Alpen - Am Zürcher Neumarkt inszeniert Tom Kühnel den Film von Yorgos Lanthimos nach
Trauerbergarbeit
von Julia Stephan
Zürich, 5. Februar 2015. Als Bewohnerin einer Alpenrepublik wüsste ich gern, was im Kopf des griechischen Filmregisseurs Yorgos Lanthimos vorging, als er unsere Berge für seinen Film "Alpen" (2009) derart überhöhte. Zwar denken auch wir Schweizer uns die Alpen gerne gross. Aber bei aller Selbstzufriedenheit, die uns eigen ist, wissen wir doch, dass wir nicht die Grössten sind - gegen den Himalaya ziehen wir den Kürzeren.
Stundenweise Substitute
Vielleicht muss man schon den distanzierten Blick eines Griechen besitzen, um dieses Geklüft auf folgende Art Symbol werden zu lassen: "Die Berge der Alpen können durch keinen Berg ersetzt werden, sie aber können jeden anderen Berg ersetzen", heisst es bei Lanthimos. Den Satz spricht Mont Blanc, Anführer eines vierköpfigen "Alpenvereins", der mit seinen Untergebenen Monte Rosa (einer Krankenschwester), Weissmies (einer Turnerin) und Matterhorn (ihrem Trainer) ein Geschäftsmodell in der Grauzone zwischen Leben und Tod entwickelt hat: Gegen Bezahlung nehmen die "Alpen" die Stelle toter Ehepartner, Kinder und enger Freunde ein. Das soll den Hinterbliebenen die Trauerarbeit erleichtern. Das strenge Vereinsstatut dieser faschistoiden Gruppe, die in einer Turnhalle tagt, und in der Vertrauen mit Kontrolle verwechselt wird, verbietet allerdings jede emotionale Nähe zur Kundschaft. Wer aus der Rolle fällt, bezahlt mit blutigen Disziplinarmaßnahmen - und Lohnausfall.
In Zürich genoss man von Lanthimos erst kürzlich ähnlich schwere Kost: Die junge Regisseurin Lily Sikes hatte dem Publikum des Zürcher Schauspielhauses letzten Oktober schon das düstere Familiendrama "Dogtooth" (2011) häppchenweise vorgesetzt. Verweigern dort Eltern ihren Kindern den Eintritt ins Leben außerhalb der eigenen vier Wände, lässt einem bei "Alpen" der Eindruck nie los, dass es diesen Vereinswohltätern in Wahrheit darum geht, genau in diese familiären Keimzellen einzudringen - stehen die vier mit ihren Bergen an Trauer, die sie in sich angehäuft haben, doch ziemlich vereinsamt in der Gegend. Es sind leblose Trauerklötze mit Trauerklössen im Hals und gestauten Gefühlen und weggesperrten Passionen. Die Sätze im Film verletzen mit sachlicher Zurückhaltung. Schlimmer noch ist das Schweigen der Krankenschwester Monte Rosa, die ihrem verwitweten Vater jeden Abend Augentropfen verabreicht, als Ersatz für die Trauer, die sie bei ihm vermisst.
Mit-Gefühl-Vampirismus
Am Zürcher Theater Neumarkt hat der deutsche Regisseur Tom Kühnel "Alpen", diesen ungewöhnlichen Film über Menschen, die Tote stellen, aber eigentlich ins Leben zurückfinden wollen, streng beim Drehbuch genommen. Mit Ausnahme von etwas Schopenhauer und einem erheiternden Philosophie-Kolloquium, in dem Mont Blanc (Maximilian Kraus), Monte Rosa (Yanna Rüger), Matterhorn (Martin Butzke) und Weissmies (Janet Rothe) wortreich und platonisch über die Existenz eines Lebens nach dem Tod dialogisieren, folgt sein Stück dem filmischen Trauerspiel beinahe chronologisch, vor einer weich gezeichneten Wohnraum-Kulisse (Bühne: Jo Schramm), die wie ein verblichener Traum an zurückliegendes, lebendiges Familienleben erinnert. Über den Möbeln liegen Leintücher. Oder sind es Leichentücher? Die Trauernden schlagen sie erst zurück, als die Alpen die Toten stellen.
Kühnel gelingt es hervorragend, die Gratwanderung zwischen Mitgefühl und Gefühls-Vampirismus, die im Spiel mit fremden Emotionen immer beschritten wird, in kleinen Gesten sichtbar zu machen. Wenn Monte Rosa schwerfällig wie ein Stein auf das Krankenbett eines schwer verletzten Mädchens plumpst, um sich eine fremde Biografie einzuverleiben, richtet Kühnel das Scheinwerferlicht grell auf einen Clown im Krankenschwesternkittel, der sein trauriges Leben hinter einer roten Clownsnase verbirgt.
Macht der Identifikation
Lachen könnten wir über diese vier Alpen-Menschen jederzeit: Sie imitieren tote Promis - bei Kühnel dürfen es auch Udo Jürgens und Joe Cocker sein - und praktizieren auf einer umgekippten Leiter einen Cunnilingus bar jeder Erotik. Aber die Szenen bleiben beklemmend, und das eigene Lachen verdächtig laut im Saal zurück. Wird die Beklemmung zu groß, legt Kühnel den Hebel um und wechselt übergangslos zur nächsten Szene, die uns mit einer weiteren verkümmerten Emotion konfrontiert.
Doch Lanthimos' Film transportiert - im Verborgenen - mehr als nur die Botschaft von der Tragik ungelebten Lebens, zu dem Lana del Rey ("All you need") bei Kühnel den passenden Soundtrack liefert. "Alpen" ist, gespickt mit Namen berühmter Schauspieler, auch eine Hommage an die Schauspielerei selbst, an die Macht der Identifikation und ihrer Gefahren. Kühnel trägt diesen Subtext in seinem Stück mit, wenn er die Angehörigen der Toten von Laien spielen lässt, die den Alpen-Schauspielern auf der Bühne Regieanweisungen aus ihrem früheren Leben geben. Nicht alle wahren zu den Emotionen, welche die Angehörigen in sie hineinprojizieren, die nötige Distanz: Am Ende der Vorstellung stolpert Monte Rosa, von der eigenen Gruppe verstossen, durch eine Gruppe von Laientänzern, und brüllt den Lebenden einstudierte Satzfetzen toter Menschen entgegen. Die Lebenden schenken ihr kein Gehör, und der Abend hat seine griechische Tragödin.
Alpen
Nach dem gleichnamigen Film von Yorgos Lanthimos
Regie: Tom Kühnel, Bühne: Jo Schramm, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Dramaturgie: Inga Schonlau.
Mit: Yanna Rüger, Maximilian Kraus, Martin Butzke, Janet Rothe, Hans Benz, Silvia Fenn, Maria Skiada, Manuel Ramirez-Ramos, Josef Lindiridi, Luca Santarossa, Doris Nef.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterneumarkt.ch
Kritikenrundschau
Das Stück habe "mit den Alpen zum Glück so gut wie gar nichts zu tun, sondern kämpft, im Gegenteil, gegen jede felsgewordene Fantasie von Wahrheit und Authentizität an", schreibt Alexandra Kedves im Tages-Anzeiger (7.2.2015). Filmemacher Yorgos Lanthimos "haut uns unser waberndes Unwissen übers Dasein, Sosein und Nichtsein, unser Fehlgehen im Falschen so hart aufs Auge, wie Monte Rosa seine Keule auf den Kopf der Krankenschwester krachen lässt; und Kühnel dreht das Drama der fluiden, sich verflüssigenden Erinnerungen an die Toten auf der Bühne schwer schnaufend noch eins weiter. Und, bei aller konzeptuellen Brillanz, hinein in den Theatertod: das Gähnen."
Recht begeistert dagegen zeigt sich Katja Baigger in der Neuen Zürcher Zeitung (7.2.2015): mit dieser "hintersinnigen Bühnenumsetzung" des Films könne "man etwas anfangen". Langsam scheine man am Neumarkt "seinen eigenen Stil zu finden". "Charme" beweise der Regisseur, wenn für einen Tanzkurs "ein Dutzend Laien – unter ihnen viele Griechen – engagiert" würden. "Grotesk und witzig" seien die Sexszenen, "die Kunden wünschen ja die exakte Nachstellung des mit ihren einstigen Partnern Erlebten". Die Grenzen zwischen der Rolle und dem 'echten' Leben verschwämmen zusehends.
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