabsetzungen, Mobbing. Diese schlimmen Vorgänge ensprangen alle der hierarchischen Stufungen, welche von den Setzungen des deutschen Stadttheaterbetriebs kommen - und überall an diesen Theatern anzufinden sind. Was ich aber nie erlebt habe in all den Intendanzen seit 1995, dass gewisse Kernfragen angegangen wurden, wie unbewusste Rassismen, latenter Sexismus, koloniale Setzungen usw. Das hat das Team seit 2019 Neues probiert - und wie auch Tobi Müller sagt - in dem NK-Podcast- bricht dann - auch wegen dem "Tocqueville-Paradox" - sehr oft erst Recht Unfrieden aus. Aber auch das wurde breit und offen diskutiert, flankiert von einer historischen Anti-Woke-Kampagne rechtsbürgerlicher Kreise.
Wer also auch nur ein bisschen Zivilcourage hat, soll sich doch jetzt äussern, wenn er/sie so überzeugt ist von dem Flop, den unnötigen Versuchen dieser Team-Arbeit. Das betrifft auch Teile der technischen Belegschaft. Äussert euch doch, anstatt anonym rumzugiften. Und, wie ich oben schon sagte, was hier aufgesetzt wurde, ist nicht abhängig von Stemann/von Blomberg. Die haben es initiert, aber was hier zur Debatte steht - und verteidigt wird - ist das ganze Team, welches hier neues probiert hat. Wenn ihr nun alle wieder in die Neunziger des 20 Jhd zurückwollt, gut, dann macht das. Ihr habt die Schlacht gewonnen. Bravo.
Ich denke aber nicht, dass eurer Sieg der Jugend, dem Theaternachwuchs - und insbesondere einer diverseren Gesellschaft - einen Gefallen tut.
https://www.nytimes.com/2023/02/20/arts/wu-tsang-moby-dick.html
Oder um es mit Anna #22 zu sagen: «Fragt die ehemaligen Mitarbeiter:innen, wie es wirklich war unter dieser Intendanz zu arbeiten.»
Das ist genau das relevante Blatt. Wenn ein Team von der Stadt in den Wald geschickt wird. Und dann inmitten dieser gemeinsamen Suche die Übung zu früh abgebrochen wird, ist das eine Art Menschenexperiment. Selbstverständlich fallen dann alle übereinander her. Diese Selbtzerfleischung, inklusive Findungskommissions-Wahnsinn und Neuausmessung der gesamten Belegschaft ist was nun zu kritisieren ist. Es ist menschenverachtend. Vorwürfe gegen Einzelne sind hier nicht angebracht. Die Vorwürfe sind alle an die Stadt zu richten. Gebündelt.
Der Versuch in Zürich wurde abgewürgt und es betrifft nun mal nicht nur die Intendanz, sondern alle, das ganze Team, die sich dafür in die Arbeit gestürzt hat und sicher auch einiges aushalten müsste. All das wird jetzt einfach von einem konservativen Meinungsflügel wegdiskutiert. Sehr schade. Man macht es sich damit auch sehr einfach.
Fragt die Mitarbeitenden!
Fragt die (jungen) Frauen!
Fragt Gewerke!
Fragt!
Ich glaube nicht, dass Verschwörungstheorien mit der Realität sehr viel zu tun haben, das gilt auch in diesem Fall. Und es ist nicht hilfreich, dass nun auch schon Fakten auf realitätsfremde Art interpretiert werden. Die aktuelle Intendanz wird nicht vertrieben oder vorzeitig beendet, sondern der fünfjährige Vertrag wird einfach nicht verlängert. Das ist ein völlig normaler Vorgang. Fünf Jahre müssen prinzipiell genügen um zu zeigen, was man kann. Die meisten Schauspieler etwa haben etwa nur jeweils ein Jahr Zeit, ihr Potenzial zu demonstrieren, mit ihnen werden keine Fünfjahresverträge geschlossen. Sollte eine Intendanz zehn Jahre verlangen oder benötigen, um erst wirklich beurteilbare Leistungen vorweisen zu können, würde irgendetwas falsch laufen. Klar ist: Nach fünf Jahren einer als unbefriedigend empfundenen Intendanz sind Korrekturen möglich, nach zehn Jahren hingegen könnte der gesamte Betrieb des Hauses irreversibel gefährdet sein. Im übrigen beträgt, so ich richtig gerechnet habe, die durchschnittliche Länge aller bisherigen Intendanzen rund fünf Jahre. Was bisher offenbar keinen Skandal dargestellt hat.
Natürlich kann man nun die Schuld auf lauter konservative, reaktionäre Feinde schieben. Mit der Realität im schon lange rotgrün regierten Zürich hat das nichts zu tun, es sei denn, man stuft neuerdings alle, die nicht ausschließlich auf Diversity, Inklusion, Gender und Identitätspolitik fixiert sind und dies dominant im Spielplan verankert sehen wollen, als konservativ oder reaktionär ein. Sorry, aber das ist wirklich zu simpel. Und es gibt eben noch ein paar andere, mindestens ebenso wichtige Themenfelder in der Welt, etwa Krieg, Inflation, Klima, Wohnungsnot, KI oder Migration.
Dem Schauspielhaus und der Zürcher Politik wünsche ich eine rasche und gute Entscheidung für eine Zukunft, die dem früher exzellenten Ruf des Hauses angemessen ist. Es wird vielleicht nicht ganz einfach sein, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen. Das verdeutlicht das Beispiel München, wo die Kammerspiele erst langsam wieder Fuß fassen.
Übrigens: Das sehr ungünstige Agieren der Intendanz bei dem von ihr forcierten, stark in die historische Bausubstanz eingreifenden Umbau des Pfauen wird interessanterweise selten erwähnt, gehört jedoch zentral zum Gesamtgeschehen. Hier hätten bei Blomberg und Stemann die Alarmsirenen losgehen und sie hätten realisieren müssen, etliche Bürger nicht auf ihrer Seite zu haben. Was haben sie dann getan? Mein Eindruck: nichts. Das war mehr als ungeschickt. Aber das ist leider nur ein Punkt unter vielen anderen Punkten, die belegen: Man beginnt eine Intendantenkarriere lieber nicht gleich an einem renommierten Spitzenhaus mit langer Tradition. Dabei können nämlich alle Beteiligten Schaden erleiden (siehe auch die Berliner Volksbühne in den letzten Jahren).
Wobei es in diesem Fall nicht wirklich fünf reguläre Jahre waren. Die Spielzeiten 20/21 und 21/22 waren überall stark geprägt von der Corona-Pandemie, das sollte man vielleicht bei jeglicher Beurteilung im Bewusstsein behalten.
Das impliziert doch das alle Zuschauer und Kritiker denen das Programm nicht gefällt, dorthin zu stecken sind!?
Vielleicht gefällt das Programm ja einfach nicht. Wo bleibt es denn,, das neue, junge Publikum? Vielleicht ist die Qualität halt doch einfach wichtig.
Ich habe das Gefühl, die Kunst entwickelt sich immer wieder in eine Richtung, in der sie nur noch sich selbst dient und das Publikum mehr und mehr unwichtig wird. Fakt ist: Es kommt zu wenig Publikum. Dadurch wird zu wenig eingenommen. Irgendwann hat man die Budgets ausgeschöpft und die Subventionen reichen nicht mehr aus. Fakt ist auch: Es wurde haarscharf an betriebsbedingten Kündigungen vorbei geschrammt. Frei werdende Stellen werden nicht mehr nachbesetzt, die Arbeitsbelastung der verbleibenden Mitarbeiter steigt enorm und Burnouts nehmen zu.
Auch ich sage immer wieder: Macht eine Umfrage bei den Mitarbeitern, fragt wie es ihnen geht. Das Publikum wurde ja schon befragt.
Vielleicht ist der Spielplatz für die Kunst zu groß, die Budgets zu hoch. Vielleicht entsteht wirklich gute Kunst eben nur aus dem Mangel.
Viele Themen die die neue Intendanz angehen wollte, sind absolut richtig, wichtig und dringend. Leider glaube ich, das sie damit vielerorts gescheitert sind.
Ich hoffe sehr, der Kurs in Richtung mehr Diversität und Offenheit wird fortgeführt. Ich hoffe aber auch auf wieder mehr Tiefgang, Qualität und ein Theater das für das Publikum spielt.
Ich persönlich will im Theater endlich wieder berührt werden. Wo ist der Zauber hin, die Faszination, die Begeisterung?
Ich finde die Entscheidung der Nichtverlängerung richtig und notwendig. Ich denke das Vertrauen das sie es finanziell wieder hinbekommen, ist einfach nicht mehr da.
"Vielleicht entsteht wirklich gute Kunst eben nur aus dem Mangel." schreibst du.
Sag das mal dem Schweizer Film, der seit 100 Jahren unterfinanziert ist (im Vergleich zum Ausland) - und in 100 Jahren nur drei Oscars gewinnen konnte, zwei davon gingen an den Drehbuchautor Richard Schweitzer, der nebenbei auch Dramaturg am Schauspielhaus Zürich war (und sich trotz Oscar-Erfolg später das Leben nahm). Dass gute Kunst aus Mangel entsteht ist genau das, was man in rechtsbürgerlichen Zürcher Zeitungen in diesen Tagen lesen kann. Subventionskürzungen täten der Zürcher Kultur grundsätzlich gut. Wenn das also der Schluss ist, den du ziehen willst aus der Geschichte: Nur zu. Dann freu dich.
@Schwarz: Woher wissen Sie denn, dass "wir" nicht tagtäglich mit unserem Gesicht und unserem Namen unseren Abteilungsleitenden und den beiden "Bigbosses" ins Gesicht sagen, was "uns" stört? Wo "wir" Angestellte Probleme sehen, vielleicht sogar Vorschläge machen, was anders gemacht werden könnte, Abläufe verschlanken, Geld einsparen? Und die Antworten darauf nicht umbedingt sehr positiv oder konstruktiv sind?
"Wo Demokratie draufsteht, muss garantiert Demokratie drin sein." Kim Jong-Il
Die Worte, die von der Intendanz kommen, waren und sind schön. Doch Worte auf Papier sind noch keine Arbeitsrealität. Vielleicht hat mensch höhere Erwartungen an jemanden, der behauptet, die Hierarchien abschaffen zu wolllen, als an jemanden, der sich selber von Anfang an als der grosse Chef bezeichnet? Wieso auch nicht? Natürlich gibt es eine rechtsbürgerliche Kampagne, die sich auf alles einschiesst, was ihr nicht passt und insbesondere auch auf die Finanzfrage. Aber hat irgendwer was anderes erwartet? Hat das etwa kulturpolitisch strategisch denkende Menschen überrascht? Es hat erstaunlich lange gedauert, bis sie gekommen ist... passend zu den Wahlen natürlich.
Wenn mensch nun sogar auch gerne hierarchiefreies Theater hat, gerne jüngere (und noch ältere), andere Stücke und Menschen auf der Bühne sieht? Wenn mensch nun Worte und Werte, die ihm etwas bedeuten, verwendet und gebraucht sieht, aber in so entstellender Art und Weise, dass es weh tut? Darf keine Kritik mehr an herrschendem Unrecht geübt werden, nur weil ein vom wem auch immer erwarteter Burgfrieden es verlangt?
Diese Intendanz wäre überall anderswo genauso gescheitert. Am Wiener Burgtheater etwa hat ein sehr erfahrener Mann wie Martin Kušej wesentlich bessere Arbeit geliefert und wurde auch nicht verlängert (durch ein grüne Kulturstaatsekretärin). Was meines Wissens bisher keinen Grund für Legenden oder Verschwörungstheorien geliefert hat. Man möge davon auch bezüglich Zürich endlich Abstand nehmen und akzeptieren, dass 5 Jahre Lehrzeit für Anfänger genügen müssen. Daran ändert auch ein Protestbrief nichts, obwohl es interessant ist, dass so manche Unterzeichnerin den praktischen Theaterbetrieb höchstens aus der Entfernung kennt. Aber es können sich ja die Unterzeichner zusammentun und ein eigenes Theater bzw. eine eigene Theatertruppe gründen - erstaunlich, dass diese Idee noch nicht geäußert wurde. Selbst aktiv etwas zu tun wäre vielleicht hilfreicher und glaubwürdiger als immer nur Forderungen an andere zu richten.
Der Zürcher Politik - die erhebliche Mitschuld an der Situation trägt, weil sie die Bestellung dieses Intendanten-Duos ermöglicht und keine präzisen Erwartungen oder Leistungsvereinbarungen getroffen hat - wünsche ich eine glückliche Hand bei der Suche nach einer geeigneten Nachfolge. Meine Tipps: Nehmt erfahrene Profis, die zudem Zürich und das Haus kennen. Nehmt keine Leute, die Zürich nur als Durchgangsstation für höhere Weihen in Deutschland sehen. Lasst euch kein Theater einreden, das nicht einmal in Berlin erfolgreich wäre.
Dazu muss ich entgegnen, dass Corona der damals neuen Intendanz sehr wohl übel mitgespielt hat.
Was meinen Sie, wie es mit Corona an vielen anderen Häusern "innerbetrieblich" rumort hat? Haben Sie da an der Burg oder in Berlin auch ganz genau mal hingehört? Ich trete ja hier mit Klarnamen auf, caro signore, spreche aber mit der Stimme von Gustav Gründgens.
ich frage dich als so erfahrenen Theatermacher: Kommt es dir nicht eigenartig vor, dass niemand oder kaum jemand aus dem Ensemble den offenen Brief unterschreibt? Was ist mit der Dramaturgie? Was ist mit der Öffentlichkeitsarbeit? Was ist mit den dauernden Abgängen und der hohen Fluktuation von Mitarbeitenden, die sich im Personalverzeichnis ablesen lässt? Alle die im täglichen Nahkontakt mit der so hochgelobten Intendanz waren, halten sich momentan bedeckt. Wer sich einmal mit missbräuchlichen Arbeitsverhältnissen beschäftigt hat, weiss, dass genau dort hinzuhören wäre.
Dass diese Entscheidung aus politischen Gründen getroffen wurde, ist überdies eine Spekulation. Wahrscheinlicher ist, dass die Realität komplizierter ist…