Iwanow - Schauspiel Stuttgart
Wie eine leere Dose im Gebüsch
von Adrienne Braun
Stuttgart, 17. November 2019. Alles hat er probiert, hat Tabletten genommen und Therapien gemacht, hat es mit Alkohol, Geselligkeit und Flirts versucht – und trotzdem ist er "immer so quengelig und deprimiert". Schön, aber "ohne Drive". Das Haus ist schuld, sagt Iwanow, es drücke ihn nieder wie "Bleigewicht". Deshalb schleicht er sich Abend für Abend davon, um bei den Nachbarn zu feiern. Aber es hilft nichts: "Ich komme nicht vom Fleck", sagt Iwanow, der sich selbst so wenig erträgt wie die anderen – "Ich hasse meine Scheißgedanken."
Seelisches Vakuum
Als bankrotten Gutsbesitzer skizzierte Anton Tschechow seinen jämmerlichen Helden. Robert Icke hat den "Iwanow" nun am Schauspiel Stuttgart von der russischen Provinz Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegenwart geholt und kräftig bearbeitet. Sein Iwanow ist ein Fall für den Therapeuten, ihn schert es nicht, dass seine Frau Anna Krebs hat. Er fühlt weder Liebe noch Mitleid, nichts als "Vakuum" sei in ihm.
Der junge Brite Robert Icke gilt in seiner Heimat als große Hoffnung und hat schon viele Preise eingeheimst für seine Neufassungen und Überschreibungen klassischer Texte. Auch seine "Orestie" am Schauspiel Stuttgart, seine erste Arbeit in Deutschland, wurde prompt mit dem diesjährigen Kurt-Hübner-Regiepreis ausgezeichnet. Nun hat der Intendant Burkhard Kosminski ihn erneut ans Schauspielhaus geholt.
Die Welt als Wasserbecken
Ickes "Iwanow" wartet über weite Strecken mit plattem Schulhofjargon auf – von "Was soll der Scheiß" über "du, das ist okay" bis hin zu "mach dich locker". Das Leben von Nikolas und Peter, Anna und Michael findet in der Stuttgarter Inszenierung auf einem quadratischen Podest statt, das sich sehr langsam dreht, weil das Leben dieser Existenzen ohne Hoffnungen erbarmungslos dahin gleitet. Auch Annas Leben ist ein Scherbenhaufen. Sie, eine Jüdin, wurde von der Familie verstoßen, weil sie für ihren Mann zum Christentum konvertierte. Die Mitgift hat sie damit verspielt, dabei hat Nikolas sie vermutlich nur wegen des Geldes geheiratet, so, wie es auch den anderen Männer nicht um die "ideale Frau, sondern um ein ideales Investment" geht, wie es einmal heißt.
Die Bühnenbildnerin Hildegard Bechtler hat die Bühne mit tausend Litern Wasser geflutet. Iwanow holt sich immer wieder nasse Schuhe, während die übrigen Figuren trockenen Fußes zur Plattform gelangen. Sonst wird das Wasser nicht wirklich genutzt. Auch die Videokamera, die von oben auf die Spielfläche gerichtet ist, kommt nur in den Umbaupausen zum Einsatz und überträgt die wuselnden Bühnentechniker auf die Rückwand, während Luftballons oder Papiere vom Schnürboden gleiten.
Tragik und Lächerlichkeit
Ansonsten ist die Inszenierung über lange Strecken so fad wie das Leben der Tschechowschen Gestalten. Die Figuren bleiben konturlos, den Wortgefechten und Monologen fehlen die Schärfe, weil die Sprache oft banal gerät und die Ausbrüche der Figuren belanglos wirken. Robert Icke will es nicht recht gelingen, ihre Zerrissenheit zu formulieren, diese Mischung aus Tragik und Lächerlichkeit. Deshalb wird im Lauf des langen Abends immer mehr gebrüllt und um sich geschlagen, als wolle Icke seinem Publikum wie mit dem Holzhammer die Tristesse dieser trüben Gesellschaft in den Kopf hämmern. Dabei ist eigentlich in den ersten Minuten bereits alles gesagt: "Das Leben ist ganz und gar sinnlos."
So gibt es in Ickes Version des "Iwanow" zwar Telefon und Psychopharmaka, Radio und Insulinspritze, die Figuren aber werden dadurch nicht greifbarer. Benjamin Grüter bleibt als Iwanow farblos, ob er sich zynisch, larmoyant oder depressiv gibt, nichts kann man ihm abnehmen. Auch Paula Skorupa als Anna mag man nicht glauben, dass sie sich "wie eine leere Dose im Gebüsch" fühlt. Michael Stiller bringt zumindest etwas Dynamik in den Abend, er spielt den Vater der jungen Sascha voller Leidenschaft und Kampfeswillen, auch wenn er "ein Untertan" ist, "ein Fußabtreter".
Letztlich gewinnt Tschechows Stoff durch die Bearbeitung nicht etwa an Aktualität, sondern verliert im Gegenteil an Schlagkraft. Ickes "Iwanow" ist wenig raffiniert und lässt vermissen, was sich die junge Sascha (Nina Siewert) so sehr wünscht: "irgendwas Neues oder Originelles." Die Menschen mögen bei Tschechow mittelmäßig sein, in Ickes Sprache klingt das einfach nur plump.
Iwanow
nach Anton Tschechow in einer neuen Bearbeitung von Robert Icke
Inszenierung: Robert Icke, Bühne: Hildegard Bechtler, Kostüme: Wojciech Dziedzic, Video: Tim Reid, Sound Design: Joe Dines, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Benjamin Grüter, Paula Skorupa, Klaus Rodewald, Michael Stiller, Marietta Meguid, Nina Siewert, Felix Strobel, Christiane Rossbach, Peer Oscar Musinowski.
Premiere: 16. November 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
So plausibel die Akzentverschiebungen und Aktualisierungen, so eindimensional seien vor allem die Hauptfiguren geraten, schreibt Nicole Golombek in der Suttgarter Zeitung (19.11.2019). "Nikolas bekommt bei Icke nicht genügend Raum, um seine Krise glaubhaft auszubreiten und seine Ich-Zentriertheit und Kälte hart und präzise auszuspielen. Die lähmende Verzweiflung des Helden und seiner todkranken Frau wird mehr behauptet als dargestellt." Icke wolle vor allem unterhalten. "Hohes Tempo ist dabei angesagt, und da zeigt sich: Das Ensemble hat eine hervorragende Kondition."
"Die ebenso kluge wie leichtfüßige Regie (...) nimmt dem Stück jede pathetische Wucht und Schwere und erlaubt es den brillanten Stuttgarter Schauspielern alle Varianten von Tristesse bis zur Klamotte zu entfalten", so Cornelie Ueding vom Deutschlandfunk (19.11.2019). Jede Szene steuer auf den emotionalen Kipppunkt zu. Icke zeige dass dieser Egomane Iwanow ein Jedermann sei. "Und so finden sich die hingerissenen Zuschauer an diesem überraschenden Abend wie in einem Spiegelkabinett ihrer selbst wieder."
"Hart, böse und nachher ins Boulevardeske komödiantisch gestaltet sich Robert Ickes Vereinnahmung von Anton Tschechows 'Iwanow'", schreibt Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (19.11.2019). Ickes Inszenierung sei eine Reduktion, eine 'Oberflächisierung', die in ihrer Konsequenz unheimlich überzeuge. "Es besteht ja dieses Missverständnis, dass Unglück Tiefe hätte und dadurch interessant wäre." Der Abend fange zäh an, um dann allmählich in Schwung zu kommen. Schließlich werde es "irre komisch".
"Iwanow" drehe sich "um das Sterben eines Mannes, der von der ersten Bühnensekunde an nicht zu retten war", so fasst Peter Kümmel in der Zeit 21.11.2019) das Stück zusammen. "Ein Bühnenvakuum muss inszeniert werden – eigentlich eine Unmöglichkeit; sie ist dem Regisseur Robert Icke auch nur halb geglückt." In Benjamin Grüters Darstellung spüre man "zu viel Willen, übrigens auch Stilwillen, als dass man ihm seine Trostlosigkeit so recht glauben würde".
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(Sehr geehrter Benjamin N. Walter, die Auswahl der etwa 50 Inszenierungen, die nachtkritik.de im Monat bespricht, erfolgt durch ein Planungsteamm in der Redaktion und ist von der Werbung unabhängig. Auch möchte ich Ihnen noch eine alte Weisheit des Kritikers Marcel Reich-Ranicki ans Herz legen, der einst befand: auch an schlechten Kritiken lasse sich das Exemplarische der Literatur oder des Theaters ablesen, und was am Scheitern einer einzelnen Arbeit exemplarisch ist. (Mehr dazu: "Lauter Verrisse")
Auch wenn es etwas ungenau formuliert ist, bezieht sich dieses Zuviel an Willen wohl eher auf die Figur des Iwanow, also auf die Interpretation, nicht auf das Zuviel des Schauspielers.