Nächtliches Fundstück

11. April 2023. Was machen die Puppen, wenn das Puppentheater vorbei ist? Denn eben haben sie ja noch gelebt. Dank der kombinierten Vorstellungskraft ihrer Schöpfer:innen und ihres Publikums. Die Belebung "toter" Materie hat lange Traditionen mit unterschiedlichsten Ausprägungen.

Von Atif Mohammed Nour Hussein

11. April 2023.

( … ) O Stunden in der Kindheit,

da hinter den Figuren mehr als nur
Vergangnes war und vor uns nicht die Zukunft.

(aus Rainer Maria Rilke: "Vierte Duineser Elegie")

Vor Kurzem kam ich spät nachts von einer kleinen Reise zurück. Die Stadt schlief tief und fest, zumindest die Straße, in der ich wohne. Zehn Schritte vor dem Haustor musste ich abrupt stoppen. Da lag jemand. Oder etwas? Oder doch ein Mensch? In einem dieser peinlichen Junggesellen-Party-Kostüme – der ausgerechnet hier und jetzt seinen Rausch ausschlafen musste? Und hatte einer seiner buddies in einem Anflug von Fürsorglichkeit einen Regenschirm über ihn gespannt? Ich verharrte, bis sich in mir ein der Vernunft genügendes Bild zusammensetzte. Letztlich war es nur ein überdimensionierter Teddy-Bär, in einer dieser perfekten, für Berlin nicht untypischen Pop-up-Installationen.

Hexe in Halle

Warum liegen in diesen Vexierbildern Effekt und Affekt so nah beieinander? Sind es die Zeichen eines möglichen lebenden Körpers? Gar eines Ersatzkörpers für die Toten – wie die in Ain Ghazal wiedergefundenen, bald neuntausend Jahre alten Skulpturen? Liegt ein Geheimnis der geglückten Nachahmung in der zweifachen Vorspiegelung, diese Substitute seien nicht nur Bildwerke, die behaupten, Lebewesen zu sein, sondern auch Symbole, die vorgeben, keine zu sein? Oder stehen sie nur für sich selbst, für den objektiven Leib?

Es gibt eine schöne These, von der ich das erste Mal vor mehr als zwanzig Jahren in einem Vortrag eines Kunstanthropologen hörte: Der Totentanz, franz. La Danse Macabre, und europäisches Puppenspiel hätten einen gemeinsamen Ursprung. Erst einen rein literarischen, lyrischen, später auch einen bildnerischen. Beides zusammen wurde irgendwann szenisch. Der Tod, oder eher dessen Gesandte, führen die Menschen (egal welchen Standes) tanzend in sein Reich. Das Sterben als festiver, performativer Akt für Alle.

Es ist schon eine ganze Weile her, da inszenierte Lars Frank am Puppentheater Halle das Märchen von "Hänsel und Gretel" neu, mit einem bemerkenswerten szenischen und bildnerischen Konzept für die Figur der Hexe (gespielt von Uwe Steinbach). Übergroß, mit schwerem Kiefer drängte sie in die engen Räume der Marionetten – zwischen zwei Fingern hätte sie Hänsel und Gretel, sehr zart, kaum handgroß, zerreiben können. Und wird doch besiegt!

Während sich im Theaterfoyer unmittelbar nach der ersten Vorstellung Gäste und Theaterleute mit Sekt und Buffet über die gelungene Premiere freuten, verharrte noch ein kleiner Junge im Theatersaal. Den Blick herausfordernd auf die Bühne gerichtet. Sein Vater stand in der Tür und versuchte ihn mit dem Versprechen auf "den leckeren Kuchen" ins Foyer zu locken. "Aber, Papa, man muss doch ‘mal kucken, wie die jetzt aussieht", antwortete der Junge echauffiert. "Wen meinst du" fragte der Vater leicht beunruhigt. "Na da, die da drinnen". Der Junge wies auf den Backofen auf der Bühne. "Die Hexe." … Eins schien ihm völlig klar: Der Tod, so grausam er die Hexe auch ereilt hat, kann unmöglich das Ende sein …

Und ohne es zu wissen, aber vielleicht mit einer Anhung, hatte der Junge sich auf die Spur eines kulturhistorisch belegten Phänomens begeben.

Das Bildnis des Königs

Es ist bekannt, dass jeweils eine Puppe als Bildnis des Königs in England (1327 von Eduard II.) und in Frankreich (1422 von Karl VI.) erstmals nach ihrem Tod gefertigt wurde. Durch den amerikanischen Historiker Ralph E. Giesey wissen wir von der Vorstellung von den zwei Körpern des Königs und über Begräbnisrituale während der Renaissance. So nahm der tatsächliche Leib des Königs seinen Weg ins Grab, während die Puppe im Triumphzug durch die Straßen getragen wurde. In London war eigens ein Holzbildhauer beauftragt worden, ein hölzernes Bildnis zu fertigen, das dem verstorbenen König Eduard II. ähneln sollte.

Und Ähnliches wissen wir über die römische Kaiserapotheose – ritualisiert in der zweifachen Feuerbestattung. Auf die Einäscherung des kaiserlichen Leichnams folgte einige Tage später die Verbrennung seines Wachsportraits. Durch diese Bestattung des Bildnisses wurde der Kaiser in den Kreis der Götter aufgenommen. Der Tod – jeder Tod – ist ein traumatisches Ereignis für die Gemeinschaft – eine wirkliche Krise, die mit Hilfe von Ritualen gemeistert werden muss, die das biologische Ereignis in einen sozialen Prozess verwandeln und damit den Übergang des verwesenden Leichnams zum Skelett überwachen. – Just ask your kids, they already know it …

Frankenstein, Pygmalion und Rabbi Löw

Die Gewissheit über die nicht aufzuhaltende eigene Endlichkeit ist möglicherweise nur ein Ankerpunkt des Transformativen. Ihm gegenüber steht der Akt der Schöpfung – nicht der göttlichen, sondern durch mensch* selbst. Was drängt uns als Puppenspieler*innen, Puppenbauer*innen, verfügbare Materialien so zu kombinieren, dass daraus ein Neues ersteht, ein stellvertretendes, anthropomorphes Etwas außerhalb unserer selbst, das wir "zum Leben erwecken" können? Ist es die gleiche Energie, die schon Dr. Frankenstein, den Rabbi Löw oder Pygmalion erfasste? Jean-Jacques Rousseau dreht in seiner Antwort die Frage um: Galathea, eben noch kalter Marmor, jetzt erwacht, berührt sich selbst und sagt: Ich. Weist auf den Stein, aus dem sie gemeißelt wurde und stellt fest: Nicht mehr ich. Zuletzt berührt sie Pygmalions Brust … Oh, wieder ich. Nicht Abbild oder Echo. Galathea ist ganz wir.

Offensichtlich aber trauen nicht alle Rousseaus emanzipatorischem Spin – Wir schaffen kein Anderes, sondern uns selbst – nicht so recht. Mit dystopischen Erzählungen wie Karel Čapeks R.U.R., Fritz Langs Metropolis oder Alex Proyas (auf Isaac Asimovs beruhendem Roman) "I, Robot" versuchen wir uns zu überzeugen, davon besser die Finger zu lassen. Ob auch im Puppentheater eine Gefahr droht und Puppen nach der Vorstellung im Fundus nicht doch klandestin den Aufstand planten, ist hier und da schon untersucht worden. Bisher ist dort alles safe.

Der Triumph der Wirrköpfe

Auf der zu Indonesien gehörenden Insel Java entstanden einige der ältesten, vielfach adaptierten und weiterentwickelten Puppenspieltraditionen, wayang golek und wayang kulit. Die erstere ist das Spiel mit aus Holz gefertigten, vollplastischen Stabpuppen, die zweite das weit über Indonesien hinaus bekannte Schattenspiel. Es heißt über die, die den Schatten glauben, sie wären etwas wirr im Kopf …

Geschenkt. Ohne diese Wirrnis gäbe es kein Puppenspiel. Ohne die permanente Aufrechterhaltung der Behauptung, es gäbe keinen Unterschied zwischen Lebendem und dessen unbelebter Repräsentanz entsteht kein performativer Akt. Und ohne die Bereitschaft eines Publikums diese Verabredung einzugehen, wäre kein Theater.

Und wenn Sie mir also glauben, dass in diesem Teddy unter dem Schirm nicht doch etwas Lebendes schlummerte, be my guest …

( … ) wenn mir zumut ist,
zu warten vor der Puppenbühne, nein,
so völlig hinzuschaun, daß, um mein Schauen
am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler
ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt.
Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel.

(aus Rainer Maria Rilke: Vierte Duineser Elegie)

 

Kolumne: Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein

Atif Mohammed Nour Hussein ist Regisseur und Puppenbauer. In seiner Kolumne stöbert er zwischen Verschobenem und Ablagerungen im Überbau.

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