Antigone - Sebastian Baumgarten zieht in Dresden mit Sophokles, Carl Orff und Heiner Müller eine fatalistische Bilanz der Menschheitsgeschichte
Sebastorffokles Müller
von Matthias Schmidt
Dresden, 22. März 2014. Eine gute, eine demokratische Gesellschaft wünschen wir uns wohl alle. So richtig perfekt war bislang nichts, weshalb der Menschheits-Traumort weiterhin Utopia heißt. Ein Ort, den es nicht gibt. Weil wir es einfach nicht auf die Reihe kriegen, weil Starrsinn und Fanatismus und Machtgehabe stärker sind als das Gute im Menschen. Weil wir zu wenig miteinander reden. Das gab es bei den alten Griechen, und das gibt es bei uns. So war es vor 2500 Jahren, und es ist noch lange nicht vorbei. Das ist, leicht verkürzt gesagt, was Sebastian Baumgarten mit seiner Dresdener "Antigone" erzählt, 90 Minuten lang: in teils verstörenden Bildern, immer wieder auch die Komik in der Tragödie suchend, voller vielschichtig verrätselter Andeutungen und phasenweise mit einem geradezu ärgerlich didaktischen Gestus.
Die andere Antigone
Die Inszenierung will alles auf einmal, und genau das macht sie ab einem gewissen Punkt ziemlich unverdaulich. Dabei fängt sie im Kleinen sehr schön an. Kreon gegen Antigone, das ist bei Baumgarten nicht wie gehabt das Duell zwischen einem bösen Alleinherrscher und einer mutigen, ihm widersprechenden Frau. Alt gegen neu, beschränkt gegen frei, Putin gegen Politkowskaja, das meint's doch meistens, oder? Hier ist es die Konfrontation zwischen zwei Wütenden, Unbelehrbaren. Vor allem Antigone ist wohltuend anders als das Klischee, das man von ihr hat. Meist will sie ja nicht mehr, als ihren Bruder begraben. Ihr Mut gipfelt dann darin, dass sie Selbstmord begeht. Lea Ruckpaul als Antigone ist keine nachdenklich Trauernde; sie ist eine fanatische, radikale Kämpferin (viel fanatischer und radikaler, als man es Lea Ruckpaul zugetraut hätte) und somit alles andere als unschuldig an den einschlägig bekannten letalen Folgen. Die (warum auch immer russisch wirkende) Uniform ihres gefallenen Bruders tragend, ist sie auf dem Weg zur Terroristin. Und am Ende, ohne dass ihr Zweifeln und Ringen lang und breit gezeigt werden, ebenso tot wie ihr Bruder, ihr Bräutigam und ihre Schwiegermutter.
Stuhl zu groß, Perser versaut
Kreon ist halb Killer und halb Kasper, halb Tor und halb Tyrann. Eine ideale Rolle für Torsten Ranft, den Komödianten, der diesen König wie den "großen Diktator" spielt. Ein Mörder und ein Tölpel, kein schlechter Kerl, aber eben ein schlechter Kerl. Der einen Boten umbringt, um danach zu klagen, jetzt habe der ihm den ganzen Perser versaut. Dem sein Stuhl zu groß ist, dem aber irgendwann, so wie der gesamten Inszenierung, zu viel aufgeladen wird. Warum, zum Beispiel, zählt er Rammstein-Songs auf? Warum spielt er am Ende mit Lea Ruckpaul Heiner Müllers "Wolokolamsker Chaussee IV"? Ganz abgesehen davon, dass sie so albern, wie sie es tun, Müllers wunderbar lakonischen Humor schlicht zerstören, dürfte die Möglichkeit, den Text als Fortsetzung der "Antigone" zu verstehen, eher im Promille-Bereich liegen.
Rätsel und Belehrungen
Chiffriertheater auf der einen Seite, Zeigefingertheater auf der anderen: während die aus Carl Orffs "Antigonae" entlehnten Chöre ihr "Ungeheuer ist Vieles, doch nichts ungeheurer als der Mensch" singen, bebildern Videoeinspieler das Unheil der Jahrhunderte: Kriege, industrielle Landwirtschaft, Schleppnetzfischfang, Zivilisationsabgründe. Sollen wir jetzt ein schlechtes Gewissen bekommen? Uns für die Menschheit schämen? Oder, weil Neuwahlen nichts ändern, zu anderen Mitteln greifen?
Dann erläutert ein Dresdener Strafrechtler, was Tyrannei ist, wobei er die Differenz zwischen dem antiken und dem heutigen Verständnis des Wortes unerwähnt läßt. Seine weiteren Videoauftritte gelten der Frage, warum eine Demokratie einmal zu Notstandsgesetzen greift und ein andermal – das Drohszenarium terroristischer Gefahren heranziehend - die Grundrechte der Bürger aushöhlt. All das ist nicht falsch, im Gegenteil. Sogar der Fatalismus dieser Aufzählung von Demokratiemängeln und sich scheinbar endlos wiederholender Geschichte ist nachvollziehbar. Allein, das alles will sehr viel mit der "Antigone", zu viel vielleicht. Eine postmoderne Überfrachtung. Eine zu grob dosierte Gesellschaftskritik. Positiv gesagt: ein Theaterabend mit einer großen, plakativen Botschaft.
Antigone
von Sophokles. Fassung von Sebastian Baumgarten. Nach den Übersetzungen von Ernst Buschor und Friedrich Hölderlin
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Hartmut Meyer, Kostüm: Christina Schmitt, Musik: Christoph Clöser, Bearbeitung der Orff-Chöre: Tobias Peschanel, Video: Stefan Bischoff, Licht: Andreas Barkleit, Dramaturgie: Felicitas Zürcher, Choreinstudierung: Christiane Büttig, Musikalische Einstudierung: Thomas Mahn.
Mit: Torsten Ranft, Lea Ruckpaul, Matthias Reichwald, Cathleen Baumann.
Chöre: Jessica Magdalena Graeber, Franziska Graube, Zarah Hain, Hannah Jaitner, Anna Kienel, Teresa Lippold, Milena Müller, Johanna Quade, Katharina Rudolph, Marita Runck, Nele Schmidt, Martina Schulz, Jana Sperling.
Vibraphon, Keyboard, Elektronik: Christoph Clöser, Klavier: Thomas Mahn.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause.
www.staatsschauspiel-dresden.de
Ungewohnte Perspektive, Vielschichtigkeit und unverhoffte Brüche führten zu einer stringenten Verknappung und analytischen Schärfe, schreibt Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (24.3.2014). Baumgarten vertraue auf den Sog der Handlung und lasse sie schließlich über ihr ursprüngliches Ziel ins Heute hinausschießen. Lea Ruckpauls Antigone sei "ein junges, heftiges, überaus prinzipienfestes Weib, aber auch voller Liebreiz, der den Onkel Kreon sogleich in helles Entzücken versetzt". Überhaupt zeige die Inszenierung, wie die Hauptlast in Nachkriegs-Chaos-Zeiten von den Frauen getragen werde. Am Ende werde "wohl nicht nach jedermanns Geschmack" in "die neue Staatsdialektik" eingestiegen. Wie der Rezensent selbst das findet, darüber schweigt er, aber der Beifall sei "ganz überwiegend stark" gewesen.
Für die Berliner Zeitung und die Frankfurter Rundschau (24.3.2014) hat Dirk Pilz sich "den für Baumgarten typischen Zeichensalat mit scharfem ideologiekritischem Dressing" servieren lassen und sagt dazu: "Macht einerseits hübsch irritierende Bilder, befeuert andererseits eine Kurzschlussdramaturgie, die man lieber nicht genauer befragen sollte." Baumgarten mache aus dem Antigone-Stoff "eine Superparabel auf unsere Zeiten, in denen das 'Supergrundrecht' Sicherheit die Demokratie aushöhlt". Es sei ein pathospraller Abend, "der im Zuschauer den Empörungswillen aufstacheln will". Indem er immer wieder sage, "wie schlimm es um uns bestellt ist: sehr schlimm".
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