Wie geht es weiter - Bregenzer Frühling
Riesenthema!
von Thomas Rothschild
Bregenz, 4. Juni 2019. Bei so viel Direktheit gibt es kein Entrinnen. Michaela Bilgeri tritt an den vorderen Rand der Spielfläche des Theaters Kosmos in Bregenz und erklärt mit Nachdruck: "Bis ich 23 war, habe ich nie masturbiert." Nachdem sie beschrieben hat, wie sie in jungen Jahren zu ihrem Orgasmus gekommen ist, wiederholt sie mehrmals: "Umweltschutz ist ein Riesenthema bei uns. Soziale Gerechtigkeit ist ein Riesenthema bei uns. Afrika ist ein Riesenthema bei uns. Selbstbefriedigung ist ein Riesenthema bei uns." Und so weiter. Václav Havels "Gartenfest", 53 Jahre danach. Dann kommen die anderen fünf auf die Bühne, Maria Fliri, Andreas Jähnert, Thomas Kolle, Fabian Schiffkorn und Benjamin Vanyek, in schmutzig-weißer Kleidung allesamt. Sie schauen ein wenig debil ins Publikum und quasseln los. Der Abend trägt den Titel "Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft".
Verselbständigung der Sprache
Und wieder fasziniert jenes Stilmittel, dass kennzeichnend ist für Martin Grubers Theater: minimalistische Choreographien, angedeutete Tanzschritte, diesmal unterstützt durch Autoreifen, steuern eine visuelle Ebene bei, ohne den Text zu illustrieren. Sie lösen sich von der Sprache und den Sprecher*innen. Dazu passt, dass die Darsteller*innen keine Rollen, sondern Typen verkörpern. Die insistierende Wiederholung von Sätzen und Phrasen nähert den Text der Konkreten Poesie an. Wenn Benjamin Vanyek dann als seine Mutter in einem Streit wegen einer Delogierung auf dem Wohnungsamt in breites Wienerisch gleitet, fühlt man sich an H.C. Artmann erinnert. Der mechanische Tonfall wiederum, der jede "Natürlichkeit" vermeidet, verbindet Martin Gruber mit René Pollesch.
Sprache funktioniert hier nicht als Kommunikationsmittel. Michaela Bilgeri zählt die Buchstaben von Wörtern. Wenn dabei eine gerade Zahl herauskommt, ist das gut, eine ungerade Zahl hingegen ist schlecht. Dabei darf auch manipuliert werden. Ein i-Punkt zählt doppelt. Man kann das, muss es aber nicht als Parodie auf sinnlose Debatten mit hirnrissigen Schlussfolgerungen verstehen. Und weil Sprache sich hier so sehr verselbständigt, ist man dankbar für eine vorbildliche Sprechtechnik, die Mikroports überflüssig macht.
Analytiker des Alltags
Die Frage ist rhetorisch: Wieso ist Martin Gruber in Deutschland nicht so bekannt, wieso wird er nicht so oft erwähnt wie René Pollesch, She She Pop oder Rimini Protokoll? Die Antwort liegt auf der Hand: weil er in Österreich daheim ist. Es bedarf in der Theaterbeobachtung einer Österreicher-Quote, die über das Burgtheater hinaus geht. Mit dem gegen das Literaturtheater gerichteten Schlagwort "Stückentwicklung" wird Schindluder getrieben. Was damit gemeint ist, wurde nicht in Gießen erfunden und ist kein deutsches Monopol. Wenn die Ergebnisse zählen, und zwar als Konzept wie in der Ausführung, wenn Einfallsreichtum und Bühnenwirksamkeit gewürdigt werden sollen, müssten Martin Gruber und sein Aktionstheater Ensemble, das, man höre und staune, mit der aktuellen Produktion sein dreißigjähriges Bestehen feiert, an erster Stelle zu finden sein, wo nach Alternativen zum deutschsprachigen "Stadttheater" gefahndet wird.
Die Elemente, mit denen das Aktionstheater Ensemble arbeitet, kann man allesamt auch anderswo auffinden: frontal deklamierte Texte, Montage anstelle von Kontinuität, Verwischung der Grenzen zwischen Rolle und Darsteller*in, Vermeidung von naturalistischer Mimesis und Identifikationsangeboten, choreographierte Arrangements. Einzigartig sind beim Aktionstheater Ensemble die Kombination dieser Elemente und ein untrügliches Gespür für Timing und Rhythmus. Martin Gruber und sein wechselndes Ensemble sind keine "Experten des Alltags", sondern Analytiker des Alltags und zugleich dezidierte Experten der Kunst. Ihre zugleich sehr unterschiedlichen und stilistisch verwandten Produktionen – im Schnitt zwei pro Jahr – erweisen sich als extrem sinnlich, also entschieden theaterspezifisch.
Stimmungen nachgehen
"Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft" ist nach den Worten von Martin Gruber "der Versuch, eine Gesellschaft zwischen Saturiertheit und Prekariat zu skizzieren, deren Leidensdruck noch zu gering ist, um gegen einen gefährlich infantilen Rechtspopulismus und Nationalismus aufzubegehren". Und: "Es geht nicht darum, den politischen Status Quo auf die Bühne zu bringen. Das wäre langweilig und wohl wenig ergiebig. Was derzeit passiert, sieht unser Publikum ja ohnehin selber. Die spannende Frage ist vielmehr Stimmungen nachzufühlen, die zu diesen Zuständen geführt haben." Dem kann der Kritiker nichts hinzufügen, was nicht dahinter zurückbliebe, zumal es sich nicht, wie so oft, bloß um ein Manifest, eine Absichtserklärung handelt, sondern vom Aktionstheater Ensemble eingelöst wird.
Am Schluss, nach nur wenig mehr als einer Stunde, wird es auf der Bühne langsam finster. Von zwei auf Planen projizierten Bäumen fallen die Blätter. Les feuilles mortes sind ein Riesenthema bei uns.
Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft
von Martin Gruber und Aktionstheater Ensemble
Regie, Script, Choreografie: Martin Gruber, Musik: Kristian Musser, Gesang: Pete Simpson, Dramaturgie: Martin Ojster, Video: Bildwerk X Valence, Sounddesign: Thomas Bechter.
Mit: Michaela Bilgeri, Maria Fliri, Andreas Jähnert, Thomas Kolle, Fabian Schiffkorn, Benjamin Vanyek.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
Premiere am 4. Juni 2019 beim Bregenzer Frühling, Koproduktion mit Werk X
https://www.aktionstheater.at
Kritikenrundschau
"Das Aktionstheater zeigt wiedermal, was Theater alles kann, wenn es nicht an Stückeschreibern festklammert und ehrlich zu sich selber ist," schreibt A. Drnek in der Kronenzeitung (6.6.2019).
"Ein klug inszeniertes, gelungenes Spiel über die Stimmung des Landes," schreibt Lisa Kammann in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung (6.6.2019). Der Abend ist aus Sicht der Kritikerin "ein würdiges Stück zum 30-Jahre Jubiläum des Aktionstheaters, das damit erneut seine Position als intelligent und gefühlvoll geführtes Ensemble festigt."
Das Aktionstheater (...) zelebriert den Griff unter die Gürtellinie derart frecht, ungestüm, witzig und ironisch, das keine Spur von Banalität und Peinlichkeit bleibt," schreibt Christa Dietrich in den Vorarlberger Nachrichten (56.6.2019). "Sie können es halt."
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