Leonce und Lena – In Frankfurt verlegt Jürgen Kruse Georg Büchners schilllernde Komödie ins Grand Hotel Abgrund
Wenn mal wieder ein Song ertönt ...
von Shirin Sojitrawalla
Frankfurt, 16. Oktober 2015. Leonce und Lena präsentieren sich auf dem Theater gern als müßig gehende Königskinder, die ihre süßen Stupsnasen in Wolkenkuckucksheime schieben. Bei Jürgen Kruse sieht Leonce wie ein abgehalfterter Rockstar aus und Lena (Linda Pöppel!) wie eine halbes Persönchen der Addams Family. Nichts an diesem Abend ist licht und hell und sonnendurchflutet, sondern alles schwärzester Ennui, ganz der morbiden Romantik des Stücks gehorchend.
Die Bühne, die Daniel Wollenzin herrlich zugerichtet hat, wirkt wie eine der fantastischen Collagen des fantastischen Ror Wolf und ist damit das augenscheinlich Schönste an diesem zähen Abend: Wir befinden uns wahrscheinlich unter der Erde, wohin sich Alice im Wunderland verkrochen hat oder auch irgendwo überm Regenbogen, womöglich auch auf einem LSD-Trip oder in einem Absinth-Rausch, wobei wir beim nächsten Mal lieber gleich zu den Drogen greifen würden.
Mal angeödeter Prinz mal Faustverschnitt: Isaak Dentler als Leonce © Birgit Hupfeld
Kronleuchter hängen träge von der Decke, im Hintergrund hypnotisiert uns Op-Art im Kreisverkehr, dort drückt sich eine Balustrade in den Raum, in der Mitte steht eine Jukebox, hier steht ein Sofa, dort fläzt sich eine Ottomane, hinten führt der Weg zu einem weiteren Raum, den wir nicht einsehen können. Kurz: Eine Wunderkammer, in der Fische staatstragend daherkommen und König Peter aussieht wie ein dick aufgetragener Blondinenwitz.
Büchners tremolierende Ironie?
Wie man es bei Jürgen Kruse erwarten darf, dröhnt gleich schönster 70er Jahre Rock aus den Boxen. Der ganze Abend wird musikalisch untermalt, mal mit Schlagern, mal mit Pop, zum Schluss jammert uns leider Wolf Biermann die Ohren voll. Um es gleich vorwegzunehmen: der Abend ist ziemlich grässlich. Eine halbe Stunde lang lässt man sich alles gern gefallen, doch die restlichen gefühlt sieben Stunden dieser enervierenden Inszenierung wollen dann einfach nicht vergehen. Leonce, den Isaak Dentler mit Hall auf der Stimme exzentrisch ausspielt, ist mal angeödeter Prinzensohn, mal ein Faustverschnitt, dann Rainald Goetz. Warum Rainald Goetz? Der bekommt dieses Jahr den Georg-Büchner-Preis und labert auch gerne los? Das wäre nicht mal der schlechteste Gag. Das Kalauer-Niveau bewegt sich sonst nämlich durchweg unter Null. "Handke mit Musik". Aua.
Leonce und Lena: Isaak Dentler und Linda Pöppel © Birgit HupfeldVon Büchners tremolierender Ironie macht sich der Abend keinen Begriff. Dabei gehört Oliver Kraushaar als Valerio zu denjenigen, die ihre Schauspielkunst am wenigsten verbergen. Den zügellosen Klamauk und die bekloppte Albernheit aus Büchners Lustspiel auf die Spitze treiben zu wollen, wirkt gar nicht verkehrt, doch warum um Himmels Willen so unlustig, fade und bescheuert? An einer Stelle versammeln sich die Schauspieler an der Bühnenrampe und bewerfen die Zuschauer kurz und schmerzlos mit Papierfliegern. Möchte das irgendwer als Einfall gelten lassen? Dabei glauben wir noch nicht einmal, dass das alles so dumm und undurchdacht ist, wie es ausschaut, bloß das allein hilft auch nicht.
Umfassende Nervtöterei
Es gibt an diesem provozierend selbstgefälligen Abend einfach viel zu wenige Momente, die man sehen möchte. So um die drei. Darunter eine wunderbar züngelnde Liebesszene, die dem Tod ins Auge blickt und gleichzeitig Erlösung wittert. Dazwischen aber herrscht umfassende Nervtöterei, so dass man richtiggehend froh ist, wenn wieder mal ein Song ertönt und die ausgestellte Kunstlosigkeit der Darsteller unterbricht, wie ohnehin die Songauswahl den meisten Spaß macht. Mal sind sie rein an der Oberfläche ausgewählt ("Rosetta"), dann wieder erweitern sie den Horizont der Inszenierung, wie etwa "God", das die Selbstbezogenheit der Figuren im Stück hübsch aufgreift. Doch die Musik reißt es dann unserer Meinung nach auch nicht raus. Beim Warten an der Garderobe fragt eine der ausliegenden Werbepostkarten kokett: "Lust auf Theater?“. Wir sagen erst mal Nein.
Auf dem Nachhauseweg dann Morton Feldman im Autoradio. Bedenklich wohltuend.
Leonce und Lena
von Georg Büchner
Regie: Jürgen Kruse, Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Sebastian Ellrich, Cho-Reo / Kämpfe: Klaus Figge, Dramaturgie: Andreas Marber
Mit: Alexej Lochmann, Isaak Dentler, Linda Pöppel, Oliver Kraushaar, Heidi Ecks, Alexandra Finder, Timo Fakhravar, Kornelius Eich, Ildiko Schwab, Vanessa Schwab, Stefan Biaesch Andreas Tillmann, Virginia Goldmann.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
Alexander Kohlmann auf Deutschlandradio Kultur (17.10.2015) liest den Abend als "Kommentar zur der mittlerweile rund 30 Jahre währenden Kruse-Bühnenparty“. Im Laufe seiner Regiekarriere "kreierte" Kruse "eine Welt der allumfassenden Bedeutungskorrespondenzen, in die eine Heerschar von Kruse-Jüngern immer wieder gerne zurückkehrte – und weite Reisen auf sich nahm –, um sich erneut dem altbekannten Wahnsinn auszusetzen". Der Frankfurter Abend sei "so stringent und konzentriert wie lange kein Kruse-Abend zuvor", er verzichte auf Kalauer-Klamauk und richte sich "ganz auf den zutiefst melancholischen Kern des Büchner-Textes".
Mehr als zweieinhalb Stunden ohne Pause hangelten sich die Schauspieler "von einem Augenblick zum nächsten, es entwickelt sich nichts, das Stück wird in zahllose Stücke zerstückelt, kein Handlungsstrang, nirgends", so Michael Hierholzer in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.10. 2015). "Als Zuschauer nimmt man das Ganze am besten wie einen Rausch wahr, er geht vorbei und hinterlässt allenfalls ein paar Kopfschmerzen und den Wunsch, den Sperrmüll zu entsorgen."
Eine "Bankrotterklärung des Theaters" hat Judith von Sternburg erlebt, wie sie in der Frankfurter Rundschau (19.10.2015) schreibt. "Es wird geflucht und gekalauert, dahergeplappert und konfabuliert." Allerdings seien die Kalauer und Späße "nicht helle", sollten es "zweifellos" auch nicht sein. Es scheine darum zu gehen, Langeweile zu demonstrieren und Zeit totzuschlagen, "was Büchner-nah wäre, etwas allgemein gesprochen. Im unkonzentrierten Gewitzel steckt jedenfalls die Melancholie des freiwilligen totalen Scheitern." Von einem Besuch kann von Sternburg nur abraten.
"Hier ist es eher dunkel, das Licht ist manchmal reichlich schummrig, Leonce und Lena tragen sogar Schwarz", schreibt eine sehr angetane Astrid Biesemeier in der Frankfurtert Neuen Presse (20.10.2015). Zwar zeige Jürgen Kruse immer wieder, wie Leonce und Lena sich bemühen zu leben, "aber eigentlich taumeln sie zwischen Exzess und Katerstimmung". Mit nach Kruse'scher Manier eingespielten Rock- und Popsongs "schafft der Regisseur nicht nur immer wieder humorvolle Brechungen und Partystimmung, sondern auch einen weiten, vieldeutigen Assoziationsraum". Fazit: "Am Ende dieser tollen Inszenierung mit ihrem wunderbaren Rhythmus zwischen Party und Vergeblichkeit und den durchweg eindrucksvollen Schauspielern besingt Wolf Biermann die fehlende Revolution und einen gefährlich kalten Frieden."
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Die "Wir-Form" ist eine durchaus übliche Form in Rezensionen aller Art, die wohl noch aus einer Zeit stammt, als noch nicht alle "Ich" riefen.
Sie ist von mir weder als Anmaßung noch als Kollektivhaltung gemeint; vielmehr klingt sie in meinen Ohren schlicht nicht so eitel wie ein "Ich".
Da mein Name über der Kritik steht, sehe ich keine Möglichkeit, darüber hinwegzutäuschen, wer da spricht.
Es grüßt: Shirin Sojitrawalla
Deswegen schließe ich mich Valerio an und werde Staatsminister, und es wird ein Dekret erlassen, dass, wer sich beim Verfassen uncooler Theaterkritiken Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich beim Versuch der Missionierung von Kulturbanausen krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich rühmt, Theatervorstellungen nur im Schweiße seines Angesichts ertragen zu können, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten den nicht existierenden Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische (Weiber-) Leiber und einen Geist, der aus der Flasche kommt!
Ich will wirklich nicht pedantisch sein...
Aber den moralischen Seitenhieb mit Hinweis auf neuzeitlichem Egoismus finde ich doch etwas übergriffig, sonst so sehr von mir geschätzte Frau Sojitrawalla. Inhaltlich stimme ich Ihnen mit dem 'Neuzeit-Ich' zudem nicht zu.
Ich lese Theaterkritiken zuhauf. Und ganz jung bin ich auch nicht mehr. Habe also auch schon zu 'alten' Zeiten lesen können.
Wenn in Ihrem Falle das 'Wir' ein 'Ich' ist, dann bleiben Sie doch einfach dabei. Oder pluralisieren Sie sich selbst indem Sie von sich als der Kritikerin schreiben. Ist einfacher, klarer und schafft keine Verwirrung.
Freue mich auf 'Ihre' nächste Kritik aus Frankfurt.
Es grüßt: Ich (ganz unegoistisch).
Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen." (Minima Moralia). Wie ist es dann mit dem "Wir"?
Zugegeben, das Rezensenten - Wir ist eine stilistische Konvention und soll das Geäußerte wohl auf eine größere Grundlage stellen und damit das Subjektive jeder Kritik verallgemeinern und damit ein wenig objektivieren. Trotzdem ist jede Kritik subjektiv - das zeigen nicht zuletzt die vielen sich stark unterscheidenden Kommentare. "Und das ist gut so!" (K. Wowereit)
Aber meiner Meinung (also nicht "unserer") nach wirkt dieses "wir" doch sehr veraltet, es riecht ein wenig nach Feuilleton der fünfziger Jahre.
Zur Inszenierung: Ich habe sie nicht gesehen, aber beim Lesen kamen Erinnerungen hoch. Ich habe Jürgen Kruses Bochumer Inszenierungen in den Jahren der Haussmann - Intendanz mitbekommen und teilweise auch erlitten. Irgendwie könnte man die technischen Daten (Titel, Namen der Figuren) austauschen und müsste wohl nur wenig ändern, es scheint auch weitgehend dieselbe Musik zu sein.
Trotzdem: Es ist schön zu lesen, dass die Inszenierung auch gefallen hat.
Meiner Meinung nach hatte der Abend zwar Längen, ist aber unendlich weit davon entfernt, wie sagten Sie doch, "umfassende Nervtöterei" zu sein. (...)
Ein zu empfehlender Abend für alle die es Kruselig mögen.
Liebe/r J.A., da muss ich Sie leider enttäuschen: habe das Stück vor der Frankfurter Premiere wiedergelesen.
Ich gebe Ihnen aber recht: Auch bei Büchner wimmelt es vor Kalauern, doch die wimmeln schon sprachlich auf einem anderen Niveau.
Was ich mir von der Inszenierung versprochen habe? Ehrlich gesagt, gehe ich am liebsten ohne konkrete Erwartungshaltung ins Theater und lasse mich überraschen. Das zumindest ist Herrn Kruse ja gelungen.
Der Abend im Frankfurter Stadttheater ist auch für mich extrem nervig gewesen, genau so wie die Leistungen einiger "Hauptdarsteller", die mit einer auffälligen Form von Eitelkeit immer tiefer nach unten rutschen. Hier rockt gar nichts, hier spielt nichts, hier wird lediglich die Sau raus gelassen, so wie man es sich in Kleinkleckersdorf vorstellt, wo ja einige der versammelten Protagonisten ihre letzten Engagements hatten.