Die Kontrakte des Kaufmanns - Nicolas Stemann bringt das neue Stück von Elfriede Jelinek zur UA
Gegen das System helfen keine Verträge
von Ulrike Gondorf
Köln, 16. April 2009. Elfriede Jelinek mischt sich gern ein. Mit ihrer Wirtschaftskomödie "Die Kontrakte des Kaufmanns" ist ihr die Intervention in die Zukunft geglückt. Denn das Stück zur Finanz- und Wirtschaftskrise entstand vor ungefähr einem Jahr, als es noch gar keine Lehman-Pleite mit ihren globalen Dominoeffekten gegeben hatte. Sehr viel begrenztere Skandale in Österreich hatten der Autorin den Stoff und den Anlass gegeben zu dieser wütenden Tirade auf die Skrupellosigkeit der Banker und die naive Profitgier der Anleger.
Heute wirkt das alles so aktuell, dass sich die Theater in Köln und Hamburg entschlossen haben, die eigentlich geplante Koproduktion von "Rechnitz – Der Würgeengel" gegen die Uraufführung dieses jüngsten Jelinek-Stücks auszutauschen. Mit Schauspielern aus beiden Ensembles hat Nicolas Stemann das Stück inszeniert – oder vielleicht sollte man sagen, eine sehr kreative Auseinandersetzung mit dem Text angestoßen.
Reise mit ungewissem Ausgang
Der Abend hat einen ausgesprochen improvisatorischen Charakter. Vor Beginn der Aufführung erklärte Stemann dem Publikum, dass man sich darauf einstellen solle, eine "Textumsetzungsmaschine" bei der Arbeit zu beobachten. Wohin die Reise führe, wisse das Ensemble auch nicht genau, nur dass sie drei bis vier pausenlose Stunden dauern werde. Den daraufhin sich regenden Unmut brachte er mit dem Hinweis zur Ruhe, dass jeder nach Belieben Pause machen solle, die Saaltüren blieben geöffnet, um das problemlos zu ermöglichen.
Ein Teil dieser Ankündigung war gewiss darauf berechnet, eine offene, die Erwartungshaltung an ein Theaterereignis unterlaufende Stimmung herzustellen. Denn auch wenn über weite Strecken der Text gelesen wurde, hat Stemanns Inszenierung, in der er übrigens auch selbst mitspielt, singt und musiziert, bei aller spontanen Anmutung einen hohen Grad an ausgefeilter Kunstfertigkeit. Schon allein der Einsatz komplexer Ton- und Videotechnik setzt der tatsächlichen Improvisation enge Grenzen.
Stemann inszeniert hier bereits das fünfte Stück von Elfriede Jelinek, und er weiß, mit welchen Mitteln man die Endlos-Text ohne Rollen und Regieanweisungen, den die Autorin dem Theater überantwortet – mit der ausdrücklichen Aufforderung, auch selbst über die Abfolge dieses Materials zu entscheiden – szenisch strukturiert und rhythmisiert, wie man die Bildkraft und rhetorische Schärfe dieser Prosa für die Bühne rettet.
Geld bei der Arbeit zuschauen
Die privaten "Kleinanleger" und die "Greise", die für die Banker stehen, sind die beiden Parteien dieses Stücks. In der Schlussphase mobilisiert die Autorin noch die "Engel der Gerechtigkeit", um das Geschehen zu kommentieren. Was da in wortreichen Gesängen aufeinander trifft, ist das Lamento der Geprellten, die nichts davon wissen wollten, dass bei 15 Prozent Rendite nicht auch noch die absolute Sicherheit ihrer Anlage gewährleistet war, und der kalte Zynismus der Banker, die unverblümt aussprechen, dass das Kapital bei den Kleinanlegern sowieso in den falschen Händen war und nun endlich wieder für die richtige Seite "arbeitet".
Nach typisch Jelinek'scher Manier hat der Text seine Leitmotive und Redundanzen, ergeht sich in Endlosschleifen verstiegener Assoziationen, hinter denen die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellt durchscheint. Stark ist er vor allem, wo er grimmigen Humor entfaltet und wo die Sprache selbst den verlogenen Schein entlarvt. Wie viele Wörter gibt es doch, die auf ganz gemeine Weise zweideutig werden in diesem Zusammenhang: erlösen, ersparen, versprechen, abfinden, zählen … ganz zu schweigen von den Werten.
Maßlosigkeit der Finanzwelt, der Regie, der Autorin Jelinek
Im mittleren Drittel des fast vierstündigen Abends nimmt die Maßlosigkeit der Jelinek bisweilen quälende Züge an. So muss es wohl sein bei dieser Autorin, und Nicolas Stemann verschärft den folternden Stillstand noch durch ewig auf der Stelle tretende musikalische Nummern. Aber dann zieht der Abend noch einmal stark an: zu den variationsreich erdachten und vom Ensemble virtuos umgesetzten Sprechchören, die vom Flüstern zum Brüllen, vom ausgeklügelten Räderwerk schneller Wechselrede zu blockhafter Wucht wechseln, treten suggestive Bilder, vom Slapstick bis zum Oratorium reicht das Spektrum theatralischer Mittel.
Und die langen Reden über das Nichts, in das sich Kapital und Zinsen über Nacht verwandeln können, beschließt Elfriede Jelinek mit einer starken Geschichte: Sie handelt von einem Mann, der seine gesamte Familie auslöscht, um ihr die Schande des Bankrotts zu ersparen. "Die Opfer müssen gehen, das ist doch wohl klar, die Opfer zuerst, bitte nicht drängeln!" Nicolas Stemann und sein Regieteam sowie das ganze Ensemble, zu dem Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska und Sebastian Rudolph gehören, wurden am Ende des langen Abends begeistert gefeiert.
Die Kontrakte des Kaufmanns (UA)
Eine Wirtschaftskomödie von Elfriede Jelinek
Regie: Nicolas Stemann, Bühne: Katrin Nottrodt, Kostüme: Marisol del Castillo, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel. Mit: Therese Dürrenberger, Ralf Harster, Franziska Hartmann, Daniel Lommatzsch, Sebastian Rudolph, Maria Schrader, Patrycia Ziolkowska.
www.schauspielkoeln.de
Mehr über die Verbindung von Elfriede Jelineks Texten und Nicolas Stemanns Regie lesen Sie etwa in der Kritik zur deutschen Erstaufführung von Über Tiere im Mai 2007 am Deutschen Theater Berlin. Oder in der zum Gastspiel der Hamburger Ulrike Maria Stuart beim Berliner Theatertreffen 2007. Die Urlesung von Die Kontrakte des Kaufmanns fand vor einem Monat unter Stemanns Anleitung in Wien statt.
{denvideo http://www.youtube.com/watch?v=cto1B9yJ1HM}
Kritikenrundschau
Als "freundliche Folter" beschreibt Matthias Heine in der Tageszeitung Die Welt (18.4.) Nicolas Stemanns neuen Jelinek-Abend. Allerdings liefert Heine hier einen saftigen Verriß. Bereits die Textvorlage geißelt er für ihre Kalauerseligkeit: "Es wimmelt von Sätzen im Stile von: 'Jawohl, wir Armen sind die einzigen Armen, die jetzt reich werden, wenn auch nicht durch unserer Arme Arbeit.' Uferlos und endlos mäandrieren die Witzflüsse, als sollte damit die Unübersichtlichkeit der internationalen Finanzströme karikiert werden. Diese gefühlten aberhunderttausend Scherze (...) wirken, als habe ein Reinigungskommando in sämtlichen Kabarettbühnen des deutschen Sprachraums gestrichene Gags zusammengekehrt – aus Programmen mit Namen wie 'Merkeleien unter Steinbrücken', 'Abfuckprämie für Totalverhartzte', 'Keine Rose ohne Mehdornen'". Im Grunde neige Elfriede Jelinek zu ähnlich inflationärem Verschleiß, wie die von ihr kritisierten Banker und Manager. Allerdings vernichte sie "nur Worte und nicht Werte. Wenn sie erst einmal alle möglichen Spiele mit einem Wort getrieben hat, ist dessen Bedeutungskonto total abgeräumt." Auch Stemanns Aufführung nervt ihn mit quasireligiösem Bedeutungsgehubere. Vieles klinge schön, sehe manchmal auch schön aus, und sei gut gespielt. "Aber es ändert doch nichts daran, dass man sich am Schluss von blendenden Scharlatanen abgezockt fühlt wie ein Anleger von Lehman Brothers."
Als "kabarettistischen Amoklauf" und "garstiges Requiem" hat Stefan Keim in der Frankfurter Rundschau (18.4.) diesen Abend empfunden, dessen Textmassen er manisch um einige Grundthemen kreisen in Stemanns Inszenierung meist recht "formlos, halb improvisiert" dahindümpeln sieht. Und doch fasziniert Keim, "wie der Regisseur seine erfolgreiche bisherige Beschäftigung mit Jelineks Texten" an diesem Abend in Frage stellt, "noch einmal ganz von vorne denkt, eine neue Form entwickelt, die den Zumutungen dieser Autorin gerecht wird". Das Stück sei inhaltlich dünn, es trage nicht über so einen langen Abend. Doch Elfriede Jelinek schreibe es dauernd weiter, schicke Stemann Texte, die spontan in den Abend einfließen würden, ohne dass die Schauspieler sie auf einer Probe gelesen hätten. Diese "extrem offene Form" sei spannend, "jede Aufführung wird anders sein". Und wer von den ständigen Wiederholungen genug habe, könne ja Pause machen, leitet der Kritiker eine Regieanweisung Stemanns an das Publikum weiter.
Clever zerlegt und inszeniert findet Marion Löhndorf von der Neuen Zürcher Zeitung (18.4.) Elfriede Jelineks manische Textblöcke in Nicolas Stemanns Uraufführung. Denn Stemann übertrumpfe ironisch das Blendwerk von Elfriede Jelineks Sprache mit einem höchst durchschaubaren Bühnenillusionismus. Das Kölner Schauspielhaus gebe sich zu diesem Zweck "ganz antiautoritär". Gleich zu Beginn erkläre der Regisseur, "die Türen zum Zuschauerraum blieben während der pausenlosen Vorstellung geöffnet, Hinaus- und Hineingehen während der Vorstellung wie auch Essen und Trinken seien durchaus gestattet. Die Aufführung sei keine fertige Inszenierung, sondern eine 'Textverarbeitungs- oder Umsetzungsmaschine', was aus Sicht der Kritikerin natürlich nur eine ironische Verve ist. Dem "vermeintlich improvisatorischen, leichthändigen Zugriff" entspricht für sie dann auch "Stemanns sanfte Aufhellung der dramatischen Grundnuance". Er entschärfe den Dauerton von Zynismus und Hohn im Stück manchmal bis an den Rand der Verharmlosung, folge aber Jelineks sardonischem Humor.
"Man muss das Theater lieben für Abende wie diesen", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (18.4.). Weil es eine Heraus- und eine Denkforderung, eine Zumutung sei. "Wieder und wieder umkreisen Jelineks Tiraden, ihre kalauernden Jelinekiaden, das zentrale Motiv: Das Geld, unser Mammon, ist hin." In den dreieinhalb Stunden, welche "diese Zumutung" dauere, schenke Stemann einem nichts. "Hat der Regisseur in früheren Jelinek-Inszenierungen (...) die komplexen Textflächen der Autorin oft schwer behauen und ironisiert und ihre Unspielbarkeit in aller Verzweiflung vorgeführt und karikiert, ackert er sich diesmal mit seinen Schauspielern Satz für Satz durch, lässt in dieser Litanei der Wut genauso ihren Lauf wie der Komik, und auch eine große Trauer bricht sich. "Es ist, schreibt Dössel, "ein Oratorium, ein Sprachkonzert, ein Textmühlengebet – ein unaufhaltsamer, unerbittlicher Mahlstrom, der in seinen Endlosschleifen und Redundanzen alle Gewissheiten zermalmt und buchstäblich auf die Nerven geht: auf die des Zuhörers ebenso wie auf den Nerv der Zeit, welche so kapital aus den Fugen ist."
"Was hätte Frank Castorf in seinen besten Zeiten" wohl aus diesem, sich der Szene verweigernden Text gemacht, fragt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.4.), der Nicolas Stemanns "Montage aus Lamento, Tirade, Agitrap und Gebet" nicht überzeugend findet. "Revueartig aufgezogen, mäandert die Inszenierung zwischen Performance, Installation und Konzert, auf die Rückwand und beide Seiten werden Zeitungsartikel und Börsenkurse projiziert, Hiobsbotschaften laufen als Leuchtschriften." Überhaupt seien so ziemlich alle Mittel von A wie 'Action painting' bis Z wie 'Zaubertrick' "recht und vor allem billig", nämlich "Maskenspiel und Mediensatire, Kalauer und Kommentar". Rhapsodisch werde das Tempo gewechselt, angezogen und wieder zurückgenommen, dazwischen gelängen allerdings manchmal "bildmächtig ineinandergespiegelte Illustrationen". Insgesamt erscheint Rossmann "die Bühne als Zitatenbankhaus, in dem es Stemann mit Jelineks Stückwerk ganz ähnlich ergeht wie dem Kleinanleger mit seinem Ersparten: Das Kapital zerrinnt ihm, Folge einer Inflation der theatralen Mittel, zwischen den allzu verspielten Regiefingern."
Die Stärke des Jelinek-Textes liege "bestimmt nicht in der nüchternen Analyse der Verhältnisse, sondern in deren biblischer Übersteigerung", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (18.4.). Der Text mäandere "von der Höhe antiker Tragödien bis ins tiefe Tal des Kalauers, ist mal Martin Heidegger in ätzend, mal Otto Waalkes in läppisch". Man sieht und hört: Schauspieler, die anklagen, sie "bilden Chöre, die sich vom Flüstern bis zum Urschrei steigern, verhaspeln sich beim Vortrag am Flipchart, Bilanzgrafiken wuchern sich zum Action-Painting aus, Textbrocken machen sich rhythmisch locker und werden zu Songtexten". Irgendwann gerate die Aufführung ins Stocken und drohe "das Jelineksche Sprachgewitter die Aufführung zu unterspülen. Alles löst sich in Text auf, der sich teilweise durch ein Megaphon selbst zu sprechen scheint". Dann steigerten die Schauspieler den Abend "im Chor zu einem drängenden, drängelnden, furiosen Finale". Fazit: ein "ganz ganz großer Abend".
Als "verspätetes Colloquium" zur Daimler-Hauptversammlung begreift Peter Kümmel in der Zeit (23. 4.) diesen Abend, nicht nur, was die offenen Saaltüren sondern auch was die "hochgestimmte Langeweile" betrifft. In Köln zeige man außerdem stolz, wie sehr man von Text und Wirklichkeit überfordert sei. Doch rechte kritische Konsequenz kann Kümmel weder im Text noch in der Inszenierung erkennen. Dennoch hat es was, ahnt man zwischen seinen Zeilen, wie in Köln das Geld selbst beginnt, sich "ohne uns" zu vergnügen. "Es hat Zukunft, wir nicht. Es wird leben, wir nicht. Es wird es einmal besser haben, wir nicht." Umso bedauerlicher für Kümmel, daß Jelinek ihre meisten Witze zum Thema gnadenlos zu Tode reitet.
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Eigentlich habe ich mich gerade erst warmgesehen - jeder Mensch muss sich schließlich akklimatisieren - und da war es schon wieder vorbei. Für mich war der Abend eine einzige uferlose Einleitung. Als es dann an den Hauptteil ging, haben die Akteure schlapp gemacht.
Sie hätten ja mitsingen können: WIR SIND INDIVIDUELL!
Und ich weiß jetzt endlich: die Kanäle, in denen unsere Scheiße fließt, gehören nicht mehr uns.
Die wahre Herausforderung für den konventionellen Wilmersdorfer tt10-Besucher besteht darin, einmal nicht das Geld, sondern den eigenen Kopf arbeiten zu lassen. Nicht mündelsichere Papiere zu kaufen, sondern es zu wagen, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Auf dass die Köpfe qualmen wie das verbrannte Geld. Bleibt am Ende nichts übrig ausser das Massaker des symbolischen Tauschgeschäfts? Das ist doch kein Leben!
Wunderbar, wie Stemann auch die Zuschauer inszeniert und in eine Art Kirchenchor verwandelt, welcher aufgefordert wird, vom eigenen neoliberal geprägten Glauben an das Geld bzw. vom pervertierten und sich permanent wieder-holenden Marktradikalismus zu singen: "Wir sind individuell!" Ja. Genau. "Es gibt keine Gesellschaft. Es gibt nur Individuen." (Margaret Thatcher) Oh Gott. Amen. Und Happy Birthday! Oder: Von der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der dionysischen (Wort-)Musik.
Wir sind alle schuldig. Auch und gerade "die Kunst", welche oftmals nur eine weitere Geldproduktions- bzw. verwertungsmaschinerie ist. Das Wettbewerbs-, Konkurrenz- und Profitdenken einer marktgängigen Vernutzung ist auch dort längst angekommen. Hilfe! Und wie kommen wir da jetzt wieder raus? Aus diesem Festspielhaus, das laut Stemann demnächst "abgerissen" werden soll. Wie auch der Palast der Republik bereits abgerissen ist. Aber das ist vielleicht etwas anderes. Das ist mein assoziatives Gedankenspiel zum Thema Fassade und Repräsentation. Wo bis vor Kurzem noch städtische Architektur im Sinne der Öffnung eines kollektiven Gedächtnisraums zu sehen und zu begehen war, ist nun ein Nichts, ein Loch in der Mitte Berlins. Wo ist die historische Substanz, die Spur der Vergangenheit, die Spur der Steine gegenüber den volatilen Werten hin?
Können Menschen fliegen? Nein. Menschen können nicht fliegen. Eben. Wer sagt denn, dass wir frei sind? Natürlich sind wir frei, frei von allen Sicherheiten. Und das ist kein Grund zur Panik. Wir müssen nur die Angst überwinden, wie die Akteure auf der Bühne. Kann doch sein, dass sich draussen vor dem Festspielhaus bereits die Massen zusammengefunden haben, oder? Für einen kurzen Moment wird dieser Sprung zurück in eine in ihren Möglichkeiten offene Zukunft heraufbeschworen, und zwar durch den chorisch skandierten Widerstand der den Naturgewalten des Finanzkrisentsunamis ausgesetzten Akteure. Da war es plötzlich wieder, das Einfache, das schwer zu machen ist. Auch wenn die symbolische Realitätskonstruktion bzw. Bühnenkonstruktion einbricht.
Westerwelle als Pappmaske vor den Gesichtern der Akteure wird nicht als Retter taugen. Der befindet sich im permanenten Ausnahme-Trancezustand. Das ist das kultische Ritual des Marktes, welcher im Rhythmus der Trommeln des Karnevals der Kulturen schlägt. Was für ein Paradox! Das Investmentbanking ist gar nicht so rational durchgeplant und kontrolliert, wie uns immer glauben gemacht wird. Es ist auch eine Antwort auf unsere eigene Gier. Und so machen sich die Geldwerte lieber selbständig. Es ist alles nur das Versprechen des Versprechens.
Nein. Der Kapitalismus ist nicht böse. Und wir sind auch nicht alle bloß Opfer. Und das ist jetzt auch nicht alles bloß komisch und total überzeichnet. Das ist kein business like showbusiness. Nein. Das hier ist politisch, die "Parodie der Verdrängung, also die Verleugnung des Offensichtlichen" oder: "Geld oder Leben! Das Schreckliche ist immer des komischen Anfang." (Elfriede Jelinek)
Es gab Zeiten, da konnte man die Götter mit Menschenopfern besänftigen. Ob man den Gott des Geldes ebenso besänftigen kann, das ist hier die Frage.
Jelinek hat in ihrem Stück, oder besser ihrem Textmonolith, mehrere österreichische Bankenskandale verarbeitet, die der globalen Finanzkrise noch vorangingen, und den Text seitdem mehrfach ergänzt. Ein Work in Progress, fast eine Art Echtzeittheater, das ver-, er- und aufgearbeitet sein will, so wie es selbst ver-, er- und aufgearbeitet, nämlich die Sprache des Finanzsystem, die Sprache und Logik des Geldes. Eine Expedition in eine unbekannte (Parallel-)Welt, die unsere so zu dominieren scheint und vielleicht realer ist, als das, was wier Wirklichkeit nennen.
Es ist eine Arbeitssituation, so dass neben den Schauspielern und Musikern auch der Regisseur selbst auf der Bühne steht, ebenso der Dramaturg aber auch Videokünstlerin Claudia Lehmann, bis hin zur Souffleuse und dem Kabelhalter für die Videokamera. Ein Arbeitsprozess auch, bei dem die Türen offen bleiben, der Zuschauer kommen und gehen darf. Ein Counter zeigt, wie viele Seiten Text noch folgen.
Wenn auch viel mittlerweile feststeht, mehr als noch bei den improvisierteren Premieren in Köln und Hamburg, so bleibt dieses Sich-am-Text-Abarbeiten nach wievor Grundmotiv der Aufführung wie des Stückes. Denn schon Jenlineks Text ist Forschungsarbeit, Expedition in eine unbekannte Welt. Denn wo in Brechts Heiliger Johanna der Schlachthöfe (von Stemann selbst kürzlich nicht ohne Erfolg inszeniert) der Umweg über Figuren genommen wird, spricht hier das Geld selbst. Die auftretenden Menschengruppen, Banker und Anleger, sind nur noch Akteure, Agenten des Geldes, der Gier.
Es sind sprachmächtige Texte, voller Anspielungen, Wortspiele, Wiederholungen, Redundanzen, fast obsessiv erscheinender Arbeit an, mit und gegen die Sprache. Und so wie der Text die Sprache des Geldes und ihre eigene Logik, erarbeit, tut es auch die Aufführung. Da wird der Text vorgelesen, die eine oder andere Szene gespielt, da gibt es Spechchöre, da wird mit Musik gearbeitet, einzeln (Stemanns wunderbare Adaption von Falcos Jeannie auf die Lehman-Bank) oder choral, und auch Live-Video spielt eine wichtige Rolle (gipfelnd in einer grandiosen Projektion von Darsteller-Gesichtern auf weiße Ballons).
Alles wird aufgeboten, alles wird versucht, sich diese Welt, diesen Text, diese Sprache zu erarbeiten. Das ist zuweilen grotesk, nicht selten komisch, das hat tragische Momente und gerät streckenweise zur Nummernrevue. Das Ergebnis ist überraschend: Jelineks sperriger Text wird lebendig, unterhaltsam ist das allemal. Und so bleibt ein erstaunlich kurzweiliger Abend, der die Zwanghaftigkeit des Geldmarktes ebenso beleuchtet wie die eigentümliche, aber durchaus zwingende und nachvollziehbare Logik des Geldes. Doch wo Jelinek pessimistisch wertet, beschreibt Stemann, zeigt auf, macht lebendig. Ein außergewöhnlicher Theaterabend, der das Theatertreffen-Publikum völlig zu Recht begeisterte.
"Bis an den Rand hat Jelinek ihre 'Kontrakte' mit dem Jargon des freien Marktes angefüllt, er bekommt jeden Raum, die Inszenierung muss ihm jeden Raum eingestehen - der Mensch aber kommt darin nicht vor, er füllt ihn nicht an. Der Freiheit des Geldes, nicht unserer führt er das Wort. Dieser Text verhilft uns zu(m) n(N)ichts. Ein anderer aber ist nicht in Sicht. Und sein Ende?"
Da haben wohl wieder einige was falsch verstanden. Hier sollte doch keiner geläutert werden. Das wäre ja tatsächlich so, als wenn jetzt alle die Schrottanleihen ver- oder gekauft hätten, nur noch zu Stemann gehen müssten, um im kollektiven Absingen von Chorälen die Absolution zu erhalten. Ja, ja, der Mensch ist leichtgläubig und genau das hat Stenmann uns kongenial vor Augen geführt. Übrigens 123, es besteht nie ein Zwang mitzusingen, eigene Entscheidungen sind immer noch gefragt, tatsächlich! Konservieren Sie Ihr Hirn und Ihre Haltung ruhig vor solchen Veranstaltungen und bleiben Sie immer schön resistent.
Das Tragische entsteht dadurch, dass wir oftmals erst im Nachhinein erkennen, dass die Form des abgeschlossenen und vereindeutigenden Systemdenkens immer schon radikal in Zweifel gezogen werden sollte. Sei es nun die Methode der RAF, Politiker und Unternehmer stellvertretend für "das kapitalistische Schweinesystem" verantwortlich zu machen (darauf verweist Stemann möglicherweise zum Ende hin, wenn Zuschauer, Schaupieler und er selbst mit einem "schuldig"-Schild vorm Gesicht in Form von schwarz-weiss-Fahndungs-Fotos auf die Bühnenwände projiziert werden). Sei es das Glaubenssystem des Geldes, das profitorientierte Denken, durch welches die zehn Gebote nach Sloterdijk in ihr Gegenteil verkehrt werden: "Du sollst begehren deines Nächsten Geld, du sollst stehlen, du sollst lügen und wenn nötig auch töten."
Der "Kapitalismus als Religion" funktioniert folgendermaßen:
"Nach [Walter] Benjamin stellt der Kapitalismus nicht nur, wie Max Weber meint, eine Säkularisierung des protestantischen Glaubens dar, sondern ist seinem Wesen nach selbst ein religiöses Phänomen, das sich parasitär aus dem Christentum entwickelt hat. Als solches, als Religion der Modernität, wird er von drei Wesensmerkmalen definiert: 1. Er ist eine 'Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat. [...] 2. Dieser Kultus ist von permanenter Dauer, es ist die 'Zelebrierung eines Kultes SANS RÊVE ET SANS MERCI'. [...] 3. Der kapitalistische Kultus zielt nicht auf Erlösung oder Sühnung einer Schuld, sondern auf die Schuld selbst."
(Giorgo Agamben, "Profanierungen")
Stemann zelebriert diesen Kultus und spielt zugleich mit ihm, führt ihn einem neuen Gebrauch zu. Der (Konsum-)Kreislauf ist verführerisch. Auch der "Wertekonsum" im Theater (Affirmation vs. Nihilismus). Stemann bietet nicht das an, was wir nachfragen. Er gibt uns nicht das, was wir begehren (sollen). Sondern er fordert uns heraus, diesen Kreislauf permanent zu hinterfragen.