Das Wintermärchen − Johanna Schall inszeniert die Uraufführung von Frank Günthers Shakespeare-Übersetzung in Ingolstadt
Kein Märchen: Hermiones Falten
von Isabella Kreim
Ingolstadt, 24. März 2012. Es ist eine schaurige, abstruse Geschichte, aber kein Gruselmärchen. Nichts als eine sachliche, portalbreite Treppe, weit an die Rampe vorgezogen, braucht Regisseurin Johanna Schall, um durch die Katastrophenspirale einer Familien- und Staats-Tragödie über Schäferspiel-Komik zu einem Schreckens-Happy-End zu führen. Illusionslos, auch in den Theatermitteln.
Schon Shakespeares Spätstück "Das Wintermärchen" kurvt hochmodern unlogisch durch Psychowahn und Tölpeleien, Freundschafts- und Liebestragödie, Staatskrise, Gaunerkomödie und Mysterienspiel. In Schalls Inszenierung sitzen heitere Menschen in weißen Anzügen auf der obersten Treppenstufe und sehen als Hofgesellschaft und Spiegelbild der Zuschauer tatenlos zu, wie der Alptraum beginnt. Es ist eine übermütig jungenhaft ausgetragene, wunderbare Freundschaft zwischen Polixenes, dem König von Böhmen und seinem Gastgeber Leontes, König von Sizilien sowie dessen geistreicher Frau Hermione. Doch schleichend überfällt Leontes der Dämon wahnhafter Eifersucht, er rutscht in ein geschlossenes Weltsystem, in dem nicht einmal die höchste Instanz, das Orakel von Delphi, ein objektives Korrektiv darstellen kann. Sebastian Kreutz liefert eine großartige psychologische Studie eines geradezu liebenswürdig von seiner fixen Idee aufgesogenen Tyrannen - und eines Spielmachers.
Der Mordanschlag auf Freund Polixenes wird zwar nicht ausgeführt, weil Lord Camillo (in der Darstellung von Sascha Römisch durchaus auch tragikomische) Gewissensbisse ereilen, aber die Freunde fliehen Leontes, seine Frau und Sohn sterben, die neugeborene Tochter lässt der Verblendete in der Fremde aussetzen: Eine Familie und ein Land in Auflösung. Reue und Versöhnung wird erst die nächste Generation 16 Jahre später schaffen – nach Überwindung der üblichen Hindernissen durch das väterliche Veto.
Füllhorn
Ein komödiantischer Kampf mit einem Bärenkopf weist den stilistischen Weg in den zweiten Teil. Was wie eine antike Tragödie begann, bricht wie ein Füllhorn der Theaterunterhaltung auf. Heraus quellen gealterte Businessmen und mit Märchenrauschebärten Verkleidete, pubertäre Verliebte, eine zauberhaft-neckische Schäfertanz-Choreographie, charmante "Rüpelszenen", eine männliche, burleske Schäfer-Mamma und ihr naiver Sohn (richtig rührend: Rolf Germeroth und Peter Reisser), die Allegorie der Zeit als kindlicher Rapper, ein sanftmütig-pfiffiger Gauner mit Songeinlagen, ein Verkleidungs-Striptease zur live gesungenen Barockarie ...
Und die Treppe fokussiert unmittelbares, spielerisches, hervorragendes Schauspieler-Theater ohne Märchenzinnober mit ergreifenden Momenten auch von Annika Martens als Hermione und Teresa Trauth als couragierte Dienerin.
Neuübersetzung
Plastisch, bilderreich, ohne romantische Beschönigungen, heutig, aber ohne platte Modernismen ist die Übersetzung von Frank Günther ein weiterer Meilenstein in seiner Mammutaufgabe, für Shakespeares Gesamtwerk eine neue Sprache zu finden. Auch in den unterschiedlichen Tonlagen so nah am Original und so bühnentauglich wie möglich. Er stutzt dabei keineswegs den weitschweifig gedrechselten Sprechduktus des in seinen Wahn abdriftenden Leontes zurecht und dichtet mit doppelsinnigen Wort-Neuschöpfungen die Sprachlust Shakespeares nach.
Horror-Happy-End
Trotzdem ist es gut, dass Dramaturg Donald Berkenhoff klug und radikal gekürzt hat. Ein schöner Trick: Gauner oder Narren raffen überlastigen Hofleute-Text als Reporter mit Mikrofon oder als Regieanweisung an die Figuren. Und so beginnt das furiose Finale als Theaterparodie.
Bei der allseitigen Versöhnung und Verzeihung werden pathetisch die Arme gen Himmel geworfen, herrscht kollektives Schluchzen, Heulen und die-Treppe-herunter-purzeln, bevor der wahre Horror ausbricht. Leontes hat sie wieder, seine zu Unrecht wegen Untreue in Gefängnis und Tod getriebene Frau. Ihre Statue wird lebendig, schauerlich gealtert. Der tote Sohn jedoch bleibt Denkmal.
Und der misslaunige Ton, mit dem Leontes seinen Hofmann und die treue Dienerin zwangsverheiratet und den Neubeginn der alten Dreier-Freundschaft heraufbeschwört, macht klar: Diesem Land und diesen Menschen könnte ein neuer Winter des Missvergnügens bevorstehen.
"Eine Komödie, die in Wahrheit eine Tragödie ist", heißt es in Thomas Bernhards "Theatermacher", der nur zwei Tage zuvor in einer großartigen Aufführung in der Regie von Knut Weber in einer Sportgaststätte Premiere hatte: Beide Premieren zusammen bilden ein weiteres Kapitel in der ernsthaften, lustvollen und wahrhaftigen Theaterarbeit der ersten Spielzeit der Intendanz von Knut Weber.
Das Wintermärchen
von William Shakespeare, Uraufführung der Übersetzung von Frank Günther
Regie: Johanna Schall, Bühne: Horst Vogelgesang, Kostüme: Jenny Schall, Choreographie: Romy Hochbaum, Dramaturgie: Donald Berkenhoff, Musik: Peter Reisser.
Mit: Marina Breitschaft, Anita Graeff, Annika Martens, Marie Ruback, Teresa Trauth, Ulrike Ottinger; Anjo Czernich, Rolf Germeroth, Sebastian Kreutz, Nik Neureiter, Richard Putzinger, Peter Reisser, Sascha Römisch, Bastian Bonack / Mathis Harbers u.a.
www.theater.ingolstadt.de
Ein sprechendes Bühnenbild habe Johanna Schall sich von Horst Vogelgesang konstruieren lassen, meint Anja Witzke im Donaukurier (25.3.2012), "zeigt es doch nicht nur das beschwerliche, kurzweilige, heikle Auf und Ab der Figuren, sondern verweist auch auf die merkwürdige Konstruktion des Stücks, das zwischen Tragödie und grotesker Komödie schwankt". Das große Verdienst der Regie liege dann darin, dass sie die eigenartige Gemengelage aus Shakespeares „Wintermärchen" kongenial auf die Bühne bringe: "das Schwere und das Leichte, die Katastrophe und den Kalauer, die Tiefe und das Vordergründige, die Tragödie und die Komödie, die winterliche Schwermut und das Frühlingserwachen, ein Happy End, das keines ist". Sebastian Kreutz als Leontes gelinge es in bewundernswerter Weise den Furor, das ekstatische Toben seiner Figur ob der (vermeintlich) öffentlichen Schmach, so darzustellen, dass auch der Schmerz dahinter sichtbar wird. "Was für ein spektakulärer Auftritt!" Dagegen hätten es die anderen Figuren und ihre Darsteller schwer, wenn sie ihre Sache auch mit großer Präzision (vor allem in der Sprache), Energie und einer kühnen Mischung aus Tragik und Komik meistern. Insgesamt sei es "ein Abend zum Lachen, Seufzen, Staunen und Mitleiden."
Johanna Schalls Inszenierung mache das Stück als Konstrukt kenntlich, schreibt Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (27.3.2012). "Explizit gedenkt sie der Opfer, die das blindwütige Handeln des Königs fordert, die jedoch angesichts des wundersamen Happy Ends nur allzu gerne in Vergessenheit geraten." Es sei dieser Ansatz, der die Inszenierung sehenswert macht. "Auch die schlichte Bühne in der Art eines antiken Amphitheaters ergibt für ein Stück, das zum größten Teil auf Sizilien spielt, Sinn." Nicht zuletzt verfüge die Aufführung mit Sebastian Kreutz als Leontes über einen Schauspieler, "dem die Darstellung krankhafter Eifersucht wirklich überzeugend gelingt". Der Abend habe aber durchaus auch seine Schwächen. "Wenn sich mit dem vierten Akt die Handlung zeitweise nach Böhmen verlagert, wenn mit dem Gauner Autolycus, dem Prinzen Florizel und seiner Geliebten Perdita gänzlich neue Figuren auftauchen und sich das Stück insgesamt in ein frühlingsbuntes Treiben wandelt, fällt Johanna Schall außer müden Scherzen herzlich wenig ein."
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