Lass mich dein Leben leben! ... - Roger Vontobel kämpft mit Jörg Albrechts Wortströmen
Von Scream-Queens und Oberslashern
von Sabine Leucht
München, 20. März 2009. Nur gut, dass Jörg Albrecht keine andere Berufung hat. Wäre er beispielsweise Putzmann – man bekäme es mit der Angst zu tun angesichts der Schmutzberge, die er aus den saubersten und entlegensten Ecken zu einem von unterschiedlichsten Bakterien und Mikroben nur so wimmelnden Berg zusammen kehren würde. Oder Amokläufer – seine Opfer würde er sich aus philosophischen Seminaren, coolen Clubs und vor allem dem Internet direkt vor die jederzeit wild entschlossene Knarre laden. Mindestens. Doch Jörg Albrecht ist Dramatiker und hat in seiner Auftragsarbeit für die Münchner Kammerspiele alle Ahnungen davon, was Menschen heute vor und hinter, trotz und wegen versteckter und offener Kameras so treiben, seinem reißenden Wortstrom einverleibt (siehe auch auf szenen.nachtkritik.de).
"Lass mich dein Leben leben! Dirty Control 2", heißt das von Roger Vontobel im Werkraum der Kammerspiele uraufgeführte Stück des 1981 geborenen Albrecht, und schon der Titel impliziert einen Akt der Selbstentfremdung und Fremdaneignung, der nicht punktuell und momentan ist, sondern das große Ganze umfasst. Ganz klar: Hier will vieles aufgedeckt und bewiesen werden.
Drei mal elf Monitore
Leider wird dann aber vor allem mit Bezügen geklotzt und mit Argumenten gekleckert: Alles hat mit allem zu tun, B-Movies mit Überwachungskameras, zufällige Passanten mit echten Zombies, Splasher-Film-schauende Teenies mit Splasher-Film-Opfern und Glamour mit Gefahr, und über allem schwebt die Frage nach Identität und Ausbeutung.
Auf Claudia Rohners Bühne zeigen zwischen einem singenden Gitarristen links und einem Drummer rechts (Erol Dizdar und Murena) drei mal elf Monitore zunächst sehr verschiedene Überwachungsfilme, und der Platz davor bleibt zwischen Club, Kino, Kontrollraum und Filmset passenderweise in der Schwebe. Während der ersten Hälfte des knapp zweistündigen Abends trifft man hier nämlich auf sechs Schmuddelfilm- oder Zombie-Darsteller, die plötzlich von in Zombies verwandelten Normalbürgern verfolgt werden, weil der Generalfeind Kamera sie sowohl ihrer Individualität und Privatheit beraubt als auch unsterblich macht.
Vereinigung der Pixel
Im zweiten Teil dann zielt die Kamera auf ihre Opfer, bis buchstäblich das Blut spritzt und das Filmbild in einem schwarzweißen Still gefriert. In seiner zweigeteilten Struktur wie in manchem Detail lehnt sich der Abend an das Horrorfilm-Double-Feature "Grindhouse" von Quentin Tarantino und Robert Rodriquez an. Zwischen den Teilen gibt es Popcorn und einen Film, der die großen Panoramen unserer schönen Erde zeigt.
Ganz erklären, geschweige denn nacherzählen kann man weder die Geschehnisse auf der Bühne noch ihr gedankliches Fundament. Doch für Vontobel, in dessen Arbeiten die Selbstinszenierung und -beobachtung stets im Zentrum steht, ist der komplizierte Plot wie geschaffen. Eben erst dem Etikett "Nachwuchsregisseur" entwachsen, hat der Schweizer schon beträchtliche Erfahrung mit der Überblendung von Film- und Bühnenrealität, außerdem ein Händchen für die rhythmische Abfolge von Szenen und nicht zuletzt ein umwerfend spielfreudiges Ensemble.
Süßer Schmollmund somnambul
Dies alles macht aus der kruden und in der ungestrichenen Fassung noch viel geschwätzigeren Story einen witzigen Abend. Schön der Moment, wie sich die verschiedenen Bilder auf den Monitoren plötzlich zu Pixeln eines einzigen großen Bildes vereinen, auf dem ein Menschenstrom erstarrt, sich den Akteuren auf der Bühne zuwendet und mit erhobenen Händen näher kommt. Und fast gruselig zu sehen, wie Sebastian Weber mit falschen Brüsten unterm Teakwondo-T-Shirt zur Rampensau mutiert, und welch großes komisches Talent in Oliver Mallison steckt. Aber eigentlich möchte man gar keinen hervorheben aus dem quirligen Team, dem außerdem Tabea Bettin, Tanja Schleiff, René Dumont und Lasse Myhr angehören.
Es ist am Ende vielleicht etwas zu offensichtlich eine große Gaudi für alle gewesen, aber schließlich fügen sich sogar einige weit verzweigte Gedankenfäden zu einem Gesamtbild: "Horror", sagt Tabea Bettin mit süßem Schmollmund und somnambuler Undurchdringlichkeit, "Horror befreit dich von deiner Identität. Ob innen oder außen". Und Oberslasher "Mike Myers" himself ist es schließlich, der im Interview mit Scream-Queen "Jamie Lee Curtis" die Neugier des wilden Schlächters auf die Schönheit des Inneren erwähnt. Sein orakelnder Tip für die Teenager von heute: "Wenn alles sichtbar wird, wird der Slasher sichtbar." Womit zumindest die interne Logik der mordenden Kamera ergründet wäre.
Lass mich dein Leben leben! Dirty Control 2 (UA)
von Jörg Albrecht
Regie: Roger Vontobel, Bühne: Claudia Rohner, Kostüme: Eva Martin, Musik: Erol Dizar, Murena, Dramaturgie: Ruth Feindel.
Mit: Tabea Bettin, René Dumont, Oliver Mallison, Lasse Myhr, Tanja Schleiff, Sebastian Weber.
www.muenchner-kammerspiele.de
Mehr zu Jörg Albrecht? Lesen Sie die nachtkritik zu seinen Mondlandschaften, die innerhalb der "Deutschland-Saga, die 60er Jahre" an der Berliner Schaubühne liefen. Oder lesen Sie Albrechts Texte auf szenen.nachtkritik.de und das, was er im letzten Jahr für das nachtkritik-Portal zu den Mülheimer Theatertagen über das Theater als Bastard Pop geschrieben hat.
Kritikenrundschau
Jörg Albrecht verfüge, so schreibt Christopher Schmidt in der Süddeutschen Zeitung (23.3.), "über Kennerschaft im Zombie- und Slashergenre". Und er sei "ein Meister der Compilation; sein hochcodierter Referenz-Pop erzählt an sich wenig – viel jedoch über den Statuswandel von Autorenschaft. Es ist ein vom Internet geprägtes Schreiben, das Texte als Verweise in einem sozialen Netzwerk begreift." Um Geheimnisse zu haben, sei Jörg Albrecht "zu sehr Computer-Nerd" und somit "als Autor (…) der gruseligste Zombie an diesem Abend". Immerhin verhelfe Roger Vontobel an den Münchner Kammerspielen Albrechts Stück "Lass mich dein Leben leben" "allein mit Hilfe zutiefst analoger Mittel – Slapstick, Travestie, einer zweiköpfigen Live-Band sowie dem Verteilen von Popcorn – (…) zu Wirkung und Witz". Das eigentliche Problem des Abends sieht Schmidt woanders, nämlich beim veranstaltenden Theater: Wenn nämlich "gestandene Schauspieler in fester Anstellung auf Underground machen, ist das ein dreisteres Fake, als wenn dieselben Schauspieler im Weihnachtsmärchen die sieben Zwerge mimen. Letztere tragen nur einen falschen Bart im Gesicht, nicht aber eine angeklebte Streetcredibility zur Schau".
Roger Vontobel habe Albrechts Stück über Rundum-Überwachung "als parodistischen Trash" inszeniert, meint Gabriella Lorenz in der Abendzeitung (23.3.). Er und "sein spiellauniges Ensemble" griffen "voll in schrille Klischees", wobei "völlig offen" bleibe, welchen Bezug das alles "zu der vorher auf einer Wand aus 33 Monitoren gezeigten Videosequenz vom Tod einer Psychiatriepatientin im Klinik-Wartezimmer" habe. Der Autor habe sich zum Thema Überwachung "enorm viel Theorie angelesen (zum Glück ist viel gekürzt). Aber Bühnen-Action und Essay-Phrasen treten nicht in einen Diskurs. Alles bleibt Behauptung und Zitat, nichts führt erhellend darüber hinaus."
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