Camino Real – Sebastian Nübling zeigt Tennessee Williams in München als Kuscheltier-Albtraum
Die Vorhölle am Ende der Sackgasse
von Cornelia Fiedler
München, 29. März 2015. "Forever", zart und unschuldig schwebt dieses Wort in roter, geschwungener Neon-Leuchtschrift über der Bühne der Kammerspiele. Was nach einem sweeten, elektronischen Liebesschwur aussieht, entpuppt sich als das nackte Grauen: Für immer gefangen, für immer unter hoffnungslos kaputten Gestalten, für immer einsam. Hier, in diesem unwirtlichen Wüstenkaff, bricht der Camino Real, der Königsweg zu was auch immer, einfach ab. Endstation Hoffnungslosigkeit. Die Verlorenen, die hier stranden, glauben nicht mehr an Trost.
Wahnhafte Alptraumsequenzen
Wie um das zu beweisen, hat Bühnenbildnerin Eva-Maria Bauer zwei haushohe Kuscheltiere auf die düstere Bühne gewuchtet, eine zynische Erinnerung an die Zeit, als das Anschmiegen noch geholfen hat: Ein weißer Bär und ein hellblauer Hase mit Herzchen-Nasen blicken stumm auf die kleinen Menschen, deren kleine Kämpfe und deren kleines Sterben herab. Ganz selten, gerade dann, wenn der Blick unkonzentriert abschweift, blinzeln sie kurz begütigend mit den Kulleraugen.
Mit "Camino Real" hat Regisseur Sebastian Nübling eine düstere Wirklichkeitsgroteske von Tennessee Williams ausgegraben, die dem Dramatiker 1953 die schlechtesten Kritiken seines Lebens einbrachte. Für Williams selbst war "Camino Real" "nicht mehr und nicht weniger als meine Vorstellung von der Zeit und der Welt, in der ich lebe." Das experimentelle Stationendrama verschneidet wahnhafte Albtraum-Sequenzen mit der bitteren Realität einer Grenzstadt: jeder Fluchtversuch scheitert an Geld, Papieren und Todesangst.
Gesangs- und Handlungsfragmente
Reisende, wie der junge Ex-Boxer Kilroy, der, charmant ungelenk gespielt von Risto Kübar, so unbedarft wie redseelig auf dem Marktplatz auftaucht, werden nach und nach zu Schatten ihrer selbst. Menschen, die länger hier sind, erkennt man in Nüblings Inszenierung an den riesigen leeren blau-rot karierten Import-Export-Plastikreisetaschen, die sie mit sich ziehen, wenn sie schreckhaft über die Bühne huschen. Auf ein unhörbares Kommando hin formieren sich diese Männer und Frauen gelegentlich, begleitet von enervierenden, flachen Elektrobeats, zu hastigen, fiebrigen, etwas unkoordinierten Schritt- und Fall-Choreographien. Sobald der Neuankömmling die Bühne betritt, flattern und trippeln sie eng um ihn wie ein Taubenschwarm. Nebenbei wird seine Brieftasche gestohlen und ohne Geld gerät auch Kilroy schnell unter den Einfluss der seltsamen Seelendiktatur, die hier herrscht. Als deren sadistischer Erfüllungsgehilfe Gutman tritt ein solariumsbrauner, weißhaariger Jochen Noch auf den Plan. Der führt mit Oldschool-Mikrofon und schmierigem Grinsen durch den Abend und sorgt für die gewaltsame Durchsetzung der Camino-Gesetze.
Die Bewohner dieses widersprüchlichen Ortes, der heißt wie eine Straße und somit wohl nie zum Bleiben gedacht war, sind bei Williams literarische und historische Wiedergänger, darunter Don Quijote, der Dichter Lord Byron oder Esmeralda aus Victor Hugos "Glöckner von Notre Dame". Die stark gekürzte Fassung von Nübling und seiner Dramaturgin Julia Lochte verzichtet darauf, diese Namensgebung groß zu interpretieren. Stattdessen suchen sie einen eigenen, sinnlich-musikalischen Zugang und verweben Gesangs- und Tanzfragmente mit den teils recht kryptischen Handlungsresten, die da wären: Kilroy wird von Gutman gezwungen, als "dummer August" ein Hasenkostüm zu tragen und debil winkend auf dem Platz herumzustehen. Der Camino-erfahrene Casanova (Oliver Mallison) erläutert ihm die Regeln, etwa dass alle Anzeichen von Solidarität und Versuche, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, verboten sind.
"Was denkst du über Klassenkampf?"
Immer mal wieder stirbt ein Einwohner, die Gründe dafür können Schwäche, Einsamkeit oder Polizeikugeln sein. Tote werden in ihre eigenen Plastiktaschen verpackt, weggeschleift, in ihre chemischen Bestandteile zerlegt und zugunsten des Grenzschutzes verscherbelt. Irgendwann landet ein Flugzeug, der "Fugitivo", sofort bricht hektisches Kofferpacken aus. Den Abflug schafft letztlich keiner, zu sehr sind alle längst Teil dieses bizarren Systems. Ein Highlight ist, wie Kübars Kilroy und Sandra Hüller als Teilzeitprostituierte Esmeralda hinreißend stoffelig verschiedene Wege der Annäherung ausprobieren: Ein Duett, übereiltes Ausziehen bis auf die Spongebob-Shorts, Konversation – "Was denkst du über Klassenkampf" – missglücktes Streicheln mit Boxhandschuhen und enges, hilfesuchendes Aneinanderdrängen ohne.
Für solche intensive Szenen bleibt im rasanten Galopp durch die 16 Stationen leider nicht oft Zeit. Manche großartige Textstelle rauscht vorbei, ohne wirken zu können, etwa wenn der von Gutman gedemütigte Casanova ein kühles "mein Herz ist zu müde, um zu brechen" hervorpresst. Soviel man auch ordnet und interpretiert, die Bilder des Abends bleiben wirr, überfordernd, flüchtig, inkonsistent – was wiederum, frei nach Williams, eine lebensnahe "Vorstellung von der Zeit und der Welt", in der wir leben, ergibt.
Camino Real
von Tennessee Williams
Deutsch von Jörn van Dyck
Regie: Sebastian Nübling, Bühne und Kostüme: Eva-Maria Bauer, Musik: Lars Wittershagen, Licht: Stephan Mariani, Dramaturgie: Julia Lochte.
Mit: Tim Erny, Alice Gartenschläger, Sandra Hüller, Risto Kübar, Oliver Mallison, Stefan Merki, Jochen Noch, Wiebke Puls, Çiğdem Teke, Michael Tregor.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
An den Münchner Kammerspielen inszenierte Sebastian Nübling bereits 2012 Tennessee Williams Stück aus dem amerikanischen Kleindtadt-Hades Orpheus steigt herab. Und wurde damit zum Theatertreffen 2013 eingeladen.
In der Süddeutschen Zeitung (30.3.2015) schreibt Egbert Tholl, Nübling verschärfe das Parabelhafte des Textes, "macht die Figuren noch surrealer, als sie ohnehin schon sind", "als hätte David Lynch die ersten 30 Minuten von Henri-Georges Clouzots Film 'Lohn der Angst' inszeniert". Im Grunde würden Nübling der Aufpasser und die beiden Paare (Mallison, Puls, Hüller, Kübar) reichen, "in den beiden möglichen Paaren ist Nüblings Inszenierung grandios und von subkutaner Wucht".
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (31.3.2015) schriebt Teresa Grenzmann, auf den ersten Blick wirke die Inszenierung "als habe ein unbeeindruckter Spielvogt mit großem Selbstverwirklichungsdrang und einem Faible für Trash, Geschwindigkeit, Ausdruckstanz und Lust an schrägen Dialogen einen Tennessee Williams zerlegt". Trotz "allen anfangs schwer ertragbaren Nonsens" gelinge es der Inszenierung, eine in sich geschlossene, von Zwängen regierte Welt zu erschaffen, die den Zuschauer nicht loslasse. "Was bleibt, ist der Eindruck der subtilen Verwüstung einer Gesellschaft. Grund genug, das Stück wieder einmal versucht zu haben."
In der Welt (8.4.2015) schreibt Jan Küveler: "Das war offensichtlich eine Art mexikanisches 'Warten auf Godot'". Sandra Hüller sei "eine der tollsten Frauen im deutschen Theater. Keine kann so griesgrämig gucken, ihre slawischen Augen versprühen eine Art neutralen Stolz, scheinen zu sagen: Was geht mich denn das alles an." "Heute trägt sie Unterschichtspüppilook: rosa Minirock und türkisfarbene Gummifransenjacke, dazwischen viel durchtrainierten Bauch, sodass das Jackenzubbeln eine ihrer Standardübungen wird." "Auch Wiebke Puls ist übrigens durchtrainierter denn je. Bei den Kammerspielfrauen muss der Fitnesswahn ausgebrochen sein." Für solche Gedanken habe man viel Zeit, da nicht viel los sein.
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