Hier kommen wir nicht lebendig raus – Malte C. Lachmann inszeniert Martin Heckmanns in Hannover
Schwimmst du noch, oder dümpelst du schon?
von Stephanie Drees
Hannover, 7. Dezember 2012. Die Trophäe dieser Reise ist eine Unterhose im getupften Rentner-Hallenbaddesign. Ira hat sie vom Kopfe ihres Vaters erbeutet, sie ist quasi der Beweis des Zusammentreffens und auch der Nulpigkeit des Erzeugers. Am Jungen Schauspiel Hannover ist der Bademeister besiegt. Doch was nützt das? Ira, die Heldin in Martin Heckmanns' Stück "Hier kommen wir nicht lebendig raus", ist auch gegen Ende noch das "elektrische Mädchen" – da hilft auch keine Direktkonfrontation der Nachwuchs-Elektra mit dem Herrscher über das Nichtschwimmerbecken.
Doch Ira ist schließlich auch nur der "Versuch einer Heldin". So lautet der Untertitel des Stücks – die Heckmann'sche Liebe zu fröhlichen Mehrdeutigkeiten. Nicht nur die Hauptfigur versucht sich, die gesamte Erzählkonstruktion kokettiert mit den Möglichkeiten einer zeitgenössischen Heldinnenerzählung. Doch in einer idealfreien Ironiezone, die sich – Knick-Knack! – Welt nennt, ist es um Helden nicht gut bestellt. "Ich bin keine Erlösungsgeschichte, sondern ein Problemverlauf", weiß Ira. Dabei ist die junge Frau, die im Bereich "Junges Telefonieren" arbeitet, mit vielen Wassern gewaschen.
Plantschbecken der Plattitüden
So sieht es die Interpretation des Regisseurs Malte C. Lachmann, der Ira (übersetzt: "die Zornige") auf der Hannoveraner Ballhof-Bühne durch ein Becken waten lässt. Bei manchem ihrer Tritte spritzt das knöcheltiefe Wasser bis in die dritte Zuschauerreihe. Ein Spielplatz mit Schaukel, Rutsche und ausgebreitetem Pflanzenwerk ragt aus dem Bassin von Bühnenbildner Stefan Britze. Hell leuchten die Geräte vor halbdunklem Hintergrund, morbid-pittoreske Tim-Burton-Ruhe. Innerhalb dieses Quadrats wird Ira ihre Reise bestreiten. "Ich schwimme nicht, ich dümpele eher. Oder liege im eigenen Saft. Es ist vielleicht doch alles eher ein Römertopf". Eine Sinnsuche im Planschbecken der Plattitüden.
Martin Heckmanns ist einer der erfolgreichsten Rhetorik-Häcksler, ein Jongleur mit den Phrasen der Gegenwart. Die Geschichte um Eine, die sich aufmacht, das "Glück der Enttäuschung" zu finden, ist 2010 als Auftragswerk für das Düsseldorfer Schauspielhaus entstanden. Heckmanns Erzählweise ist fragmentiert, die Sprache schnell und pointenreich, epische Einsprengsel, Verweise und Andeutungen verschachteln das Ganze zu einem popästhetischen Mehrebenenkonstrukt. Heckmanns hat seine Offline-Odyssa stärker als die anderen Figuren als Persönlichkeitskaleidoskop angelegt. Zwischen rührendem Zorn, Emphase und postpubertärem Weltschmerz durchläuft sie einen Entwicklungsroman. Ira verlässt die Mutter und das virtuelle Netz der Erfahrungskrücken, um analog ihr Glück zu finden. Sie wird Provinz-Schauspielerin, will mit politischer Lyrik die bestehenden Verhältnisse umstürzen, trifft Kommunarden, diskutiert mit einem Bäcker über Literatur und heiratet schließlich einen Sparkassenangestellten. Selbst schuld.
Angezapfte Lebenserfahrung
Der Regisseur Malte C. Lachmann, Jahrgang 1989 und Gewinner des diesjährigen Körber Studios Junge Regie, macht aus der Vorlage eine Farce. Komödiantisch aufgeputzt reiht er die einzelnen Episoden als Revue aneinander. Wenn bei Heckmanns die Maske fällt, wird sie bei Lachmann aufgesetzt: Die Figuren, mit denen Ira auf ihrer Reise Zwiesprache hält, werden zu comicartigen Typisierungen. Den alten Mann, dessen Lebenserfahrung Ira gerne anzapfen würde, lässt Schauspielkollege Christoph Müller mit den Händen sprechen. Sie stecken im Mund eines überdimensionalen, bunten Pappkopfes. Die Prüfungskommission der Schauspielschule ist ein janusköpfiges, grünes Wesen mit Kulturfuzzi-Brille.
Stilisierungen machen aus Lachmanns Inszenierung einen Reigen voller Abzweigungen ins Absurde. Das ist dank rotzigem Selbstbewusstsein teils spaßig, denn Lachmann hat Glück. Er ist an energetische Schauspieler geraten, die sich die Dialoge wie nasse Waschlappen um die Ohren hauen. Vor allem Beatrice Frey als Qigong-verspannte Mutter ist eine Freude. Doch das serielle Anhäufen von Abziehbildern erschöpft sich als Konzept ziemlich schnell und nimmt dem Text seine Bissigkeit – zumal die Ira von Juliane Fisch zwar eigensinnig, aber nicht wahrhaft zornig ist. Ihr antagonistisch angelegter Idealismus läuft in Duracell-Hasen-Unermüdlichkeit durch das Stück. Und lässt auch diese Parolen schal schmecken.
Vier weitere Schauspieler aus dem Hannoveraner Ensemble stehen auf der Bühne, sie übernehmen die anderen Rollen und bilden gemeinsam den Chor, der im schwarzen Varieté-Outfit als Kollektiverzähler die Geschehnisse kommentiert. Showmaster, die durch ein mittelmäßig spannendes Erwachsenmärchen führen. Die Heldin stirbt schließlich den kathartischen Tod "durch zu viel Aufregung". Dabei war's doch gar nicht so arg.
Hier kommen wir nicht lebendig raus. Versuch einer Heldin
von Martin Heckmanns
Regie: Malte C. Lachmann, Bühne: Stefan Britze, Kostüm: Maria Anderski, Musik: Martin Engelbach, Dramaturgie: Kerstin Behrens.
Mit: Jakob Benkhofer, Juliane Fisch, Beatrice Frey, Christoph Müller, Sebastian Schindegger.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.schauspielhannover.de
Die Uraufführung des Stücks inszenierte im April 2010 am Düsseldorfer Schauspielhaus Hermann Schmidt-Rahmer.
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Ein "ziemlich starkes Stück" sei dieser Text von Heckmanns, schreibt Robert Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.12.2012). Der Autor habe einen "ganz eigenen Sprachklang, sein kapitalismuskritischer Diskurs aus Mädchenmund ist zwar manchmal Predigt, aber oft auch Poesie". Regisseur Malte C. Lachmann "packt das Stück hart an" und "vertreibt jeden Jugendzimmermuff". Er biete "einige schöne musikalische Einlagen" und distanzierende Sprechweisen, was der Darbietung den "Charme eines brechtschen Lehrstücks" verleihe. So habe dieser Abend im Ganzen durch die Sprache des Autors sowie "erhebliche Schauwerte" durch die Regie "etwas Mitreißendes".
Eine "One-Woman-Show" hat Eric Zimmer von der Neuen Presse (10.12.2012) erlebt. Julian Fische "brillierte" als Hauptfigur. "Kämpferisch, agil und kraftvoll, die Erschöpfung, die Ira im Laufe des Stücks immer mehr mitnimmt, erreicht auch die Schauspielerin." Die "Botschaft" von Heckmanns Stück sei: "In einer Welt zwischen Realität und Online sind den Menschen so derartig viele Möglichkeiten geboten, dass sie nicht wissen, wo oben und wo unten ist." Dramaturgisch "gut gelöst" sei der Schluss mit zwei alternativen Finals.
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