1984 – Christoph Mehler zeigt die Dramatisierung von Orwells Überwachungsstaats-Klassiker durch Robert Icke und Duncan Macmillan in Nürnberg zuerst auf deutsch
Dunkelkammer des Schreckens
von Dieter Stoll
Nürnberg, 17. Oktober 2015. Am Vormittag kamen die Berichte über Vorratsdatenspeicherung aus dem Bundestag, am Abend sah man den Einsatz der Gedankenpolizei auf der Bühne. So nahtlos wie bei der Deutschland-Premiere der neuen Theaterfassung von George Orwells "1984“ spielen Politik und Kunst sonst nicht zusammen. Ein enormer Unterschied bleibt denn doch festzuhalten: Während die Abgeordneten in ihren Reden nur die offiziellen Parteilinien preisgaben, darf der Betrachter dieser 2013 in Nottingham uraufgeführten Dramatisierung wie ein Parasit in den Kopf des Hauptdarstellers schlüpfen.
Bösartige Ironie
Robert Icke und Duncan Macmillan haben den Zukunftsangst-Klassiker der Nachkriegs-Jahre mit großem Respekt angepackt, indem sie seinen Handlungskern unangetastet übernahmen, aber alles in die relativierende Perspektive einer Tagebuchaufzeichnung, süffisant auch "Erinnerungsalbum" genannt, verlängerten. Irgendwann "vor dem Jahr 2050", so erfährt man am Ende, wurde "die Partei" gestürzt. Ihr Unterdrückungs-Mechanismus, der Worte und Gefühle zerstören und mit dem "Neusprech" das einzige Kommunikationssystem schaffen wollte, mit dem "das Vokabular sich jedes Jahr verkleinert", hatte offenbar versagt. Oder ist er etwa so raffiniert geworden, dass ihn bloß niemand mehr bemerkt?
Nein, getwittert wird in Christoph Mehlers Inszenierung nicht. Der Regisseur, der sich auch sonst sehr genau gegen Kurzschlüsse wappnete – (also weder Hinweise auf Nordkorea noch ein Schlenker zum voyeuristischen TV-Format, Danke!) – erweitert das Wortgefecht sogar durch ein Vorspiel in ausgesprochen bösartiger Ironie. Da treffen sich inmitten der Zuschauer alle Schauspieler zum schwärmerischen Literaturkränzchen und werfen Lobsprüche wie Floskel-Girlanden über das gute Buch, das selbstverständlich nicht weniger tue als "uns den Spiegel vorzuhalten". Bevor sie dann in ihre offiziellen Rollen umsteigen, nehmen sie das Finale schon mal vorweg. "Wer träumt wen?", raunt es da plötzlich mehrstimmig frontal ins Publikum, und noch näher "Träumst du mich?" – ganz so als ob Begriffsstutzigkeit die größte Gefährdung dieser Produktion sei.
Dann kann die neue Erzählung in die alte münden. Mit dem grauen Realismus der Verfilmung und den Zeigefinger-Interpretationen der ersten Bestseller-Jahre, dem fetten Auge in der Wand und der auch nicht grade schlanken Moral im Dialog, will die Aufführung nichts zu tun haben. Die Erfüllung der Sehnsucht "nach einem Ort, wo es keine Dunkelheit gibt" verweigert Ausstatterin Jennifer Hörr sowieso. Sie hat die ohnehin überbreite Nürnberger Kammerspiel-Bühne auf Extrem-Cinemascope gestaucht und hinter Schleier-Gaze eine entkernte Dunkelkammer des Schreckens platziert. Flackernde Einblicke, durchbrochen von Spruchband-Irrlichterei ("Nichtwissen ist Stärke" oder "Verstand ist keine Statistik" läuft quer über die Szene) öffnen sich dem trüben Blick auf eine Zeit, die keine Geschichte mehr kennt, nur "endlose Gegenwart" der Rechthaber.
Winston Smith, die am Ende also bloß im Blick des Zuschauers "imaginierte" Hauptfigur mit dem sehr konkret hochgereckten Widerstands-Willen, ist der letzte Zeuge. Indem er gegen alle Denkpolizei-Verbote ein (soviel Pathos muss sein) "Tagebuch für die Ungeborenen" schreibt, verhindert er das Auslöschen der Wahrheit. Um Albträume und Folter schildern zu können, muss er sie aber erst durchleiden. Wir Theaterfreunde wollen es offenbar so.
Aufgefrischte Erkenntnisse
Christoph Mehler bündelt die ins Innenleben gewanderten Figuren zum ätzenden Grinse-Kollektiv für Rampen-Attacken, aus dem Individualisten nur kurzzeitig ausbrechen können. Daniel Scholz macht nicht den Julian Assange, er spielt den über die eigenen Kräfte hinausstolpernden Winston plausibel in allem Nerd-Trotz, gewinnt Mitgefühl und ist dann doch als Gedankenspielmaterial einfach "entpersont" wie die Opfer des Systems. Karen Dahmen (die verbotene Geliebte Julia) und Louisa von Spies' Folterchefin an akustischen Schmerzgrenzen zeigen schemenhaft Gesicht, verschmelzen aber wieder mit dem restlichen Kopfgeburts-Quartett (höchst intensiv: Marco Steeger, Martin Bruchmann, Pius Maria Cüppers und Thomas L. Dietz) für eine Wort-Oper im videogestützten Atmosphäre-Rahmen. 1948 schaute voraus auf 1984, 2015 verweist auf 2050 und lenkt dabei den Blick zurück zum Ursprung. Ende offen, kein Grund zur Beruhigung.
Den Regisseur interessiert die Meinung seines Lese-Clubs vom Vorspiel dann doch nicht mehr. Er hat mit seiner ansonsten konsequent durchgehaltenen Arbeit ewige Dichter-Wahrheit aus der sicheren Ablage zurück ins Ungewisse gelockt und wurde dafür mit dem bestens motivierten Ensemble ausgiebig gefeiert. Kann allerdings dennoch sein, dass uns auch an diesem Premierentag die Ängste vor dem Bundestag näher waren als die aufgefrischten Erkenntnisse von Orwells großer Depression.
1984
nach George Orwell
in neuer Bühnenfassung von Robert Icke und Duncan Macmillan
Übersetzung: Corinna Brocher
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Christoph Mehler, Bühne und Kostüme: Jennifer Hörr, Video: Jakob Klaffs, Hugo Reis, Musik: David Rimsky-Korsakow, Dramaturgie: Friederike Engel
Mit: Daniel Scholz, Louisa von Spies, Karen Dahmen, Marco Steeger, Pius Maria Cüppers, Martin Bruchmann, Thomas L. Dietz
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
Die Chance, Orwells Klassiker auf die heutige Zeit zu beziehen, in der sich Bürger durch die Verwendung von sozialen Netzwerken freiwillig "selbst überwachen", lasse Regisseur Christoph Mehler ungenutzt, schreibt Friedrich J. Bröder im Donaukurier (19.10.2015). Er "setzt vielmehr auf die immer noch beeindruckenden, aber schon historischen Bilder von '1984', wo totale Gleichschaltung und totalitärer Meinungsterror der menschlichen Freiheit den Garaus machen." Alles sei hier "düster und klaustrophobisch". Die Handlung um die Protagonisten werde "so hautnah gruselig gespielt, dass das sichtlich deprimierte und mitgenommene Publikum gar nicht mehr auf reflektierende Distanz gehen konnte."
"Man sollte seinen Orwell gelesen haben, wenn man einen Mehrwert vom bruchstückhaften Spiel mit seinen Gedanken mitnehmen will", warnt Katharina Erlenwein in den Nürnberger Nachrichten (19.10.2015). Gleichwohl lobt die Kritikerin: "Orwells intelligente Dystopie, seine Skepsis gegen jedes politische System und der Glaube an das unabhängige Denken" an diesem Abend (insbesondere im Finale) "nicht nur im Kopf, sondern auch im Bauch an".
Mit seiner Bühneneinrichtung überrasche Christoph Mehler und lasse das Nürnberger Ensemble "neu sehen", schreibt Wolf Ebersberger in der Nürnberger Zeitung (19.10.2015) und würdigt mithin ausgiebig die schauspielerischen Leistungen. Die Handlung sei bisweilen schmerzhaft, aber "musikalisch durchgestaltet" und in einem "berührend stillen Ende" aufgelöst. Fazit: "Mehlers verstörende '1984'-Version ist zugleich Blick nach vorn und zurück: ein Requiem auf uns, die Menschheit – sterblich, manipulierbar, um Vergangenheit wie Zukunft beraubbar."
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Ich halte das Stück für ungenügend, da es die Inhalte des Buches nur ungenügend wiedergibt. Es ist damit eine Mogelpackung, die lediglich den bekannten Titel als Publicity nutzt!
Ja, das Stück ist meilenweit davon entfernt die Handlung chronologisch streng herunterzubeten. Stattdessen wird die Essenz der wichtigsten Schlüsselszenen pointiert und absolut stringent wiedergegeben. Die Inszenierung ist visuell und akkustisch beeindruckend, getragen aber vor allem von großartiger schauspielerischer Leistung.
Ein toller Roman wurde beängstigend eindrücklich auf die Bühne gebracht. Ich bin wirklich sehr froh, dass nicht verpasst zu haben. Danke.