Landleben in Slow-Motion

von Wolfgang Behrens

Stuttgart, 27. Oktober 2013. "Die deutschen Bühnen sollten" – so schrieb es ihnen einst Karl Kraus nicht ohne spottenden Unterton ins Album – "bei den Naturalisten bleiben. Mit dem in Deutschland naturalisierten Shakespeare ist's nichts." So lange dieser Rat auch her sein mag, die deutschen Bühnen scheinen ihn beherzigt zu haben. Studiert man etwa die Einladungslisten der vergangenen Jahrzehnte zum Berliner Theatertreffen, so wird man dort eine deutliche Schlagseite hin zu Autoren wie Ibsen und Tschechow finden. Und auch wenn es unter einer neuen Intendanz gilt, neues Repertoire aus dem Boden zu stampfen, dürfen Ibsen oder Tschechow nicht fehlen. Im dreitägigen Eröffnungsreigen des frischgebackenen Stuttgarter Schauspielintendanten Armin Petras ist es jetzt Tschechows "Onkel Wanja", dem diese Stelle zukommt.

onkelwanja 560 julianroeder ostkreuz uEiskalte Tristesse im Volvo Kombi: Peter Kurth als Onkel Wanja © Julian Röder

Mindestens genauso bemerkenswert wie die anhaltende Beliebtheit eines Tschechow, in dessen Figuren sich die bürgerliche Gesellschaft nun schon seit über einem Jahrhundert immer wieder neu wiederzuerkennen glaubt – man könnte darüber ja auch erschrecken! –, ist es, wie verhältnismäßig selten seine Stücke "denaturalisiert" werden (um das Kraus'sche Diktum zu variieren). Wird Tschechow gespielt, dann wird häufig genug der psychologisch-realistische Feinstpinsel aus dem Malkasten geholt. Das allerdings stand in Stuttgart nicht zu erwarten. Der Regisseur Robert Borgmann, den Petras schon am Maxim Gorki Theater in Berlin beschäftigte, gilt eher als einer, der seine Textvorlagen mit verblüffenden Bildern und Fremdtexten beschießt. Und sein Anfang dieses Jahres in Szene gesetzter Macbeth dürfte von Karl Kraus' Vorwurf einer Naturalisierung Shakespeares wohl gänzlich freizusprechen sein.

Ohne Samoware und Seufzer

"Samoware und Seufzer, das kann ich nicht leiden", sagt nun Thomas Lawinkys Arzt Astrow in Borgmanns "Wanja"-Inszenierung, und das lässt sich getrost auf die ganze Aufführung übertragen. Zitathaft steht zwar ein Teeservice zwischen den abblätternden Holz-Gartenstühlen auf der gänzlich unverkleideten Bühne, und auch ein Matroschka-Püppchen kommt zwischendurch zum Einsatz – mehr Samowar aber ist nicht. Stattdessen kreiselt langsam ein alter Volvo Kombi über die Bühnenfläche, Neonröhren und gleißendes Gegenlicht stellen das Geschehen kalt, und repetitive E-Gitarren-Synthi-Soundscapes hüllen alles in eine moros-verhangene Atmosphäre.

Geseufzt wird auch nicht. Und doch steht auch Borgmann in diesem "Wanja" durchaus auf dem Boden des psychologischen Realismus: Den Dialogen in der (für Jürgen Goschs epochalen Wanja von 2008 entstandenen und ohnehin schon wenig elegischen) Übersetzung von Angela Schanelec mag von den Darstellern noch der letzte Rest des Elegischen ausgetrieben werden, doch sie klingen im lauernd-schmuddeligen Spiel eines Peter Kurth als Wanja, in der aufgekratzten Coolness einer Sandra Gerling als junge Professoren-Gattin Elena oder in der autoaggressiven Härte eines Thomas Lawinky als Astrow enorm heutig und sehr real. Freilich ist Borgmanns Realismus einer im Zerfallsstadium: Der Stillstand dieser Tschechow'schen Gesellschaft, die sich da auf einem Landgut um einen mediokren Professor schart (den Elmar Roloff mit zerquälter Kraft vor dem Klischee der Witzfigur bewahrt), wird in mitunter nervtötender Langsamkeit zelebriert. Unterm Neonlicht liegt das Drama wie zur Vivisektion, menschliche Wärme sucht man hier vergeblich, der Zusammenhang zerbröckelt.

In Buh-Salven

Und Borgmanns Realismus hat Beulen. Bildstarke, ungebärdige Auswüchse treiben plötzlich aus der grundsätzlichen Unterspanntheit der Aufführung hervor: Wenn sich die Ewig-zu-kurz-Gekommenen Wanja und Astrow beim Saufen abschießen, dann ziehen sie in Zeitlupe eine abstruse Action-Sequenz mit Windschutzscheiben-Bruch rund um den Volvo ab. Oder Wanja fällt aus dem Bühnenhimmel, wieder in Slow-Motion, auf das Autodach herab, nur um damit erneut einen der Leitsätze des Abends zu provozieren: "Es ist nichts passiert."

onkelwanja2 560 julian roeder u"Es ist nichts passiert": Crash in Zeitlupe mit Peter Kurth als Onkel Wanja © Julian Röder

Und am Ende steht Sonja, die immer Übersehene, die große Liebende dieses Stücks – Katharina Knap spielt sie unter der hippen und offenherzigen Teenager-Fassade mit einer wunderbar verhaltenen, manchmal explosiv hervorbrechenden Nervosität –, am Ende steht diese Sonja vor einer gigantischen rotierenden Sonne aus Neonröhren. Ein jenseitiges Licht der Hoffnung? Oder doch nur das kalt leuchtende, ewig kreisende Rad der ungerührten Fortuna?

In ihrer aufgerauten Eiseskälte buhlt diese Inszenierung nicht gerade um die Liebe der Zuschauer. Eindruck aber hinterlässt sie schon. Einem Teil des Premierenpublikums allerdings ging die Denaturalisierung offenbar zu weit, und es empfing das Regieteam mit heftiger Ablehnung. Ein (von der Aufführung sehr angetanes) Ehepaar, das für sich in Anspruch nahm, seit 30 Jahren ins Stuttgarter Schauspiel zu gehen, versicherte dem Berichterstatter auf dem Heimweg, solche Buh-Salven habe es hier noch nicht erlebt. Sollte das stimmen, wäre das zumindest eine Leistung, mit der Robert Borgmann ordentlich renommieren kann.


Onkel Wanja
Szenen aus dem Landleben in vier Akten
von Anton Tschechow
Regie und Bühne: Robert Borgmann, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: webermichelson, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Elmar Roloff, Sandra Gerling, Katharina Knap, Susanne Böwe, Peter Kurth, Thomas Lawinky, Michael Stiller, Susanne Böwe, Gina Bartel/Nora Liebhäuser.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Mehr über die Regiearbeiten von Robert Borgmann erfahren Sie im nachtkritik.de-Lexikon.

Mehr zum Intendanz-Auftaktmarathon von Armin Petras in Stuttgart? Simon Solberg inszenierte den Urgötz auf der großen Bühne, während zeitgleich Martin Laberenz in der kleinen Spielstätte "Nord" auf Die Reise von Bernward Vesper ging. Am zweiten Abend liefen Petras' eigene Schreib- und Regietat 5 morgen auf der kleinen Bühne und Ingmar Bergmanns Szenen einer Ehe, von Jan Bosse inszeniert, auf der großen.


Kritikenrundschau

Dieser "Onkel Wanja" in der "ausgedehnten Zermürbungsregie" von Robert Borgmann "zieht sich", ächzt Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (29.10.2013) in ihrem großen Bericht vom Stuttgarter Intendanz-Neustart. Zwar würdigt sie das "ehrenwerte Anliegen, dem Stück jegliche Samowar- und Tschechowseligkeit auszutreiben". Aber: "Durch das nervensägende Ausstellen der inneren Leere dieser Tschechow-Menschen, ausgebreitet auf einem grässlich konstanten Einlull-Soundteppich, entsteht – auch im Zuschauer – eine Art Quälenergie, die sich anstaut und nach der Pause in einigen Aggressionshöhepunkten gewittrig entlädt."

Ein "kleines bisschen Kampfzustand" im Parkett erlebte Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (29.10.2013) am Ende dieser Inszenierung, die auf solche Ausbruchsfantasien geradezu abzielt, wie der Kritiker nahelegt. Die unerbittliche Musik evoziere "die Schwere der Apathie auf dem vom Titelhelden verwalteten Landgut", und die "hoch präsenten Darsteller" vermittelten "durch ihr Spiel zwischen minutenlangem Verharren und eruptivem Losdonnern den immensen inneren Druck, der auf den Figuren liegt, an den Zuschauer. So verspürt der, genau wie die Figuren, immer mehr den Wunsch, irgendetwas zu tun – und weiß, wie die Figuren, dass es nichts zu tun gibt."

Dass Robert Borgmann "die bei Tschechow sowieso gedehnte Zeit nochmal zusätzlich dehnt", nimmt Otto Paul Burkhardt im Tübinger Schwäbischen Tagblatt (29.10.2013) ihm übel. Denn so "schlägt dieses Anderen-beim-Langweilen-Zusehen (das höchst interessant und unterhaltend sein kann) auch beim Publikum in bleierne Langeweile um." Zudem fehle das "Tschechowsche Lächeln, die Leichtigkeit, die Schwebe, die Tragikomik. Bei Borgmann werde das Scheitern der Figuren zu "dumpfer Depression".

Als "zähe Angelegenheit" empfindet Monika Köhler im Überblicksartikel zum Stuttgarter Intendanz-Neustart für den Südkurier (29.10.2013) diesen Wochenendabschluss. "Die feine Psychologie, die ansatzweise knisternden Dialoge über das Leben, gegenseitiges Begehren, die zerstörte Umwelt bleiben hier jedenfalls an der Oberfläche und werden mit überflüssigen Blödeleien dekoriert statt mit intelligenter Komik. Kein Tiefgang ist den Darstellern erlaubt, die das sicher besser könnten."

Man mag gegen Einzelheiten von Robert Borgmanns Auffassung, zum Beispiel gegen die ausgewalzte Pfeifartistik Einwände erheben, aber zumindest bis zur Pause stellt sie doch einen interessanten Versuch dar, das – auch in Stuttgart – viel gespielte Stück neu zu betrachten, ohne an seiner Essenz Verrat zu begehen", schreibt Thomas Rothschild in der Stuttgarter Zeitung (29.10.2013).

"Aua!" betiteln die Stuttgarter Nachrichten (29.10.2013) den Bericht von Nicole Golombek, anscheinend in Anspielung auf die Schlusstumulte und die ausgestellte Langeweile des Abends. Dabei hat die Kritikern "dreieinhalb dann doch recht meditativen Stunden" und einigen kostbaren Schauspielmomenten beigewohnt. Borgmann finde "offenbar, es gehört sich nicht, über Leute wie Wanja zu lachen". Manchmal lasse er die "Schauspieler in die Luft und auf den Boden starren, das ist dann etwas einfallslos. Manchmal rettet er sich in Gebrüll oder viel zu oft gesehenen Aktionismus."

Zum Gastspiel der Inszenierung beim Berliner Theaterreffen 2014 schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (6.5.2014) ...

... und Stefan Kirscher in der Berliner Morgenpost (7.5.2014).

Kommentare  
Onkel Wanja, Stuttgart: langweilig
es war vor allem langweilig
Onkel Wanja, Stuttgart: endlich Theater
es war endlich Theater.....
Onkel Wanja, Stuttgart: sogar sehr
Es war sogar sehr langweilig.
Onkel Wanja, Stuttgart: kurzes Schreiben
dieses kurze schreiben ist auch langweilig
Onkel Wanja, Stuttgart: Bravos nicht unterschlagen
also mich hats berührt!!!!!!!! und was die buhrufe angeht, darf man ja die bravos nicht unterschlagen. oder?
Onkel Wanja, Stuttgart: Bus der besten Kritiker
Hallo Herr Behrens, haben sie auch in diesem Bus gesessen, in welchem die angeblich 25 besten Theaterkritiker von einer Show zur nächsten chauffiert wurden? Ihre Kritik liest sich nämlich so.
Onkel Wanja, Stuttgart: ein Anti-Stück
Kurz ist besser als lang und bestimmt nicht so langweilig wie ein 3.30 Stunden anti-Stück.
Onkel Wanja, Stuttgart: ein Smart genügt
@ 6 wie soll man denn bitte auf 25 beste theaterkritiker kommen? ein smart hätte da auch gereicht.
Onkel Wanja, Stuttgart: die grundsätzlichen Musts
ich fürchte, herr behrens, die buhrufe auf das konto der denaturalisierungsanstrengungen der regie zu verbuchen heißt das stuttgarter publikum unterschätzen. was war das anliegen der inszenierung? wo waren fluchtlinien ins hier und jetzt? wo das fenster zur gegenwart? was für menschen waren da auf der bühne, wo und warum und was haben die eigentlich verhandelt? eine aufführung kann sich doch nicht nur aus dem verstoß gegen inszenierungskonventionen legitimieren. das interessiert doch höchstens empörte spießer. warum sagt ihre kritik nichts zu den grundsätzlichen musts jedes theaterabends? die fehlten. mir jedenfalls.
Onkel Wanja, Stuttgart: Nachfrage
Lieber Gustav,
was sind denn musts eines Theaterabends? Das würde mich interessieren.

liebe grüße, Jona Goldschmidt
Onkel Wanja, Stuttgart: eine Limousine
@6/@8: Eine Limousine für Benjaminn Henrichs wäre angemessen gewesen und hätte auch gereicht.
Onkel Wanja, Stuttgart: Fenster zur Gegenwart
Verehrter Gustav von der Nummer 9! Es fällt nicht schwer, das "Fenster zur Gegenwart" in Tschechows Stück und in Borgmanns Inszenierung zu benennen - zum Beispiel die prätentiöse Anmaßung von stumpfsinnigen Universitätsprofessoren, die ihre Karriere auf der Ausbeutung anderer aufgebaut haben, zum Beispiel das Geschwätz von Ökologisten, die vorgeben, die Welt retten zu wollen, und nicht imstande sind, ihre unmittelbare Umgebung wahrzunehmen und ihr eigenes Leben zu beherrschen. Aber wo steht eigentlich geschrieben, dass Theater ein Anliegen haben "muss", dass es "Fluchtlinien ins Hier und Jetzt" aufweisen "muss"? Welches Zentralkomitee hat das beschlossen? Welche Strafe steht auf Verstoß gegen das Gesetz? Es bleibt Ihnen unbenommen, sich für anderes zu interessieren als jene, die sie als "empörte Spießer" entlarven. Aber wenn Sie dekretieren, was Theater (und vielleicht auch der Schuster oder die Bankangestellte?) "muss", wenn Sie ein Glaubensbekenntnis einfordern, ehe ein Kritiker über einen Theaterabend berichten darf, wird mir angst und bange.
Onkel Wanja, Stuttgart: ergreifend entschleunigt
Also ich finde es schon verblüffend wie sehr sich wohl die Sehgewohnheiten der Ü50 Generation schon an die MTV-Schnell-Schnitt-Ästhetik angepasst haben. Ich kann mich an Inszenierungen in den letzten Jahren erinnern, beim dem es "zu laut, zu schnell, zu gewalttätig" etc. zu ging. Und um Herrn Behrens aufzuklären - es gab auch in den letzten Jahren hin und wieder Buh-Konzerte vom Feinsten, man erinnere sich an die Premiere von "Titus Andronicus" in der Regie von Volker Lösch vor 3 Jahren. Aber Reaktionen des Publikums sind ja auch gut und gewollt. Ein emotional aktivierter Zuschauer ist doch besser als einer der unbeteiligt wieder nach Hause zieht. Das wusste Volker Lösch ja auch schon. Man wird darüber reden und diskutieren.
Aber nun bekommt man mal eine Inszenierung präsentiert, bei der man einmal die Zeit bekommt so wunderbar in eine Stimmung einzutauchen und sich wie ein Boot auf dem Meer von großartigen Schauspielern mit den Wellen der Geschichte treiben zu lassen. Ich gebe zu, darauf muss man sich einlassen können. Ein Hang zur Langweile ist gegeben aber der ist gewollt. Wenn man sich darauf einlässt, dann verfehlt diese Inszenierung ihre großartige Wirkung nicht.
Zuschauern, die sich diese Inszenierung in den nächsten Tagen und Wochen anschauen, kann ich nur empfehlen, sich doch bitte der Stimmung und der Entschleunigung hinzugeben und diese einmal aushalten. Man kann dann so viel entdecken - wieviel sich nämlich wirklich auf der Bühne abspielt. Und sein wir mal ehrlich...diese Entschleunigung und Lethargie ist doch genau das was Tschechow in seinen Stücken als Teil der russischen Seele beschreiben will. Und das es dem Team gelungen ist, das Gefühl der Figuren der Unerträglichkeit der eigenen Situationen, auf das Publikum direkt zu übertragen, ist bemerkenswert und erinnert mich an sehr an die ebenfalls grandios entschleuinigte Gosch Inszenierung am DT Berlin, die nach fast 6 Jahren im noch im Repertoire läuft.
Robert Borgmann und sein Team haben für mich einen ergreifenden, entschleunigten, geistreichen Abend, mit tollen Bildern, toller Musik, einem tollen Spielensemble geschaffen.
Und auch ich möchte es nicht versäumen noch einmal auf die mindestens genauso starken Bravos und wohlwollenden energischen Pfeifkonzerte hinzuweisen, die es beim Applaus hab.
Onkel Wanja, Stuttgart: Warum die Ablehnung?
um gottes willen, herr rothschild, jetzt lassen sie aber mal die kirche im dorf. ich "dekretiere" nicht, ich glaube, ich habe fragen gestellt, mehr nicht. z.b. die, warum die inszenierung auf so große ablehnung gestoßen ist. da muss ihnen nicht angst und bange werden, wirklich nicht.
Onkel Wanja, Stuttgart: Stillstand einer Gesellschaft
@6 Den Bus, von dem Sie reden, kenne ich nicht, ich hätte vermutlich wenig Lust, in ihn einzusteigen - ich bin aber gerade aus einem heillos verspäteten Zug gestiegen, in dem offenbar die 25 besten Bahnkritiker ihre Wut in den Großraumwagen krakeelt haben, auch ein besonderes Erlebnis ...

@9 Na ja, ob sich die Fluchtlinien zur Gegenwart bei allen bedeutsamen Inszenierungen sofort offenbaren, wage ich ein wenig anzuzweifeln. Zumindest wenn es um ganz konkrete Fluchtlinien geht - bei meinem Hausgott Schleef war das auch nicht immer eindeutig, und doch wusste man in jedem Augebblick, dass die Aufführungen etwas und sogar viel bedeuteten. Eine Andeutung bezüglich der "Musts" im "Wanja" mache ich in der Kritik gleichwohl: Der Stillstand einer Gesellschaft und die Aggressionen, die dieser unter sich begräbt, werden durch die ästhetischen Entscheidungen Borgmanns recht plastisch vorgeführt, wie ich finde.

@13 Danke für die Erläuterung zu den früheren Buh-Konzerten. Ich könnte mir vorstellen, dass das nette Ehepaar meines gestrigen nächtlichen Ganges die eine oder andere Lösch-Premiere ausgelassen hat. Trotzdem möchte ich insistieren, dass von meinem Platz aus die Buhs für das Regieteam (nicht für die Schauspieler) bei weitem überwogen.
Onkel Wanja, Stuttgart: der Bus
Den Bus gab es Samstag zw. "Szenen einer Ehe" (Schauspielhaus) und "5 morgen" (Nord) und es waren auch nicht nur Kritiker drin und schon gar nicht die 25 besten (wer auch immer das sein soll), sondern eben die, die gerade da waren. Mitfahren durfte jeder, der vom Schauspielhaus ins Nord wollte.
Onkel Wanja, Stuttgart: Gosch war nicht entschleunigt
also, die gosch inszenierung war/ist ja sowas von nicht langweilig..! wo soll die denn bitte "entschleunigt" sein? die hat eher alles gerafft und verdichtet..anstatt auszubreiten und die zeitlupe wie bei borgmann anzuschalten.. und sie schon gar nicht entschleunigt! sondern fein ziseliert die richtigen töne getroffen!! also gosch kann man nun leider wirklich nicht mit borgmann vergleichen!!
Onkel Wanja, Stuttgart: Unerotische Ausgestelltheit
Ich fands entsetzlich enervierend. Vor allem diese unerotische Ausgestelltheit der Elena. Was laszive Begehrlichkeit hätte sein koennen, das Spiel mit dem Feuer, dem Doktor.., war oede performte Eitelkeit. Der einzige Moment, der mich wirklich ergriffen hat, kam ganz zum Schluss!! Dank dem "hässlichen Entlein"!!!
Onkel Wanja, Stuttgart: Gosch-Tempi
@17 Ja, da haben Sie Recht, die Gosch-Inszenierung war nicht entschleunigt, allerdings hatte sie - wenn ich mich richtig erinnere - doch im letzten Akt ein großes ausinszeniertes Ritardando, so dass sie gewissermaßen in die Entschleunigung mündete, in die Schlussszene mit Meike Droste und Ulrich Matthes.

Auch bei Borgmanns Inszenierung scheint es mir freilich nicht ganz richtig, alles auf die Entschleunigung zu reduzieren: Da wird ja keine Wilson- oder Marthaler-Langsamkeit zelebriert, sondern ein gewissermaßen schockgefrorenes Grundtempo platzt immer wieder auf und bringt dann doch recht heftig bewegte Aktion hervor. Um dann wieder in Starre zurückzufallen. Die Komposition des Spannungsbogens ist so allerdings tatsächlich eine ganz andere als bei Gosch.
Onkel Wanja, Stuttgart: Durchsichtige Kostüme, Stars & Stripes
@18
Wenn du mit Ausgestelltheit die durch und durchsichtigen Kostüme und Silberdessous meinst, in die Elena gesteckt wurde, stimme ich dir zu. Aber die Szene mit dem Doc war doch sowas von geladen lasziv, dass es geknistert hat bis unters Dach.

@19
nicht alles was hintereinanderfolgt ist eine Komposition.

@ alle
Rätselhaft bleibt mir allerdings, weshalb Elena in Stars & Stripes-Umhang und nochmehr, weshalb Sonja in einem "Power through Joy"-T-Shirt zu Markt getragen wurden.

Unter welchen Komplexen leidet denn dieser Regisseur?
Onkel Wanja, Stuttgart: Oberlehrer komponiert
@20
lat. componere (Stammformen: compono, composui, compositum) = zusammenstellen
Es dürfte schwierig sein, einen Theaterabend nicht auf irgendeine Weise zu komponieren, also zusammenzustellen.

Das "power through joy"-Shirt hat sich mir übrigens auch nicht erschlossen.
Onkel Wanja, Stuttgart: schummelde Dame
@20zu@18: ok. Vielleicht wars für nen Mann doch knisternd! Ich hatte als Frau das Gefuehl, als würde die Dame Elena nur schummeln und Begehren vortäuschen. Aber Frau soll ja nicht immer von sich auf andere schließen ;-)
Onkel Wanja, Stuttgart: Lob
Grossartig!!!!!!!!!!!!!
Mehr von Robert Borgmann !!!
Onkel Wanja, Stuttgart: bezwingende Stimmung
Es war in der Tat bisweilen an der Grenze zum langweiligen, aber über weite Strecken stellte sich eine bezwingende Stimmung ein, insofern habe ich Respekt vor dem Mut, Langeweile zu riskieren und kann den Machern in ihrem Ansatz folgen. Für mich hat am Ende das Produktive überwogen gegenüber dem zersetzenden.
Onkel Wanja, Stuttgart: kein Stück für Heulsusen – ansehen!
Vermutlich eine der tiefsten Regiearbeiten im Stuttgarter Premierenreigen. Aber man muss sich darauf einlassen und das Stück vielleicht mehrmals sehen. Die Objektbeziehungen werden schonungslos offengelegt und weiterverfolgt. Das ist kein Stück für Heulsusen und Anhänger von Lebenslügen. Andererseits gelingt der Regie das Kunststück, das Thema Langeweile so zu entfalten, dass niemals Langeweile aufkommt (auch nicht beim vierten Mal). Möglichst zwischenzeitlich den Text lesen. Die Regieführung um das Autowrack herum ist absolut stimmig. Besonders eindrucksvoll der Schluss, wenn aus der Dunkelheit sich eine riesige Rosette erhebt, die zunächst an die Beliebigkeit von russischem Roulette erinnert, bevor daraus ein leuchtender Stern wird, als überwältigende Metapher jenseitiger Verheissung. Hervorragend Katharina Knab, Thomas Lawinky und andere. Ansehen!
Onkel Wanja, Stuttgart: Fehlen von Ideen
Ich habe mich geärgert über die konzeptlose Beliebigkeit dieser Inszenierung. Der Versuch, das Fehlen von Ideen durch Mätzchen (Federballspiel mit dem Publikum, Pfeifeinlagen, Kind mit Christbaumbeleuchtung) zu kaschieren, geht völlig in die Hose. Kostüme und Bühnenbild sind unterirdisch schlecht. Warum trägt Elena eine amerikanische Fahne, was sollten diese bunten Neonröhren über dem Portal, die sogar -wow- hoch und runter gefahren werden?

Wahrscheinlich kam mir diese Aufführung auch deshalb besonders verheerend vor, weil ich kurz vorher den grossartigen Onkel Wanja in den Münchner Kammerspielen gesehen hatte, wo einfach alles stimmt: geniales Konzept, hervorragende Schauspieler. Was die musikalische Begleitung angeht, könnte man mutmassen, dass Stuttgart sich in München hat inspirieren lassen...
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