Herbstsonate - Jan Bosses Version von Ingmar Bergmans Film am Stuttgarter Staatsschauspiel mit Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt
Musik im Geisterhaus
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 20. Dezember 2014. Klar, berühmte Pianistin ist gleich Rabenmutter. Liegt in der Natur des Berufs. Wen wundert's? Häufige Abwesenheit, hartes Training, ständiger Erfolgsdruck, künstlerische Egomanie. Nur wenn's bei der Arbeit nicht mehr läuft, muss die Familie herhalten. Und dann Gnade ihr Gott.
Was hat Eva in Ingmar Bergmans Film Nummer achtunddreißig "Herbstsonate" von 1978 ihrer Mutter Charlotte, der Klaviervirtuosin, nicht alles vorzuwerfen: Die schwere Krankheit der Schwester, Evas Unfähigkeit zu lieben, sogar für die Abtreibung von Evas erstem Kind soll Charlotte verantwortlich sein. "Menschen wie du sind gefährlich, sie sollten eingesperrt werden", schreit Eva ihr entgegen. Die Mutter verteidigt sich mit der eigenen lieblosen Kindheit und ihrem beruflichen Stress. Sieben Jahre hatten sich die beiden nicht mehr gesehen, bis Charlotte nach dem Krebstod ihres Lebensgefährten weich wurde, und die Tochter samt ihrem Ehemann, dem Dorfpfarrer Viktor, jetzt in der Provinz besucht.
Viele Worte, wenig Gehör
Mutter und Tochter reden viel: morgens, mittags, nachts. Aber man ist für die Argumente der anderen nicht zugänglich, dreht sich im Kreise: Wie die Bühne im Stuttgarter Schauspielhaus, auf der Jan Bosse jetzt zum zweiten Mal Bergman platziert hat. Wie schon in Bosses Erfolgsinszenierung Szenen einer Ehe hat Bühnenbildner Moritz Müller auch für diesen am Ende umjubelten Abend ein holzsperriges, surreal verwinkeltes Puppenhaus zusammenzimmern lassen – diesmal aus asymmetrisch verbundenen, engen Kasten-Räumen. Zwischen den Szenen irren und klettern die Protagonisten durchs Haus wie in einem Labyrinth.
Das düstere Pfarrhaus wirkt heruntergekommen: die Zimmer wie Abstellkammern, karg möbliert, unwirtlich. Dort ausgestopfte Vögel an der Wand, dort kalte Neonröhren. Mittendrin steigt eine Feuerleiter in die Höhe. Und überall Kerzen, als seien es Gedenkräume. Das Bühnenbild ist atmosphärisch gelungen: das Heim als Unheim, ein Geisterhaus.
Und in der Tat, die Geister lassen nicht lange auf sich warten: Der kleine Erik, der vor Jahren ertrunkene Sohn des Pfarrer-Ehepaars, sitzt mal unterm Esstisch, mal stiehlt er sich durchs Videobild. Evas schwerkranke Schwester Helena (Natalie Belitski) ist auch omnipräsent. Im Film ist Helena ans Bett gefesselt, unfähig sich noch zu bewegen oder sich verständlich zu artikulieren.
Wie im Spinnennetz
Bei Bosse schleicht sie als mysteriöse, stumme Riesenpuppe durchs Haus, keine wirklich reale Figur, mehr ein Gespenst, entstiegen den Fantasien eines schuldgeplagten Unbewusstseins. Robbt gelegentlich an die Mutter heran, um sie überfallartig zu drücken und dabei fast zu erwürgen. Ein Albtraum! Oder sie hockt oben auf der Feuerleiter und wirft rapunzelig einen endlos langen Schal hinunter, in dem sich Charlotte dann verheddert wie in einem Spinnennetz. Und selbst Evas Gatte Viktor (Andreas Leupold) wirkt wie eine Spukgestalt im eigenen Haus. Lauscht hinter der Wand, malt manisch Striche an die Wand. "Herbstsonate" bezieht sich im Titel auf Strindbergs "Gespenstersonate". Das nimmt Bosse ernst. Hier wie dort geht's um Gerechtigkeit und Schuld und die Geister der Vergangenheit.
"Was für Schuld?", fragt Charlotte nach den quälenden Auseinandersetzungen mit Eva. Unter Tränen, Heulen, Zähneknirschen wird um die Wahrheit gerungen: "Deine Worte gelten in deiner Wirklichkeit und meine Worte in meiner. Wenn wir anfangen, unsere Worte auszutauschen, werden sie sinnlos." Da hat Eva Recht. Am Ende geht man so fremd auseinander, wie man zusammenkam. "Ich pfeife auf die Selbsterkenntnis", flucht die Mutter. Kommunikation ohne Konsequenz im Handeln.
Mutter-Tochter-Albtraum
Corinna Harfouch trifft den Charakter der Charlotte gut und spielt sie – wie im Film Weltstar Ingrid Bergman – mit divenhafter Grandezza, einer vitalen, gierigen, verzweifelten Überheblichkeit, mit zur Schau gestellter, gespielter Mutterliebe, robustem Egoismus und pragmatischer Härte. Und sie ist ein Tick brutaler als das Vorbild.
Fritzi Haberlandt als verklemmte Pfarrersfrau Eva reagiert sowohl auf die sprachlose Albtraum-Welt um sie herum als auch auf die Mutter mit Haberlandt-typischer veralbert gespielter Kindlichkeit – die Regie kommt ihr da entgegen, wenn Eva mit dem unsichtbaren Geist ihres verstorbenen Sohnes Karten zu spielen hat. Existenzieller Druck vermittelt sich nur partiell: Etwa wenn Eva Macht über die Mutter erlangt, diese mit Gewalt zum Zuhören zwingt. Wenn Harfouch sich dann ganz klein in den Stuhl duckt und Haberlandt sie lauthals zutextet und das mit einem Brieföffner kommentiert, den sie sich rhythmisch in den Leib rammt: das ist stark.
Zwischen Ernst und Komik
Trotz vieler großartiger Bilder in dieser Bergman-Adaption: Was in den "Szenen einer Ehe" so gut funktionierte, nämlich die Möglichkeiten des Films durch die Mittel des Theaters – etwa komödiantische Finessen und Brüche als Mittel der Demaskierung – auszugleichen, will an diesem Abend nicht so recht gelingen. Bosse möchte sich nicht festlegen auf Ernst oder Komik. Und der fehlenden Film-Kamera, die lange Monologe dank Naheinstellungen dramatisch und psychologisch ausleuchten kann und die oft eine kaum erträgliche Intimität herzustellen vermag, kann Bosse nicht wirklich etwas entgegensetzen. Filmmonologe sind keine Theatermonologe. Wenn die Nähe der Kamera und somit das fein differenzierende Mienenspiel der Schauspieler wegfällt, wird die Distanz zu groß, die Worte wirken schnell banal. Und dann wird’s langweilig.
Einmal gar muss Bosse klein beigeben: In einer der zentralen Szenen nämlich, wenn Eva ihrer Mutter ein Chopin-Prélude auf dem Flügel vorspielt und diese anschließend überlegen ihre eigene Interpretation zum Besten gibt. Ja, da kommt eine Kamera ins Spiel, um die Gesichter und Körper der beiden überdimensional auf den Gaze-Vorhang zu projizieren: damit wenigstens ein Bruchteil der Gefühle sichtbar wird.
Herbstsonate
nach dem Film von Ingmar Bergman, aus dem Schwedischen von Heiner Gimmler Regie: Jan Bosse, Bühne: Moritz Müller, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Video: Meika Dresenkamp, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Gabriella Bußacker.
Mit: Corinna Harfouch, Fritzi Haberlandt, Natalia Belitski, Andreas Leupold, Rasmus Armbruster/David Vetter.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.staatstheater-stuttgart.de
"Was an diesem dichten und intensiven Abend im Stuttgarter Schauspielhaus präsentiert wird, ist Psychologie pur", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (22.12.2014). "Mit Hochspannung dargeboten". Dabei ragten Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt "unübersehbar" aus dem Ensemble. Wer hier gut, wer hier böse sei, lasse sich nicht entscheiden. "Die Kategorien geraten unentwegt ins Rutschen, gerade weil die grandiosen Hauptdarstellerinnen ihre Figuren bei aller Fragwürdigkeit der Obsessionen bis aufs Blut verteidigen." Bosses "Herbstsonate" sei "unauslotbar reich an Ideen", "perfekt im Handwerk", "ein Schauspielerfest mit Köpfchen".
Bosse zeige wie Bergman in der Vorlage, dass jeder Mensch in seiner Wirklichkeit, seiner Sicht der Dinge gefangen ist, schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (22.12.2014). "Er pointiert allerdings, spitzt zu, die Charaktere sind kantiger, witziger, auch sympathischer, weil sie ihre heuchlerische Fassade schneller herunterreißen." Jan Bosse interessiere "die überzeitliche, die psychologische Tiefbohrung" mehr als "die immer noch aktuelle Frage nach neokonservativen Lebensentwürfen, nach Karriere und Familie". Seine Stärke sei das genaue Arbeiten an Blicken, Gesten, Details, die das Gesagte plötzlich in einem komplett anderen Licht erscheinen lassen.
Bosse lasse Bergmans Drama quasi vom Blatt spielen. "Weil es aber Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt sind, die hier spielen, ist das erst mal nicht so schlimm", schreibt Anke Dürr auf Spiegel Online (22.12.2014). Am Ende bleibe allerdings die Frage, was Bosse "uns" mit seiner Bergman-Inszenierung sagen wolle. "Mädels, bleibt zu Hause, das kann sonst böse Folgen haben - Kinder brauchen ihre Mama? Ernsthaft? Im Jahr 2014? Oder geht es um die schlichte Weisheit, mit der heute viele Therapeuten viel Geld verdienen: Reden hilft?"
"Von Anfang an ist es unheimlich", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (22.12.2014). "Überall Gespenster, auch in den Projektionen, die die Interieurs vervielfältigen." Und doch sei alles aufgeräumt, "als wären Pollesch oder Castorf eben ausgezogen und hätten zuvor noch geputzt". Eine Zeit lang sei es eine große Freude, Corinna Harfouch als kühle Mutter und Fritzi Haberlandt als nervöse Tochter bei ihren Annäherungen zu beobachten. "Es geht um Liebe. Die Liebe, die Charlotte nicht geben konnte, die sie wiederum von der Tochter ersehnte und nie bekam." Dann setze jedoch der Verstand aus – "und die beiden, man kann es nicht anders sagen, greinen um die Wette." Keine Komik bringe mehr Linderung, alles sei todernst, "auch der Psychoalbtraum, in dem alle Figuren um Charlotte zu Puppen werden, lauter Helenas, Opfer des Liebesentzugs". Da gebe es keinen Ausweg mehr; "ach Gott, ist das Leben schrecklich."
Jan Bosse mache aus Chopins Prélude in a-Moll eine Gespenstersonate, aus Bergmans Mutter-Tochter-Duell einen Horrorfilm, schreibt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (23.12.2014). "'Herbstsonate' ist kein melancholisches Kammerspiel, sondern ein Psychoduell zweier Diven, die den ewigen Kampf zwischen Bürgerlichkeit und Künstlertum bis zur Neige auskosten und den physischen Horror, vor allem in der zweiten Hälfte des Abends, bis zum physischen Exzess steigern", so Halter. Bergmans Leidensleier werde dadurch nicht eben kurzweiliger; die Hyänen nervten am Ende nur noch. Fazit: "nur für leidgeprüfte Bergman-Fans eine schöne Bescherung".
Dass Jan Bosse "durchaus Zweifel am Bergman'schen Frauenbild zu hegen" scheint gefällt Christine Wahl vom Tagesspiegel (25.1.2015) nach der Berliner Premiere dieser koproduzierten Inszenierung. Doch drohe seinem "Bühnen-Resultat aus Tragödie, Komödie und punktueller Horrorfilmparodie" auch "gelegentlich die Banalisierungsfalle." Wobei die beiden "Schauspiel-Koryphäen Harfouch und Haberlandt" das nötige Maß an Souveränität, Witz und Esprit dagegensetzten.
Diese "Geistergeschichte" ist bei Harfouch und Haberlandt "bestens aufgehoben" findet Dirk Pilz von der Berliner Zeitung (26.1.2015) – online auch in der Frankfurter Rundschau (26.1.2015) – ebenfalls nach der Berlin-Premiere. Sie geben zwei "Figuren, die sich ineinander verhaken". Bei Ingmar Bergman "ist alles unter einem monotonen Himmel des Tragischen errichtet, bei Bosse in eine heillos verknotete Welt verlegt, immer leicht schräg ins Surreale gehalten, mit den entsprechenden komischen Schleifspuren." Auch walte in dieser "sorgfältig ausbuchstabierten Inszenierung" eine "hinterhältige Logik": "Man sieht es gern – und erschrickt über die kannibalistische Lust, dieser Seelenschlammschlacht zuzuschauen. Sie wäre größer, säße man dichter am Geschehen, am besten vielleicht im Kreis um die Drehbühne".
"Das herbe Selbstbewusstsein von Charlotte passt einfach zu gut zur Harfouch – so wie die verletzt-verschrobene Häschenhaftigkeit von Eva allzu gut zu Fritzi Haberlandt passt", merkt Matthias Heine in der Welt (27.1.2015) anlässlich der Berlin-Premiere an. Die bekannten Bühnen-Personae der beiden seien zu deckungsgleich mit ihren jetzigen Rollen, um zu überraschen ("gilt auch für Andreas Leupold als Evas Pfarrer-Ehemann"). "Wie wäre es wohl, wenn ganz antinaturalistisch die Jüngere die Mutter und die Ältere die Tochter spielte?" Es sei aber trotzdem nicht schlecht geworden. Innerhalb der Figuren bewege sich in den knapp zwei Stunden allerhand, "sie sind keineswegs auf das festgelegt, was die scheinbare Deckungsgleichheit von Rolle und Schauspielerinnentypus suggeriert."
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Komplette Kritik: https://stagescreen.wordpress.com/2015/01/24/gespenster-im-baucontainer/
Dass der Film dennoch funktionierte und bei der Golden Globe-Verleihung in den USA als bester ausländischer Film ausgezeichnet wurde, lag an der Ausdruckskraft und dem intensiven Zusammenspiel von zwei Ausnahme-Könnerinnen: Weltstar Ingrid Bergman, die in ihrer letzten Kinorolle erstmals mit Ingmar Bergman zusammenarbeitete, und Liv Ullmann, die sich durch mehrere Bergman-Dramen, v.a. Szenen einer Ehe (1973), einen Namen gemacht hatte. In Großaufnahmen fing die Kamera jede kleine Regung auf ihren Gesichtern ein, während Mutter und Tochter mit messerscharfen Dialogen miteinander abrechneten und über die Schuld am gegenwärtigen Unglück stritten.
Und auch an diesem Abend im Deutschen Theater ist es vor allem zwei Ausnahme-Könnerinnen zu verdanken, dass die Bühnen-Adaption des Kinofilms nicht als Flop untergeht: Mit Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt lässt Regisseur Jan Bosse zwei ganz Große der deutschen Film- und Bühnenlandschaft aufeinander los. Ihre Fähigkeiten stellen die beiden Hauptdarstellerinnen in einer Schlüsselsszene des Stückes unter Beweis: bevor ihr Konflikt ganz offen ausgesprochen wird, liefern sich die Mutter, eine gefeierte Konzertpianistin, und ihre Tochter, die als Pastorengattin ein Leben im Schatten führt, ein Klavier-Duell. Beide spielen nacheinander Chopins Prélude in a-Moll. Die Mischung aus mitleidig-divenhaftem Lächeln und kühler Verachtung, mit der Corinna Harfouch auf die sich verkrampft abmühende Fritz Haberlandt herabblickt, ist großes Kino, das live und in Großaufnahme auf die Bühnen-Leinwand projiziert wird.
In diesem Moment war die Inszenierung ganz bei sich. Während der restlichen knapp zwei Stunden ist nicht ganz klar, wo Jan Bosse mit dem Stoff, seinen beiden Hauptdarstellerinnen und dem Publikum hin will. Er versucht, sich vom düsteren Realismus Ingmar Bergmans abzusetzen und lässt vor allem Fritz Haberlandt das psychologische Kammerspiel mit komischen Einlagen durchbrechen. Noch weiter entfernt er sich von der Vorlage, als er die unterforderte Natalia Belitski und einen Kinderdarsteller als Gespenster durch das labyrinthische, sich drehende Bühnenbild huschen lässt. In dem ernsten Familiendrama aus den 1970er Jahren wirken die eingebauten Motive aus dem Horror- und Mystery-Genre jedoch wie ein Fremdkörper.
http://e-politik.de/kulturblog/archives/23882-corinna-harfouch-und-fritzi-haberlandt-im-gespenstischen-mutter-tochter-drama-herbstsonate-am-deutschen-theater-berlin.html
Den ganzen Beitrag dazu gern unter:
http://waitamo.de/2015/01/26/vom-glueck-der-verdraengung-herbstsonate-am-deutschen-theater/
Selbstverständlich ist das nicht, wenn man die Romanadaptionen der letzten Zeit, die der Schreiber dieser Zeilen in Stuttgart sehen konnte, Revue passieren lässt, von "Die Marquise von O. / Drachenblut" bis zu "Pfisters Mühle" war man auf postmoderne Brechungen, sei es Disco-Musik, Tanzeinlagen, bunte Kostüme, Anachronismen usw.usf. gefasst; sie fehlten zu seiner großen Freude.
Wir haben ein Stück gesehen, das gut ins 19. Jahrhundert passt, in eine Zeit vor Sigmund Freud, in die Glanzzeit des bürgerlichen Theaters, als dieses die Tiefe und Gebrochenheit (Entfremdung) der bürgerlichen Seele auszuloten hatte, ein Blick in die Abgründe des bürgerlichen Lebens wagte und den Preis des Aufstiegs seiner Klasse noch zu benennen wagte.
Das ist lange vorbei, die Entwicklung auch der theatralischen Mittel ist fortgeschritten, und ob nach all den psychologischen Ratgebern der vergangenen Jahre noch Platz für derartige Dramen ist, wir wissen es nicht.
Von den dramaturgischen Mitteln hat uns nur der durchsichtige "Vorhang" gestört, auf den von Kameras aufgenommene Großporträts von Mutter und Tochter zu sehen waren. Die beiden Schauspielerinnen Corinna Harfouch und Fritzi Haberlandt brauchten diese Vergrößerung nicht, sie waren auf der Bühne und darüber hinaus in bestem Schauspiel physisch präsent. Auch eine weitere Schwäche, die Wiederholung einer Treppenbesteigung, die etwas von einer hängengebliebenen Schallplattennadel an sich hatte, verzeihen wir gern.
Am beeindruckendsten fanden wir freilich das Spiel der stummen Helena, schwerstkranke Schwester und Tochter; wie sie auf den Stufen des Bühnenaufbaus sich um Fortbewegung bemüht, die gequälte Kreatur, die den wahren Preis des ganzen Fortschreitens zu tragen scheint, abgeschoben und verstoßen von der Mutter.
Apropos Bühnenbild; das erinnerte an Castorfs Ring in Bayreuth, genauer gesagt an den Bohrturm und die Wohnung darunter. Nur gab es auf der teuren Drehbühne Einblicke in die Zimmer des Pfarrhauses, in dem das Drama spielt, und die Leiter (bzw. der Steg) auf der in Bayreuth die Walküren tanzten, führte hier ins nirgendwo; bei uns "tanzte" Helena vielleicht den Mond an.
Wir haben also ein realistisches Drama vor uns, klassisch inszeniert und gespielt, in dessen Mittelpunkt ein Mutter-Tochter-Konflikt steht, um es mal ganz psychologisch zu sagen, der aber keine Lösung findet. Das wird mancher feststellend bemängeln; nicht so der Schreiber dieser Zeilen, der es für ein Unterscheidungsmerkmal zum schlechten Fernsehen hält, dass weder ein Happy-End angeboten wurde noch eine falsche Versöhnung. Die (kleine, familiäre) Katastrophe ist, dass es so weiter geht. Dies dargestellt zu haben, war der große Gewinn dieses Abends.