Herz aus Glas - Residenztheater München
"Die Hütt'n brennt!"
von Sabine Leucht
München, 3. Juli 2021. Besondere Zeiten rufen besondere Propheten auf den Plan. Und wenn man liest, was der Mühlhiasl, der Sage nach um 1750 im Bayrischen Wald geboren, von der Zukunft gewusst haben will, war da bis dato für jede Zeit was dabei. Frauen in Hosen und die Spaltung der Gesellschaft hat er vorausgesehen, zwei große Kriege und die Inflation, "eiserne Straßen", die Umweltkatastrophe und vielleicht sogar unsere Pandemie.
Unter Hypnose
"Das Wetter wird sich ändern, Wein wird bei uns angebaut und ein Obst gibts, das ich nicht kenn" und "Die Leut werden krank und niemand kann ihnen helfen" sind nur zwei der offenbar überlieferten Kassandra-Rufe, die auch der Hias in Herbert Achternbuschs "Herz aus Glas" von sich gibt. Ihr salbungsvoller Ton beißt sich aufs Schönste mit Achternbuschs Neigung zum Handfest-Irdischen vom Scheißen bis zum Freibier. Und wo sich beides aneinander reibt, schlagen seine Sätze glühende Funken. Selbst in dem zu großen Teilen beschreibenden Drehbuch, das nun im Marstall des Münchner Residenztheaters zur theatralen Uraufführung kam. Ganze 45 Jahre nachdem Werner Herzog in seiner Verfilmung das Imaginationsvermögen seines Publikums mit apokalyptischen Naturbildern niederrang, die auch in den erst sechs Jahre später entstandenen Experimentalfilm Koyaanisqatsi gepasst hätten.
Was 1976 viele Herzog-Fans irritierte und seinem Kameramann Jörg Schmidt-Reitwein den Deutschen Filmpreis in Gold einbrachte, ist eine Szenen-Collage mit schroffen Cuts und bayerischem Lokalkolorit – vom betont tonlosen Sprechen (die Schauspieler standen laut Herzog unter Hypnose) bis zum Kampf mit einem unsichtbaren Bären auf Künstlichkeits- und Mystifikations-Maximierung getrimmt.
Elsa-Sophie Jach geht die Sache nicht unbedingt weniger künstlich an: Ihre Schauspieler:innen ächzen unter gigantischen grau-weißen Haaraufbauten, die entfernt an die Allongeperücken des 18. Jahrhunderts erinnern. Kostümbildnerin Johanna Stenzel hat ihnen Neonstreifen auf ihre pastelligen Outfits geklebt, die Dirndl und Lederhosn markieren. Und auch Marlene Lockemanns Bühne versteckt ein Neon-Skelett hinter ihrer fake-rustikalen Fassade und könnte sich jederzeit in eines von Ersan Mondtags Geisterhäuser verwandeln.
"Our house is on fire!"
Die junge Regisseurin macht sich ohne Angst vor eventuellen Zuschauer-Erwartungen an einen Achternbusch-Abend an den Text, der – so ganz genau weiß man das bei diesem anarchischen Sinn-Verächter ja nie – ein Dorf auf der Schwelle zur Industrialisierung porträtiert. Der Glasmeister Mühlbeck ist gestorben, ohne das Rezept für das Rubinglas zu hinterlassen, das für wachsenden Reichtum und manch anderes steht. Und nun drehen alle durch, selbst die Zeit – und es sterben die Leut. Schließlich brennt die Glashütte ab und der Hias, der auch das vorausgesagt hat, gerät als Überbringer der schlechten Nachricht in die Fänge des Mobs.
"Die Hütt'n brennt", sagte Sepp Bierbichlers Hias 1976 mit stierem Blick oder – laut Drehbuch – "vollkommen entrückt und traumverloren". "Our house is on fire!", sagte Greta Thunberg schon des Öfteren. Und Pia Händler, die im Marstall den Hias spielt, sagt beides. Und sagt es sehr, sehr wütend. Barfuß, ungeschminkt und mit offenen Haaren ist sie zu Beginn unter einem hügelgroßen Knäuel hervorgekrochen, das an schwarzes Gedärm oder Hirn erinnert. Die Greta-Zöpfe hat sie sich erst später geflochten. Die Greta-Wut ist mimisch gleich da, in die zunächst gelangweilte Stimme sickert sie erst allmählich ein.
So richtig zwingend ist die Unterbringung der schwedischen Klimaaktivistin von heute in der finsteren Prophetenfigur aus dem 18. Jahrhundert nicht, zumal der Hias sich mit dem Sehen begnügte und nicht an Lösungsvorschlägen versuchte. Aber man schaut Händler und ihren sechs Mitspieler*innen gerne zu, die immer wieder wie ein Mann/eine Frau aus einer Haus-Fassade mit vier schiefen Giebeln herausbrechen, an der sich eine Uhr erst rückwärts, dann vorwärts und schließlich wieder rückwärts dreht. Nur sporadisch von Achternbusch ohnehin nicht plastisch gemachte Figuren verkörpernd, treten alle außer Händler meist als Chor auf, der mit einer Stimme spricht, mehrstimmig singt und sich in Bildbeschreibungen übt.
Melodische Gefühls- und Brandgewitter
Während Herzog in Natur-Aufnahmen, Atmosphären und Physiognomien schwelgte, lässt Jach Regieanweisungen sprechen: rhythmisch und oft gegen ihren Sinn phrasiert, mit Pausen mitten im Satz oder sogar Wort. Das ist gewöhnungsbedürftig, aber diese einzige lange Mauerschau wirft auch das Kopfkino an. Wer den Film frisch im Gedächtnis hat, bestückt es unwillkürlich wieder mit dessen Bildern. Ob das Kopfkino der Anderen über die soghafte Live-Musik und pantomimisch-tänzerische Andeutungen zu individuelleren oder sogar stärkeren Bildern gelangt, ist schwer zu sagen. Aber wie Samuel Wootton an den Percussions den Abend vor sich her treibt, mit einzelnen Schlägen Um- und Zusammenbrüche markiert und melodische Gefühls- und Brandgewitter erzeugt, ist auch so ziemlich toll.
Herz aus Glas
nach dem gleichnamigen Drehbuch von Herbert Achternbusch
Uraufführung
Regie: Elsa-Sophie Jach, Komposition und musikalische Leitung: Max Kühn, Bühne: Marlene Lockemann, Kostüme: Johanna Stenzel, Licht: Martin Feichtner, Dramaturgie: Stefanie Hackl.
Mit Michael Goldberg, Evelyne Gugolz, Pia Händler, Nicola Kirsch, Thomas Reisinger, Noah Saavedra, Moritz von Treuenfels und Samuel Wootton (Musik)
Premiere am 3. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Die Inszenierung erzähle die Szenerien des Films nach, "die man dennoch, kennt man diesen nicht, kaum imaginieren kann", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (5.7.2021). "Doch der Kern des Abends liegt eh woanders. Bei Pia Händler, die den Hias spielt. Dunkelleuchtend steht sie dem Chor gegenüber, eine Kassandra wider die Blödheit, beobachtet das bizarre Volk, reiht Menetekel an Menetekel. Und so wird dieser Abend ein verschrobener Kommentar zu Irrglauben und Verführung, garniert mit Sätzen herrlicher Hellsichtigkeit."
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Ich habe eine Frage: In eurer heutigen Kritik zu „Herz aus Glas“ in der Regie von Elsa Sophie Jach vergleicht ihr das Bühnenbild von Marlene Lockemann, wie ich es verstehe, mit der Ästhetik oder Arbeiten von Ersan Mondtag. Ich verstehe nicht warum? Was wollen Sie damit bezwecken?
Ich verfolge die Arbeit von Marlene Lockemann sein einiger Zeit. Sie hat eine klare und eigene ästhetische Bildsprache. Auch in dieser Arbeit. Warum braucht man also solch einen Vergleich?
Vielen Dank für Ihre Antwort und schöne Grüße.